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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

820–823

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Spalding, Johann Joachim

Titel/Untertitel:

1) Kritische Ausgabe. Hrsg. von A. Beutel.

2) 1. Abt.: Schriften, 3: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772; 21773; 31791). Hrsg. v. T. Jersak.

3) 1.Abt.: Schriften, 6: Kleinere Schriften, 2: Briefe an Gleim- Lebensbeschreibung. Hrsg. v. A. Beutel u. T. Jersak unter Mitarbeit v. D. Prause.

4) 1. Abt.: Schriften, 4: Vertraute Briefe, die Religion betreffend. (11784; 21785; 31788). Hrsg. v. A. Beutel u. D. Prause unter Mitarbeit v. T. Jersak, D. Kirschkowski, S. Koch, N. Schmidt u. O. Söntgerath.

Verlag:

1) Tübingen: Mohr Siebeck.

2) 2002. XXXIV, 393 S. gr.8. Lw. Euro 99,00. ISBN 3-16-147807-X.

3) 2002. XXXVI, 351 S. gr.8. Lw. Euro 99,00. ISBN 3-16-147809-6.

4) 2004. XLIV, 354 S. gr.8. Lw. Euro 99,00. ISBN 3-16-148145-3.

Rezensent:

Günther Wartenberg

Editionen haben das Ziel, Texte vollständig, übersichtlich und lesbar aufzubereiten, um historisches Arbeiten und Wissen zu ermöglichen. Das 19. Jh. hat auch für die Herausgabe schriftlicher Quellen Maßstäbe gesetzt und Grundsätze zur Textgestalt "kritischer Editionen" aufgestellt, die weiterentwickelt weithin normativen Charakter angenommen haben. In diesem Rahmen können jedoch die editionstechnischen Grundsätze durchaus variieren. Die mit der Herausgabe verbundenen Ziele, aber ebenso die Forschungslage bestimmen und legitimieren solche Veränderungen. Es ist daher nicht unwichtig, ob Editionen Abschnitte langjähriger und intensiver Forschung abschließend präsentieren können oder diese erst einleiten und anregen wollen. Das zweite Ziel verfolgt die "Kritische Spalding-Ausgabe" (SpKA), die der Kirchenhistoriker Albrecht Beutel (Münster) herausgibt und deren erster Band mit der 1797 erstmals veröffentlichten Spätschrift "Religion, eine Angelegenheit des Menschen" 2001 (SpKA Abt. 1, 5) erschien.

Von den für die Abteilung Schriften geplanten sieben Bänden sind bisher zügig vier veröffentlicht worden. Eigene Abteilungen werden die Predigten und Briefe Johann Joachim Spaldings (1714-1804) umfassen. Grundlage bilden alle Auflagen einer Schrift, deren Varianten den edierten Text in einer "integrativ darbietenden Edition" ergänzen und damit dem Benutzer die für inhaltliche Wertung unentbehrliche Geschichte und Entwicklung der jeweiligen Schrift erschließen. Dabei wird eine der Auflagen als Leittext gewählt, dessen Auswahl die Einleitung zu den einzelnen Bänden eingehend und nachvollziehbar erläutert.

Editorische Hinweise informieren in den einzelnen Bänden über die Gestaltung der Apparate, über den Charakter der Auflagen sowie über Rechtschreibung und Interpunktion. Eine Liste enthält die stillschweigend korrigierten Satzfehler. Der Seitenapparat verzeichnet die Seitenzählung und die Auslassungen der anderen Auflagen gegenüber dem Leittext, während der Fußapparat sich den Textvarianten zuwendet. Die nicht Vollständigkeit anstrebende Aufzählung von Nachweisen für die einzelnen Auflagen in Bibliotheken im deutschsprachigen Raum sollte übersichtlicher gestaltet werden. Die Einleitung wendet sich den edierten Schriften selbst zu, fragt in gebotener Kürze nach der Entstehungsgeschichte, ordnet den Titel in die zeitgenössische Publizistik ein, untersucht die Motive für die Abfassung und gibt Einblicke in die Reaktionen auf die Veröffentlichung. Erläuterungen zum Text, die diesem folgen, und Register zu Personen (sollte sich auch auf die Erläuterungen beziehen), geographischen Namen und Sachen unterstreichen die präzise und wohl überlegte Editionsarbeit. Das Ziel einer "wissenschaftlichen Leseausgabe", die auch heutige Leser anspricht, wird voll erreicht.

Nach dem Pfarrdienst im mecklenburgischen Lassahn (1749-1757) und Barth (1757-1764) kam Spalding nach Berlin als Propst, Oberkonsistorialrat und 1. Pfarrer an St. Nikolai und St. Marien. Nicht zuletzt die praktischen Erfahrungen veranlassten den geschätzten Prediger zu seiner Schrift "Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes ..." (SpKA Abt. 1, 3), die 1772 in 1. Auflage erschien. Der Vf. verstand sie als Antwort auf David Humes (1711-1776) Religionskritik und Abwertung des Priesterstandes in dessen "Of National Characters" (1748). So entstand nicht nur eine von der Aufklärung geprägte Homiletik, sondern ein grundlegendes Werk über das Selbstverständnis eines in der Neologie tief verwurzelten Theologen, das uns die zeitgenössische Sicht über die Aufgaben eines Predigers entwickelt. Als öffentlicher Lehrer der Religion und Tugend führt er die Zuhörer "am geradesten und sichersten zu ihrer Glückseligkeit", um sie "vermittelst der Religion Jesu Christi" zu bessern und "zum Himmel tüchtig" zu machen (277). Die Gemeinde bleibt das Ziel jeder Predigt, ergänzt durch Veränderungen in Liturgie, Katechismus und Gesangbuch, damit der Mensch "der göttlichen Gnade und seiner Glückseligkeit fähig" (224-228) und durch Erbauung zu "Besserung und Ruhe" geführt wird. Damit entfaltet diese Schrift ein Amtsverständnis, das sich der Aufklärungstheologie verpflichtet weiß. Sie diente der Selbstreflexion der Geistlichen und der zeitbezogenen Normierung ihres Berufsbildes. Der Herausgeber verweist auf die breite Rezeption des von Spalding beschriebenen Pfarrers, bis hin zur literarischen Übernahme durch Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Friedrich Nicolai (1733-1811) und Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) (XXVII). Heftiger Widerspruch kam dagegen von Johann Gottfried Herder (1744- 1803), der Spalding zunächst bewundert hatte (XXVII f.).

Auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1771 wurden die "Briefe an Gleim" (SpKA Abt. 1, 6 II, 1-102) erstmals zum Verkauf angeboten. Anonym und unautorisiert erschien diese Sammlung von 33 Briefen, die Spalding zwischen 1746 und 1757 an seinen Jugendfreund Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) gerichtet hatte. Beide hatten sich in Berlin kennen gelernt. Eine schwärmerische Freundschaft verband sie, die nach dem Wechsel Spaldings nach Berlin zerbrach. Tiefe Enttäuschung und eigene Eitelkeit veranlassten Gleim, der seit 1747 in Halberstadt lebte und zum Mittelpunkt eines Dichterkreises wurde, zu dieser Aufsehen erregenden Publikation. Dessen Herausgeberschaft, bisher nur vermutet, weisen die Herausgeber eindeutig nach (XXIV-XXVII). Zu begrüßen ist, dass die Ausgabe die im Halberstädter Gleimhaus liegenden Originalbriefe berücksichtigt und so verdeutlicht, wie Gleim die Briefe ediert und sie verändert hat. Die "Briefe an Gleim" ermöglichen damit einen bemerkenswerten Zugang zum frühen Spalding.

Einen ganz anderen Charakter trägt die "Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt" (SpKA Abt. 1, 6 II, 107-240), die sein jüngster Sohn Georg Ludewig (1762-1811) nach dem Tod des Vaters mit einigen Ergänzungen 1804 in Halle publizierte. Es handelt sich um eigene Aufzeichnungen, die seit Dezember 1757 nach Ende des Briefwechsels mit Gleim in zeitlichen Intervallen rückblickend - ab 1790 jährlich - aufgeschrieben wurden als eine Rechenschaft "Für meine Nachbleibenden" (107). Bereits Zeitgenossen sahen in der "Lebensbeschreibung ..." ein Erbauungsbuch, was es für den engeren Familien- und Freundeskreis sicher auch war. Würdigungen, auch eine Erinnerung seines Sohnes (229-234), ergänzen die eigentliche "Nachricht von meinen Lebensumständen" (115-211). Wenn es sich dabei auch nicht um eine Autobiographie im eigentlichen Sinne handelt, so gewähren uns die Texte jedoch nüchtern, offen und ungeschönt weitreichende Einblicke in Leben und Werk Spaldings, teilweise als gleichzeitige Schilderung, in die Entfaltung seiner Theologie sowie in ein spannendes Kapitel der Kirchen- und Geistesgeschichte.

Erst die 3. Auflage von "Vertraute Briefe, die Religion betreffend" (1788; SpKA Abt. 1, 4) klärte durch einen von Spalding unterzeichneten und als "Zugabe" (203-248) bezeichneten Brief an Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1787), einen weiteren Hauptvertreter der Neologie, endgültig die Verfasserfrage. Diese Schrift stellt im Lebenswerk Spaldings einen Höhepunkt dar in seinem steten Bemühen, an der angeschwollenen öffentlichen Diskussion über Religion mitzuwirken und möglichst vielen den Zugang zur Religion zu erhalten oder wieder zu ermöglichen. Ursprünglich als "Religion eines Layen" gedacht, entschied er sich jedoch für die offene Briefform, die in der 2. Auflage (1785) eine inhaltliche Erweiterung erfuhr. In seiner "Lebensbeschreibung ..." spricht er rückblickend - der entsprechende Abschnitt entstand 1790 - von dem Ziel, "einen solchen Entwurf der Religion aufzustellen, wie ihn etwa ein ernsthaft denkender oder ganz unbefangener Laye herausbringen würde ..." (Bd. 6 II, 176). Gegenüber Jerusalem erinnert der Vf. an seine Grundüberzeugungen: verehrendes Erkennen "einer mit Weisheit und Güte alles regierenden allmächtigen Gottheit", zukünftiges Leben sowie "die herrliche Unterweisung und Erweckung des Evangeliums Jesu Christi" (Bd. 4, 205). Spalding fühlt sich herausgefordert, eine "kalte Irreligiösität" (245) abzuwehren, einen Deismus, der sich in Angriffen auf die Religion und herabsetzender Kritik erschöpft, und jede "neue Schwärmersucht" (231) zurückzuweisen, die Gefühle und Empfindungen völlig aus der Bindung an Gottes Walten löse. Die in der Forschung noch vertretene Auffassung, Spalding reduziere die Religion auf Moral, stellen die Herausgeber gerade im Blick auf die Schrift "Vertraute Briefe ..." deutlich in Frage (XXXI-XXXIII). Dieses Werk beantwortet auch die Frage nach der grundsätzlichen Bedeutung von "Aufklärung" für Spalding, der in Abgrenzung gegen "unbarmherzige, kalte Aufklärer" (155), die alle Religion beseitigen wollen, immer wieder von der "wahren Aufklärung" spricht als Ergebnis der aus dem Christentum erwachsenden natürlichen Religion (XXXIII-XXXV). Die "Vertraute(n) Briefe ..." gehören zu den umfangreichen populärtheologischen Veröffentlichungen, mit denen die Neologen ihre theologischen, seelsorgerlichen und kirchenreformerischen Überzeugungen zu verwirklichen suchten. Die 3. Auflage spiegelt bereits die Spannungen wider, die sich aus der veränderten Religionspolitik des Preußenkönigs, Friedrich Wilhelms II. (1744-1797), ergaben, die im Sommer 1788 zum Wöllnerschen Religions- und Zensuredikt und zum damit zusammenhängenden Rücktritt Spaldings von seinem Amt als Propst führten.

Nach 1960 ist eine Zäsur in der deutschen Aufklärungsforschung zu beobachten. Eine Neuerschließung und Neubewertung dieser Epoche setzte ein, die auch die Kirchen- und Theologiegeschichte erreichte. Mit dem zunehmenden Interesse am 19. Jh. in den letzten Jahren kam auch das 18. stärker in den Blick, wobei dessen plurale Ausformungen und Ambivalenz die Forschung zunehmend beschäftigen, die unterschiedlichen Konzeptionen von Lebensgestaltung, Wissen und Orientierungsformen. Die Aufklärung erscheint als Epoche einer spezifischen Toleranzkultur, nicht zuletzt im Vergleich zum 20. und beginnenden 21. Jh. In diesem Kontext ist es sinnvoll, sich auch von kirchengeschichtlicher Seite verstärkt der Zeit zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem allgemeinen Umbruch in Europa um 1800 zuzuwenden. Dieser Aufgabe dient die "Spalding-Arbeitsstelle", die Anfang 2001 an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ihre Arbeit aufnahm und die SpKA betreut. Damit werden grundlegende Quellen für die kirchen-, theologie-, philosophie- und literaturgeschichtliche Forschung der 2. Hälfte des 18. Jh.s zur Verfügung gestellt. Diese fordern dazu auf, die besondere Leistung des von Pommern nach Berlin gekommenen Aufklärungstheologen als Vermittler zwischen der westeuropäischen Aufklärung und der lutherisch bestimmten kirchlichen Tradition Nord- und Mitteldeutschlands zu würdigen und den Zugang zur Neologie quellenmäßig gesichert zu ermöglichen. Diese "neue Theologie" bestimmte die Arbeit Spaldings als weiter- wirkenden Modernisierungsversuch des konfessionell bestimmten Christentums für das gebildete Bürgertum seiner Zeit.