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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

488 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Beyer, Michael, Rhein, Stefan, u. Günther Wartenberg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Melanchthon deutsch. 1: Schule und Universität, Philosophie, Geschichte und Politik. 2: Theologie und Kirchenpolitik.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1997. 324 S. u. 311 S. 8. ISBN 3-374-01636-7.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

In der Konzeption und Anlage offensichtlich an die ebenso schöne wie wohlgelungene Luther-Kassette des Inselverlages von 1982 (= Martin Luther. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling, in 6 Bänden) anknüpfend, erschien rechtzeitig zum 500. Geburtstag des Praeceptor Germaniae eine zweibändige Auswahl mit übersetzten, dafür ungekürzten Melanchthontexten aus den Bereichen "Schule und Universität", "Philosophie, Geschichte und Politik", "Theologie" (im weitesten, auch die Frömmigkeit oder "Spiritualität" einschließenden Sinne) und endlich "Kirchenpolitik", eingeleitet durch die Gedächtnisrede des Melanchthonschülers und späteren Tübinger Theologieprofessors Jakob Heerbrand bei der Gedenkfeier seiner Universität nach dem Tode Melanchthons.

Aufnahme fanden an Melanchthontexten hauptsächlich Thesenreihen, Postillen, Briefe, Studienordnungen, Gutachten, Traktate, Reden, wie sie Melanchthon als regelmäßige declamationes 1523 an seiner Wittenberger Universität eingeführt hatte, aber auch Gebete und - Anekdoten. Um den Reformator so vielseitig wie möglich in seinem eigenen Wort erkennbar werden zu lassen, haben sich die Herausgeber (wie die der erwähnten Luther-Kassette) - schweren Herzens - gegen die Beigabe der lateinischen und frühneuhochdeutschen Originale entschieden, was sicher ebenso richtig war wie die Begrenzung der Auswahl auf zwei (handliche) Bände. Alle Stücke sind mit zweckentsprechenden Einleitungen und fast alle auch mit Erläuterungen versehen worden, die mindestens die Zitate und Anspielungen identifizierten, nicht selten aber erheblich darüber hinausgehen, so daß eine wirkliche Lesehilfe geboten wird. Abgeschlossen wird das Ganze durch ein sorgfältig erarbeitetes, umfangreiches Namenregister sowie ein Abkürzungs- und Mitarbeiterverzeichnis.

Wie sich nach meiner Wahrnehmung die vorzüglich lesbare, von erstklassigen Fachleuten erarbeitete und - last, not least - zu einem phantastisch günstigen Preis angebotene Luther-Kassette als eine der sinnvollsten (und, soweit ich weiß, auch erfolgreichsten) Publikationen inmitten einer wahren Springflut an Lutherliteratur, die 1983 ans Licht der Öffentlichkeit drängte, entpuppte und es die Sternstunden in diesem Lutherjahr gewesen sein dürften, in denen es gelang, statt wie einst sich mit gängigen Schablonen zu begnügen oder nach wohlfeilen modernen Ersatzbildern zu greifen, Luther im eigenen Wort zu entdecken, ohne davor in blinder Bewunderung in die Knie zu gehen, so ist es (analogice, versteht sich) auch dieser schönen Melanchthonauswahl zu wünschen.

Angestrengt hat man sich wahrlich, Melanchthon zu denkbar vielen Gesprächspartnern in all den Bereichen, in denen er selbst gewirkt und z. T. für Jahrhunderte seine Spuren hinterlassen hat, auch heute sprechen zu lassen. Insgesamt 23 Übersetzerinnen und Übersetzer sind bestrebt gewesen, die mühsame Balance zwischen Treue zu seinem vergangenen Sprechen und Verständlichkeit für das heutige Leserpublikum zu halten - wie ich denke, mit Erfolg, bei allen Unterschieden des Übersetzertemperaments und des Stilgefühls, die nicht gewaltsam nivelliert wurden. Man hat sich in dieser Auswahlausgabe ferner um ein realistisches, nicht um ein unbedingt gefälliges Melanchthonbild bemüht und dem Mann seine Kanten gelassen (seinen christlichen Antijudaismus z. B. oder sein starres Obrigkeitsdenken), allerdings manche Verständnisbarriere aus dem Wege zu räumen versucht. Es sind eben ausgewiesene (historisch-philologische) Könner am Werke gewesen!

Trotzdem ist zu befürchten, daß es Melanchthon heute teilweise noch schwerer hat, Gehör zu finden, als in der Vergangenheit. Man denke nur an den Bildungs-, nicht zuletzt den religionspädagogischen Bereich. Wer will da noch auf den Praeceptor Germaniae von einst im Ernst hören? Traditionsabbrüche, wohin man blickt, nicht nur in Schulklassen, sondern auch in Lehrerzimmern. Es werden bald seltene Vögel sein, die unsere in Antike und Christentum wurzelnde Kultur angemessen zu interpretieren und somit auf das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft vorzubereiten vermögen, was ohne Bewußtsein der je eigenen kulturellen Identität kaum gelingen kann.

Ein dankbares Thema aber ist heute, mehr als in der Vergangenheit, "Melanchthon und die Ökumene", wozu die Auswahl in Melanchthons "Vorrede zur Vorlesung über das Nizänische Glaubensbekenntnis" von 1550 ein besonders kostbares Belegstück bietet (II, 35 ff.). Dies gilt selbst dann, wenn es immer wieder einmal Rückfälle gibt, die entfernt an die einstigen Grabenkämpfe zwischen "Gnesiolutheranern" und "Philippisten" erinnern (wie die Kampagne um die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre", in einigen Voten zumindest).

Ein dankbares Thema ist ferner "Melanchthon als politischer Ratgeber", für das die Auswahl sogar noch ein reicheres Material an die Hand gibt. Kein Wunder, daß im vergangenen Jubiläumsjahr gerade aus dem politischen Raum Melanchthon sein bewundernswerter Sinn für das Ganze, für das Gemeinwohl, mehrfach gedankt worden ist.

Man möchte hoffen, daß die Auswahl dazu beitragen möge, manchem Theologen und theologischen Laien die gedankenlose, auf wenig Sachkenntnis beruhende Rede von Melanchthon als "Schmalspurtheologen" im Halse stecken bleiben zu lassen. Sie wird seiner Bedeutung neben Luther in gar keiner Weise gerecht und berücksichtigt nicht, daß Theologie, mit Chr. Gestrich zu reden, immer zwei Brennpunkte benötigt: einen prophetischen und einen Prophetie rezipierenden und verarbeitenden. Einer ist so wichtig wie der andere.

Grund genug, nach allem, Herausgebern, Mitarbeitern und Verlag für eine wunderschöne Jubiläumsgabe zu danken!