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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

816–818

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Iwand, Hans Joachim

Titel/Untertitel:

Theologiegeschichte des 19. und 20.Jahrhunderts. "Väter und Söhne". Bearbeitet, kommentiert u. m. e. Nachwort versehen v. G. C. den Hertog.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 560 S. gr.8 = Iwand Nachgelassene Werke. Neue Folge, 3. Geb. Euro 99,00. ISBN 3-579-01847-7.

Rezensent:

Werner Brändle

1. Die captatio benevolentiae des Herausgebers, Iwand habe mit diesen Vorlesungen Ende der 40er Jahre nicht gepredigt, sondern Ergebnisse ernsthafter wissenschaftlicher Forschung dargeboten, ist einerseits - was die Rhetorik betrifft - verständlich, andererseits aber allzu vorsichtig. Denn nach wie vor besticht die Intensität und Urteilskraft, mit der I. theologische und philosophische Positionen des 19./20. Jh.s dem Leser vor Augen malt. Sicher, das ist nicht der ausgewogene Stil angeblich objektiver wissenschaftlicher Deskription, sondern da wird leidenschaftlich (um nicht nur zu sagen: expressionistisch) argumentiert und gefragt: Was ist unser theologisches Erbe? Wo sind Fehler der Väter gemacht worden? Wie können wir nach der Katastrophe der Nazi-Zeit verantwortlich Theologie treiben? I. formuliert im Blick auf die Lage der Systematischen Theologie sein Anliegen so: "Ich möchte die Stimmen alle zum Klingen bringen, die verblichenen, vielleicht auch die verfemten, ich möchte ein wenig die Größe der Leistung und der Aufgabe erkennen lassen, die unter dem Namen Theologie der Gegenwart zu verstehen ist. ... Es kommt mir darauf an, erst einmal wieder die Fülle, die Mannigfaltigkeit des Lebens innerhalb der Theologie der Gegenwart zu rekonstruieren, die heute in Gefahr ist, der Langeweile, der Monotonie eines so oder so approbierten Systems Platz zu machen." (225)

Die Darstellungsweise mag manchmal etwas pathetisch sein, dennoch: Diese Theologiegeschichte ist durchgehend spannend zu lesen, weil hier jemand nicht nur referiert, sondern ganz dezidiert und subjektiv - aus der Perspektive der Geschichte der Bekennenden Kirche - eine Interpretation vorlegt. Die beiden Grundgedanken sind: einerseits den Gesprächszusammenhang mit den Vätern des 19. Jh.s wieder herzustellen und andererseits diagnostisch "mit einer Metakritik, einer Fragestellung, der man anmerkt, woher wir kommen, einer Kritik, die an sich, aber nicht an Gott irre geworden ist, dieses ganze theologische Unternehmen der Gegenwart noch einmal zu überholen: es zu sehen in jenem Feuerbrand, der die Spreu vom Weizen scheidet ..." (230). Und - was zu erwarten war - I.s Darlegungen können gar nicht anders enden als mit einer kritischen Laudatio auf K. Barth, einer Laudatio, die freilich aus heutiger Sicht noch kritischer vorzutragen wäre, die gleichwohl in ihrem Kern auch als Anfrage an heutige kirchlich-theologische Reformbemühungen zu verstehen ist:

"Während andere - die meisten anderen - sich immer noch darum bemühen, das Dogma der Welt, dem modernen Menschen, den Fragen von heute anzupassen unter dem Beifall der bedrängten Kommandanten der kirchlichen Bastionen, ist einer ins Innere vorgedrungen und hat die Verkündigung wieder erklingen lassen über dem toten Dogma, hat begriffen, dass Dogmen Leuchter sind, auf die das Licht gehört, das Jesus selbst ist, Jesus in seiner Person, in seinem Ich bin - dass sie nicht von sich selbst leuchten, wärmen, den Weg weisen. Karl Barth fragt nicht mehr: das Dogma und der moderne Mensch? Sondern er fragt und lässt sich fragen: das Wort und das Dogma? Das ewige Wort und der dogmatische Prozeß, in dem wir uns mit unsren Vätern und Söhnen, mit denen, die vorausgingen und nachkommen, befinden. Er meint offenbar, dass es nutzlos ist, die Kirche von außen zu verteidigen oder zu reformieren, solange nicht das Licht in ihr aufleuchtet, das alles macht, was wir nicht machen können. Solange es also gerade im Zentrum der Verkündigung dieser Kirche so tot, so leer, so dunkel ist." (270)

2. I.s Theologiegeschichte des 19. und 20. Jh.s beruht auf zwei Vorlesungen, die er im Wintersemester 1948/49 und im Sommersemester 1950 in Göttingen gehalten hat. In der ersten Vorlesung (15-220) geht es ihm vor allem um das 19. Jh.; dabei will er anhand der drei Schlüsselbegriffe Religion, Ethik und Geschichtsphilosophie bzw. Dogma sich mit diesem Erbe auseinander setzen, d. h.: "es hat keinen Sinn, nur nein zu sagen; Sinn hat das Nein, wenn auch deutlich wird, wo das Ja - das geheime und gemeinsame Ja liegt, das dem Nein zugrunde liegt." (59 f.) Wie nicht anders zu erwarten, heißt dies für I., die Positionen von Schleiermacher und Hegel paradigmatisch und ausführlich darzustellen, denn "zwischen diesen beiden Polen ... zwischen dem Bündnis der Theologie mit der Religion auf der einen und dem zwischen der Philosophie und der Offenbarung auf der anderen Seite, vollzieht sich das spannungsvolle Wechselspiel der deutschen Theologiegeschichte in diesem Jahrhundert" (62).

Dass dabei der behauptete Primat der Ethik für I. zum entscheidenden Drehpunkt seiner Auseinandersetzung wird - "dass also recht verstanden erst dann wirklich der Ansatz des neunzehnten Jahrhunderts überwunden ist, wenn die Ethik aufgehört haben wird, Fundamentalwissenschaft zu sein" (64), ist nicht verwunderlich. Neben R. Rothe werden die Positionen von Martensen, Harleß und - voller Hochachtung - A. von Oettingen referiert; interessant ist, dass in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit A. Ritschl fehlt. Sehr umsichtig und vorsichtig sind I.s Auslassungen zu Hegel. Er stellt dessen dialektische Methode ins Zentrum und endet mit den selbstkritischen Fragen: "Heißt das: In der Methode entscheidet sich die wissenschaftliche Bedeutung der theologischen Aussage? Müssen wir uns die Methode von der Wissenschaft geben lassen? Ist die Offenbarung auch Vorstellung im Verhältnis zum Begriff? Nimmt die Theologie teil an Hegels Angebot des absoluten Wissens?" (200)

Die Darstellung der Theologie im 20. Jh. (223-452) gliedert I. in sechs Kapitel, wobei die vorangestellte Einleitung dazu besonders interessant ist. Seine Leitfrage heißt: Was ist Theologie? Bzw.: Wie definiert Theologie die Themen der Zeit? Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang seine Auseinandersetzung mit R. Bultmann. Ausführlich geht er auf dessen berühmten Vortrag: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? ein und belegt Bultmanns Programm von Glauben und Verstehen mit dem Verdikt: Natürliche Theologie! Bultmann meine, "dass das gläubige Dasein nur seine Existenz versteht, indem es das ungläubige in sich eingeschlossen weiß, also beides zusammen ist" (250). Und I. fragt weiter: "Begegnen wir hier der thomistischen Methode in protestantischer Existentialität? Also mit der durch den Namen Kierkegaard und seinen Augenblick bezeichneten Grenze? Sollte auch bei Bultmann fassbar werden, wie nahe alle, die sich dem Existentialismus Kierkegaards verschreiben, denn doch dem katholischen Schema von Theologie kommen?" (252) Und Bultmanns Rede von Gott kommentiert er so - die metaphysikkritische und zukunftsweisende Position Bultmanns wird dabei in ihrer Relevanz gänzlich übersehen (!): "ist Gottes Wort nicht auch das Wort Gottes an sich und als solches das Wort an uns? Ist seine Offenbarung nicht auch abgesehen von uns ja abgesehen von der Welt - seine Tat und seine Möglichkeit?" (256)

In den folgenden Kapiteln, deren Überschriften hier nicht wiedergegeben werden, weil sie vom Herausgeber stammen, stellt I. folgende theologische Positionen dar: W. Herrmann, M. Kähler, E. Troeltsch, die Religionssoziologie M. Webers, K. Heim, A. Schweitzer, R. Bultmanns Jesus-Buch, E. Brunner, H. Vogel und last but not least K. Barth. Aus der Fülle der interessanten Perspektiven und Urteile sei hier nur auf I.s Darstellung von K. Heim kurz eingegangen; einmal deshalb, weil I. sich in seiner Dissertation (1924) mit K. Heim beschäftigte, zum andern, weil dieser Theologe gegenwärtig fast gänzlich in Vergessenheit geraten ist. Heim ist für I. deshalb von Bedeutung, weil dieser mit seiner Schrift Das Weltbild der Zukunft (1904) mutig und prophetisch das Ende aller idealistischen Positionen in der Theologie beschworen und mit apologetischem Eifer sich in den Streit mit den Naturwissenschaften um ein modernes Weltbild eingelassen und damit die Entmythologisierungsdebatte vorweggenommen habe. "Für Heim sind alle für sich genommenen, alle absolut gesetzten Größen - ob das nun Zeit oder Raum, Ich oder Du, Bewusstsein oder Wille sind - mythische Gebilde. Selbst die Lokalisierung des cogito, des Bewusstseins eines Lebenswesens in einem Ich, ist für ihn magischer Traum." (371)

3. Die Edition schließt mit einem ausführlichen Nachwort, d. h. dem nötigen Editionsbericht, einer (unnötigen) Paraphrase der Vorlesungen und einem hilfreichen Register. Man kann der Hans-Iwand-Stiftung und dem Herausgeber wiederum für diesen sorgfältig edierten Band aus dem Nachlass I.s nur dankbar sein. Wenn unsere theologischen Väter ihre Väter interpretieren, bleibt nicht nur die theologia viatorum im Sinne einer notwendigen Interpretationsgemeinschaft lebendig, sondern es wird - gerade durch I.s Arbeit - eindrücklich aufgezeigt, welches die lohnenden theologischen Fragestellungen auf dem Weg der Vermittlung evangelischer Wahrheit sind.