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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

806–808

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lademacher, Horst, Loos, Renate, u. Simon Groenveld [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ablehnung - Duldung - Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich.

Verlag:

Münster-New York-München-Berlin: Waxmann 2004. XXII, 802 S. gr.8 = Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, 9. Geb. Euro 68,00. ISBN 3-8309-1161-0.

Rezensent:

Matthias Asche

Der ambitionierte Sammelband behandelt anhand von Beispielen aus Deutschland und den Niederlanden die Problematik von Toleranz in Theorie und Praxis und spannt einen weiten chronologischen und thematischen Bogen vom 16. Jh. bis zur Gegenwart. Wegen der großen Zahl der darin versammelten Aufsätze - immerhin 40 Studien von 34 Autoren! - soll sich die Besprechung im Wesentlichen auf die Beiträge zur Frühen Neuzeit konzentrieren, mithin auf die Aufsätze zum Konfessionellen Zeitalter (Kapitel II) und zur Aufklärung (Kapitel III).

Harm Klueting und Eckehard Stöve vergleichen das Toleranzverständnis von Luther und Erasmus - Ersteres "im Horizont des Unkrautgleichnisses" (56-67), Letzteres vor dem Hintergrund des Streites über die "Freiheit eines Christenmenschen" (68-82). Dabei wird deutlich, dass bei beiden die Standpunkte gegenüber Andersgläubigen keineswegs so weit voneinander entfernt waren. Freilich ohne "tolerant im modernen Sinne" gewesen zu sein, überwanden sie in ihren Schriften das mittelalterliche Ketzerrecht und wurden somit wegweisend für die späteren Toleranz- und Paritätsdiskussionen des Reichsrechts. Eine erste säkulare, reichsrechtliche Lösung des genuin theologischen Problems eines multikonfessionellen Staates bot der Augsburger Religionsfrieden, dem sich die Studie von Helmut Gabel widmet (83-98). Er führt den Nachweis, dass nicht der Buchstabe des Friedens selbst, sondern die Diskussion über dessen Auslegung - insbesondere derjenigen des Auswanderungsrechts - zu Impulsen für die Toleranz im Reich geführt hat. Paul Warmbrunn sieht dagegen erst im Westfälischen Frieden den Durchbruch des Prinzips der "eingeschränkten Toleranz" in der Reichsverfassung (99-116). Nach 1648 versuchten viele Landesherren, die Fesseln des Friedenswerkes zu durchbrechen. Als prominentestes Beispiel einer verspäteten reformierten Konfessionalisierung kann Brandenburg-Preußen gelten, worauf Jürgen Luh in seiner Untersuchung zu Recht hinweist (306-324). Mit seiner Neuinterpretation der Religions- und Kirchenpolitik der Hohenzollern entzaubert er überzeugend den zähen Mythos vom "Toleranzstaat" Preußen.

Die Generalstaaten galten gleichfalls den Zeitgenossen als Beispiel eines toleranten Landes. Bei näherer Betrachtung jedoch muss auch dieser zählebige Topos in Frage gestellt werden. Seit der Genter Pazifikation (1581) schrieben alle staatlichen Religionsverordnungen bis zur Batavischen Revolution den Vorrang der (orthodox-)reformierten "publieke kerk" gegenüber den katholischen, täuferischen und später den remonstrantischen Kirchenwesen fest.

In den beiden Überblicksdarstellungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Toleranz sowie zum Funktionieren des multikonfessionellen Staates von Horst Lademacher (117-141) und Willem Th. M. Frijhoff (165- 188) wird klar herausgearbeitet, dass es in der Republik zwar einen gesellschaftlichen Konsens über eine aus der Staatsräson gespeiste politische, de facto aber keine religiöse Toleranz gab. Die intransigente Geistlichkeit beharrte auf dem privilegierten Status der reformierten "Staatskonfession" und hemmte zeitweise nachhaltig die Toleranzdebatte in den Niederlanden, wie Henk Duits in seiner Studie über die Konjunkturen der Rezeption von Schriften von Dirk Volckertszoon Coornhert aufzeigen kann (142-164). Der Antipapismus der Reformierten war offenbar angesichts der blutigen Auseinandersetzungen mit Philipp II. von Spanien so tief verwurzelt, dass die niederländischen Katholiken Außenseiter blieben. Deren doppelte Außenseiterrolle betont Anton W. F. M. van de Sande - einerseits wegen deren politischer Unzuverlässigkeit innerhalb der konstruierten protestantischen Nation, andererseits wegen deren religiöser Unzuverlässigkeit gegenüber Rom auf Grund der starken Verbreitung jansenistischer Lehren (189-201).

Obwohl die antikatholischen Ressentiments im Umfeld der Auseinandersetzungen mit Ludwig XIV. von Frankreich und dem Exodus der Hugenotten - die in den Niederlanden aufgenommenen Réfugiés schlossen sich den orthodox-reformierten Kreisen an - nochmals Auftrieb erhielten, wurde zwar in der virtuellen Welt der "Gelehrtenrepublik" und in aufgeklärten Kreisen eine "politische Toleranz", nicht aber eine "kirchliche Toleranz", mithin das Ende des privilegierten Status der Öffentlichkeitskirche, erwogen. Dieses machen die weitgehend anhand von Auswertungen der Publizistik des späten 17. und 18. Jh.s durchgeführten Untersuchungen von Jan Schillings (254-272), Jörg Engelbrecht (295-305) und Wilhelmina P. D. van Oostrum (325-365) deutlich. Dennoch wurde der öffentliche Disput über die Toleranz unter dem Einfluss der Aufklärung zunehmend versachlicht, so dass sogar auf "Dorf-Ebene" konfessionelle Konflikte individuell pragmatisch gelöst werden konnten, wie Gerrit J. Schutte am Beispiel der Toleranzpraxis im Alltag von Hilversum darlegen kann (422-434). Die formale Gleichstellung der Konfessionen gelang erst durch die Neuregelung des Staat-Kirche-Verhältnisses in der Batavischen Republik. Diesen Prozess zeichnen die Studien von Maarten J. Aalders (435-444) und Anton W. F. M. van de Sande (445- 459) nach. Den Typus des nach wie vor faktisch bevorrechtigten reformierten Theologen zwischen 1640 und 1840 charakterisiert Joris van Eynatten insgesamt mit "Bescheidenheit, Mäßigung und das Mittelmaß" (273-294).

Darüber hinaus bietet der Sammelband auch drei Studien über den Umgang des frühmodernen Staates mit dem Judentum, die sich jedoch leider nur auf deutsche Beispiele beschränken (Klaus J. Berghahn, Dagmar Freist). Einen weiteren interessanten Aspekt enthält der Aufsatz von Jurrien van Goor über die Handhabung der Toleranz gegenüber Nichteuropäern in den Gebieten der Vereinigten Ostindischen Kompanie (234- 253). Abgesehen von dieser letztgenannten Abhandlung ist es insgesamt bedauerlich, dass für die Frühe Neuzeit ausschließlich Beispiele für das Problem der Toleranz unter religiös-konfessionellem Gesichtspunkt ausgewählt wurden und der Umgang mit säkularen Phänomenen von deviantem Verhalten keine Berücksichtigung findet, insbesondere weil die Studien in Kapitel IV neben der religiösen Dimension mehrheitlich andere Toleranzfelder behandeln. Problematisch ist zudem, dass die Autoren offenbar mit unterschiedlichen Toleranz-Begriffen arbeiten. Daran ändern auch die einleitenden Aufsätze in Kapitel I von Horst Lademacher, K. Peter Fritzsche, Kees Schuyt und Wolf Dieter Otto nichts. Aus der Sicht der Frühneuzeit-Forschung jedenfalls vermittelt der interessante Sammelband, dass nicht nur das Konzept des homogenen Konfessionsstaats, sondern auch der bis in die aktuelle politische Debatte immer wieder viel zitierte Topos vom toleranten Staat kräftig hinterfragt werden muss, konstruierte Selbstbilder und Fremdbilder, mithin die Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zu allen Zeiten deutlich voneinander abweichen können. Angesichts der momentan sehr intensiv geführten Diskussionen um das Konfessionalisierungsparadigma macht der Sammelband deutlich, dass historische Toleranzphänomene verstärkt zum Gegenstand von Forschungen werden sollten.