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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

811–816

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Herms, Eilert

Titel/Untertitel:

Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. VIII, 502 S. gr.8. Lw. Euro 84,00. ISBN 3-16-148024-4.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Der Band versammelt umfängliche Studien zum Werk Schleiermachers, zu den immer wieder strittigen Interpretationsfragen, die insbesondere das Verhältnis von Philosophie und Theologie, Glauben und Wissen, dann auch seine Wirkungsgeschichte und die anhaltende Gegenwartsbedeutung betreffen. Die in chronologischer Folge nach dem Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung (1976-2003) geordneten 14 Aufsätze (mit teilweise monographischem Charakter) sind durchweg von der Überzeugung getragen, dass in Schleiermachers Entwurf eines Systems des Wissens die grundlegenden Voraussetzungen formuliert sind, unter denen auch noch wir Heutigen zu einem angemessenen Verständnis der Verfassung des menschlichen Lebens und damit der Bedingungen, unter denen es seine geschichtlichen Herausforderungen zu erkennen und anzunehmen vermag, finden können. Es ist keineswegs allein die Theologie, die H. durch Schleiermachers Lebenswerk bis in die eigene Gegenwart maßgeblich orientiert sieht. H. verbindet mit dem Werk Schleiermachers den Anspruch, dass dieser die Grundlinien einer universalen, im Kontext der europäischen Aufklärung und auf dem Boden des Christentums sich bewegenden Ontologie entwickelt hat, die sich bis heute auf dem Gesamtgebiet sowohl der Natur- wie der Geisteswissenschaften als anschlussfähig erweisen kann. Es stehen deshalb die Fragen nach Schleiermachers Architektonik des Systems der Wissenschaften im Zentrum. Sie haben schließlich auch schon H.s Dissertation über die Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt der Systemkonzeption Schleiermachers (1974) bestimmt. H. schließt sich mit diesem auf die Systemfragen konzentrierten Zugriff auf Schleiermacher den bahnbrechenden Arbeiten Hans-Joachim Birkners an, auf dessen Wirken - auch auf Grund der von ihm begründeten Kritischen Gesamtausgabe, deren erste Abteilung inzwischen abgeschlossen werden konnte - H. völlig zu Recht wesentliche Anteile an der seit den späten 60er Jahren anhaltenden Schleiermacher-Renaissance zurückführt.

Wie die hier zusammengefassten und erneut veröffentlichten Studien eindrucksvoll belegen, hat freilich auch H. selbst in den vergangenen Jahren wesentlich nicht nur zur Wiederbelebung der historisch-kritischen Schleiermacher-Forschung beigetragen, sondern vor allem auch dazu, die in das Gesamtgebiet der Wissenschaften ausgreifenden Motive seines Denkens in die gegenwärtige theologische Debatte auf bestimmende Weise Eingang finden zu lassen. H.s Studien imponieren allein schon auf Grund der hermeneutischen Disziplin, mit der er die historisch-kritische Frage nach der Intention Schleiermachers als des Autors seiner Texte vorangetrieben hat, sodann auf Grund eben der konsequenten Rückführung aller inhaltlich-thematischen Interpretationsfragen auf die Bestimmung ihres Ortes im philosophischen Systementwurf Schleiermachers. Auf beiden Wegen hat H. ganz neue Thesen darüber entwickelt, wie Schleiermacher sein System des Wissens aufgebaut hat, welcher Disziplin die Grundlegungsfunktion zukommt, wie sich Philosophie und Theologie zueinander verhalten, welche notwendigen Asymmetrien und Rangverhältnisse in diesem System vorgesehen sind.

Insbesondere die frühen, eher exegetischen Untersuchungen zur Systemkonzeption Schleiermachers zeichnen sich durch enorme Differenziertheit in der Durchforstung der unübersichtlichen Textbestände aus. Aber auch schon in ihnen setzt H. darauf, dass es mit den Texten in der Sache weiterzudenken gilt, vom Textbestand her Fragmentarisches (wie es mit Schleiermachers Vorlesungsnotizen vielfach vorliegt) im Blick auf die verhandelten Themen und Probleme gedanklich ergänzt sein will. Immer beansprucht H., nach dem hermeneutischen Grundsatz zu verfahren, dass es sowohl die ursprüngliche Intention des Autors zu erfassen gilt wie auch ein Verständnis dessen gewonnen sein will, worum es ihm in der Sache gegangen ist. Dies freilich ist - wie sich in der Abfolge der vorliegenden Studien zeigt, die zunehmend einen streng systematischen Aufbau gewinnen - genau das, worum es auch H. heute geht: eine anthropologisch fundierte Wirklichkeitswissenschaft, die sich in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit auf dem Boden und in der Perspektive des Christentums expliziert.

Das Bild, das H. zu diesem Zweck - mit, wie bereits notiert, erheblichem exegetischen Aufwand - von Schleiermachers System der Wissenschaften rekonstruiert, sieht die Ethik als die Basisdisziplin vor, nicht - gelegentlichen Bemerkungen Schleiermachers zum Trotz - die Dialektik. Die (Philosophische) Ethik wiederum, die die kategorialen Grundstrukturen des vom menschlichen Handeln hervorgebrachten und getragenen geschichtlichen Werdens entwickelt, wird auf ihre anthropologische Fundierung hin ausgelegt. Dass die Ethik und mit ihr das System des Wissens, somit schließlich das kategoriale Verständnis von der Wirklichkeit im Ganzen, anthropologisch fundiert sind, bedeutet dann aber nichts anderes, als dass es im Ursprung des Weltwissens auf den Menschen und die sich ihm in der Konkretion seines geschichtlichen Lebens erschließende Anschauung von der Wirklichkeit ankommt. Deshalb sieht H. Schleiermachers System des Wissens, seine Auffassung von den kategorialen Strukturen des geschichtlichen Werdens der Menschheit, ursprünglich aus eben denjenigen Bestimmungen hervorgehen, die sich dem einzelnen, geschichtlich existierenden Menschen in seiner unmittelbaren Selbstanschauung zeigen. H. findet, zumindest implizit, im Ganzen der von Schleiermacher als philosophisch deklarierten Auffassung vom Men- schen und seinem geschichtlichen Werden, bereits zu derjenigen unmittelbaren Sich-Erschlossenheit des menschlichen Daseins, die dieser als dessen Frömmigkeit beschrieben hat und die ihm auf bestimmte Weise lediglich die christliche sein konnte. Im sechsten, der "Psychologie" Schleiermachers gewidmeten Aufsatz, untermauert H. diese Sicht auf Schleiermachers Wissenschaftssystematik erneut: Das System des Wissens gründet in einer Anthropologie, die aus der konkreten Selbstanschauung des einzelnen Menschen in seiner geschichtlichen Bestimmtheit, somit der unhintergehbaren Prägung seiner religiösen Grundüberzeugungen hervorgeht. In Verbindung mit dieser inhaltlichen Feststellung versucht H., hier zudem den Nachweis zu erbringen, dass in Wahrheit die Psychologie, also die Lehre von der Selbsterschlossenheit des Menschen in der empirischen, leib-seelischen Konkretion seines unmittelbaren Selbstbewusstseins, die Basisdisziplin in Schleiermachers System der Wissenschaften darstellt.

Die Rekonstruktion der anthropologisch-psychologischen Grundlegung der Ethik, damit der Wissenschaftssystematik, schließlich des Verständnisses von der Grundverfassung des Menschen in seinem geschichtlichen Werden überhaupt soll, wie die ersten sechs Arbeiten zeigen, dahin führen, dass der innere dichte Zusammenhang zwischen Schleiermachers Religions- und Christentumstheorie, somit auch seiner Theologie, seiner Wissenschaftssystematik bzw. seinem Wirklichkeitsverständnis auf der einen Seite und seiner Philosophie auf der anderen Seite, vor Augen tritt. Schleiermacher, so H.s zentrale These, hat eine Ontologie der natürlichen und geschichtlichen Welt entwickelt, und diese stand für ihn im Kontext des Christentums, war ihm in der Entwicklung ihrer inhaltlichen Bestimmungen so überhaupt nur unter den Voraussetzungen und im historischen Kontext der christlichen Offenbarungsgeschichte möglich.

Mit der Behauptung der Psychologie als der eigentlichen Basisdisziplin in Schleiermachers Wissenschaftssystematik verbindet H. somit weit reichende, die systematische Interpretation und Gegenwartsbedeutung des Werkes Schleiermachers insgesamt betreffende Folgen, die in den weiteren Aufsätzen des vorliegenden Bandes (Nr. 7-14) im Wesentlichen entfaltet werden.

Die Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins, also die Inhalte, vermittels derer der einzelne Mensch sich selbst im Ganzen seiner Welt auf ebenso unmittelbare wie konkrete Weise erschlossen ist, war für Schleiermacher die christliche, so H. - und diese christliche Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins, also die christliche Frömmigkeit, wird in der Entfaltung der kategorialen Verfassung des Menschen und seines geschichtlichen Werdens, also im Aufbau des Systems des Wissens, immer schon vorausgesetzt. Die kategoriale Verfassung des Ganzen der Wirklichkeit in Natur und Geschichte, das Wissenschaftssystem und alle aus ihm abgeleiteten Wissenschaften, geraten unter das Vorzeichen des Christlichen. Das Wirklichkeitsverständnis überhaupt baut sich für Schleiermacher auf dem Boden des Christentums auf. "Schleiermachers Philosophie ist christliche Philosophie" (222, vgl. auch 256). Die Wissenschaften bewegen sich auf der Basis derjenigen Weltanschauung, die aus der Selbstanschauung des Christenmenschen resultiert. So ist auch die Philosophische Ethik eine christlich bestimmte Ethik. Sie beschreibt zwar diejenigen kategorialen Grundstrukturen des Menschseins im Werden, die für alle menschlichen Gesellschaften gelten. Aber als solche haben sie sich je einzelnen Menschen erschlossen, die mit ihrem ganzen geschichtlichen Dasein im Zusammenhang der Christentumsgeschichte stehen. Die christliche Sittenlehre, wie überhaupt die Theologie, sind von der Philosophie nicht dadurch unterschieden, dass sie das Christentum bzw. die sich unter seinen Bedingungen ergebende Selbstanschauung des Menschseins, voraussetzen. Die Christliche Sittenlehre wie die Theologie überhaupt nehmen lediglich explizit die Perspektive des christlichen Lebens ein. Sie verfahren empirisch und zeigen, wie in der geschichtlichen Wirklichkeit und Wirksamkeit der christlichen Gemeinde das sittliche Leben in der Vielfalt seiner kulturellen Bezüge konkret realisiert wird.

H. kommt es - im Fortgang seiner Schleiermacher-Studien mit sich verstärkendem Gegenwartsbezug - entscheidend darauf an, deutlich zu machen, dass es in Schleiermachers System des Wissens gar keine Möglichkeit gibt, die Philosophie gewissermaßen als voraussetzungslos verfahrende reine Vernunftwissenschaft zu betrachten, der gegenüber dann die Theologie als eine von bestimmten religiösen und weltanschaulichen Voraussetzungen ausgehende, an den christlichen Glauben unhintergehbar gebundene Wissenschaft erscheint. Alles Wissen, das der Philosophie ebenso wie das der Theologie, steht für Schleiermacher "im Horizont des reflektierten Selbstbewusstseins", d. h. des sich unmittelbar in seinen konkreten geschichtlichen Prägungen erfassenden Selbstbewusstseins, wie H. im vorletzten Text, somit einem seiner jüngsten in den Band aufgenommenen Beiträge, der des Näheren dem Verhältnis von Philosophie und Theologie gewidmet ist, ausführt (Nr. 13). Zumindest implizit ist deshalb auch die Philosophie, in Schleiermachers Fall die von der Philosophischen Ethik entfaltete Anschauung von der grundlegenden Verfassung der menschlichen Kulturwelt, von den wirklichkeitskonstitutiven Grundüberzeugungen der christlichen Religion bestimmt. Die Theologie macht lediglich das aus der christlichen Grundüberzeugung von der Verfassung der Wirklichkeit hervorgehende christliche Wirklichkeitsverständnis in seinen materialen Gehalten explizit. Sie hält sich dabei an die geschichtliche Wirklichkeit des christlichen Lebens, seine Darstellung im Kultus, seine Wirksamkeit in der Gemeinde und im Ganzen der Kultur.

In dem allen macht H. implizit die Kontroverse gegen jenen breiten Strom einer Schleiermacher-Interpretation auf, die in Schleiermacher gewissermaßen den Kant der Theologie sieht, den erkenntniskritischen Fragen, damit auch Schleiermachers Dialektik, eine Schlüsselstellung im Verständnis seines Werkes gibt und seine bis heute inspirierende Leistung in der Verbindung einer transzendentalen Theorie der Subjektivität mit einer Ethik der Authentizität des Individuellen erkennt. H. beansprucht, zeigen zu können, dass Schleiermacher zwar die Hinwendung zur neuzeitlichen Subjektivitätsthematik vollzogen hat, somit auch die Theologie im Kontext der Aufklärung reformuliert, dann aber doch bereits früh auf eine Ontologie der Subjektivität hinausgeht und einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung des erkenntniskritischen Reduktionismus' Kants geleistet hat. Das unmittelbare Selbstbewusstsein fungiert nach H. im Systemaufbau Schleiermachers gerade nicht nur als transzendentale Funktion der Synthesis in der Wirklichkeitserkenntnis. H. insistiert vielmehr darauf, dass Schleiermacher das unmittelbare Selbstbewusstsein in der empirischen Wirklichkeit seines Vorkommens und damit in der Form der konkreten Selbsterschlossenheit des einzelnen Menschen in seinem seelisch-leiblichen Dasein für den Aufbau des Wissens in Anspruch nimmt. Es ist das Verständnis des Ganzen der Wirklichkeit immer schon getragen von derjenigen geschichtlichen Auslegung, die dem einzelnen Menschen in seiner unmittelbaren Selbstanschauung gewährt wird, die dann auch das Gerüst seiner verhaltensorientierenden Grundüberzeugungen ausmacht. Sofern diese grundlegenden Überzeugungsgewissheiten aus dem Zusammenhang der Christentumsgeschichte hervorgehen, kann es unter ihren Voraussetzungen somit auch nur zu einer christlich fundierten Auffassung von der Verfassung der Wirklichkeit im Ganzen, zu einer Ontologie aus dem Christentum und auf dessen Boden, kommen.

Wie H. schon in seiner Dissertation zu zeigen beansprucht hat, wurde Schleiermacher von einer Einsicht Jakobis dahin geführt, das unmittelbare Selbstbewusstsein nicht nur als reine Selbstbeziehung zu fassen, sondern als ein "unmittelbares Realitätsbewusstsein". Das unmittelbare Selbstbewusstsein meint dann nicht nur ein identitätskonstitutives Aktionszentrum, nicht nur unmittelbare Vertrautheit eines Ich mit sich selbst, sondern die ihm gewährte unmittelbare Erschlossenheit der kategorialen Verfassung der Wirklichkeit im Ganzen. Deshalb lässt sich, worauf H. hinausgeht, im Ausgang von der (christlichen) Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins auch die menschliche Wirklichkeit im Ganzen nach der Seite der beharrlichen Züge ihres Werdens erkennen. Das unmittelbare Selbstbewusstsein wäre jedenfalls nicht, wie im Kantischen Reduktionismus, lediglich die transzendentale Einheit des Ich in der Differenz seiner Erkenntnisfunktionen, sondern zugleich der anthropologische Ort der Konstruktion des inhaltlich bestimmten, lebensorientierungspraktisch fungierenden christlichen Wirklichkeitsverständnisses.

H. versteht Schleiermacher gewissermaßen im Sinne jenes höheren Realismus, von dem dieser in den "Reden über die Religion" spricht. Er macht ihn zugleich aber auch zu einem christlichen Philosophen, der eine christliche Weltanschauung begründet. Und auch dem Theologen Schleiermacher geht es, nach H., nicht eigentlich darum, unter den erkenntniskritischen Bedingungen Kants die Theologie in der strikten Zurücknahme ihre Aussagen über Gott und die Welt auf diejenigen Bestimmungen, die aus der gegenwärtigen Selbstauslegung des christlich bestimmten religiösen Selbstbewusstseins hervorgehen, in einer neuen, mit dem wissenschaftlichen Weltbild der Neuzeit kompatiblen Weise zu reformulieren. Schleiermachers Theologie gewinnt vielmehr diesen affirmativen Zug, wonach sie die überkommenen, biblisch-reformatorischen Lehraussagen, die christliche Schöpfungs-, Sünden- und Gnadenlehre, unter dem Vorzeichen bestätigt, dass in ihnen sich das christliche Wirklichkeitsverständnis, wie es sich dem unmittelbaren Selbstbewusstsein im christlichen Kontext ergibt, auf eine für jede Gegenwart in der Christentumsgeschichte gleichermaßen verbindliche Weise ausspricht. Dass es sich bei den Aussagen des christlich-frommen Selbstbewusstseins um dessen aktuale Selbstdeutung - im Medium der christlichen Lehrüberlieferung- handelt, bleibt bei H. merkwürdig unbedacht.

Leicht gelingt H. deshalb die Annäherung an die orthodoxe Schultheologie, an die Essentials der reformatorischen Wort-Theologie und auch noch an die Offenbarungstheologie des 20.Jh.s. Epochenschwellen schwinden aus dem Blick. Die Moderne ist kein eigenes Thema, auch die Frage nach dem Kontext der Aufklärung und deren Kritizismus wird eher nur gestreift als wirklich bearbeitet. So bleiben auch viele Fragen offen:

Warum hat Schleiermacher seine Philosophie nicht explizit als christliche entfaltet? Warum hat er in der Philosophischen Ethik und der Dialektik das unmittelbare Selbstbewusstsein gerade nicht als ein solches zum Einsatz gebracht, das die Momente des wirklichen Lebens eines Menschen erfüllt, sondern nur in seiner transzendentalen Synthesisfunktion, gewissermaßen als transzendentalen Einheitsgedanken? Warum bleiben Schleiermacher in der Dialektik der Gottesgedanke, in der Ethik die Einheit von Vernunft und Natur, lediglich der terminus a quo, der auf dem Weg zum vollendeten, ganzheitlichen Weltwissen, bzw. zum Höchsten Gut im Ganzen einer vernunftbeseelten Natur, als dem terminus ad quem, zwar immer schon vorauszusetzen ist, selber aber nicht Gegenstand des Wissens bzw. einer positiven, inhaltlich konturierten Weltanschauung werden kann? Warum also kann Schleichermacher auch nicht die gelebte Frömmigkeit zum konstruktiven Ausgangspunkt im Aufbau der Systematik des Wissens machen, so, dass von ihr die Grundstrukturen in der Auffassung vom Menschsein im Werden abgeleitet werden könnten?

War Schleiermacher nicht entschieden der Meinung, dass sich die religiöse Überzeugungsgewissheit - vermittelt durch die Christentumsgeschichte und die christliche Kommunikationsgemeinschaft der Kirche - nur am Ort des individuellen Subjekts als unvertretbar eigene Gewissheit einstellen und aufbauen, also gerade nicht objektiv und allgemein beschrieben, schon gar nicht zum Prinzip des Wissens und zum Fundament von spekulativen Ableitungen hinsichtlich der Verfassung der Wirklichkeit im Ganzen gemacht werden kann? - Warum hat Schleiermacher alle inhaltlichen Bestimmungen der Frömmigkeit an die Tätigkeit des individuellen Symbolisierens, somit an mehrstufige Zeichenprozesse gebunden? Wollte er damit nicht gerade beschreibbar machen, dass die inhaltliche Bestimmtheit des religiösen Bewusstseins auf vielfältigen Vermittlungswegen über Deutungsvollzüge von Menschen verläuft, die sich im Kontext von Deutungstraditionen bewegen, aber ebenso, je nach Lage der Dinge, sich auch eigenaktiv und vor allem durch Zeichentransformationen in neuen Sprachen fortschreiben?

Ist auf der Linie Schleiermachers der christliche Glaube, die Religion überhaupt, sofern sie sich inhaltlich, in ihrer symbolischen Form, expliziert, nicht eben immer eine Perspektive der individuellen Deutung der Wirklichkeit im Ganzen, die an überkommende Deutungstraditionen, aber ebenso an die Deutungsvollzüge, das symbolisierende Handeln der individuellen Subjekte, gebunden bleibt, somit auch nur als persönliche Überzeugungsgewissheit kommuniziert werden kann? Müsste dies wiederum nicht heißen, dass die christlich-religiöse Deutungsperspektive auf die Wirklichkeit zwar durchaus auch in die Aufstellungen der Ethik von der Verfassung des Menschseins im Werden eingehen muss, der allgemeine Geltungsanspruch der Ethik aber gleichwohl nicht dadurch eingeschränkt werden darf, dass er an die Übernahme der christlichen Überzeugungsgewissheit gekoppelt wird? D. h., muss die Ethik, bzw. die ihr implizite Gesamtauffassung von der Wirklichkeit im Ganzen, nicht aus und durch sich selbst evident sein, allen mit Vernunft Begabten einleuchten?

Schließlich: War es nicht eines der ganz zentralen Motive in Schleiermachers Denken, die Zeitgenossen so auf die Religion anzusprechen, dass sie ihres eigenen Religionhabens in der Evidenz ihres Selbstgefühls ansichtig werden, um sodann auch noch auf eine subtilere Sprache hören zu können, die die Ausdrücklichkeit dieser unmittelbar empfundenen, unbedingten Daseinsgewissheit an die Symbolsprache des Christentums anschlussfähig macht, sie aber nicht aus dieser hervorgehen, sondern in der vernünftigen Natur des Menschseins verortet sein lässt? Wo wird in H.s Schleiermacher-Interpretation überhaupt noch etwas erkennbar von diesem Bemühen Schleiermachers um eine subtilere Sprache, die das Verlangen der Zeitgenossen nach authentischer Selbstempfindung und Selbstausdrücklichkeit in den letzten Dingen achtet und sie auf behutsame Weise- unter Aufnahme der Tradition religiösen Sprechens wie in dessen moderner Umformung - über ihr eigenes Gefühl zu verständigen versucht?