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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

803–805

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Jung, Martin H.

Titel/Untertitel:

Nachfolger, Visionärinnen, Kirchenkritiker. Theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zum Pietismus.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 266 S. m. Abb. 8. Kart. Euro 28,00. ISBN 3-374-02049-6.

Rezensent:

Ruth Albrecht

Der seit 2002 an der Universität Osnabrück lehrende Kirchengeschichtler Martin H. Jung legt in diesem Sammelband zehn größtenteils bereits publizierte Studien vor, die seine Beschäftigung mit Gestalten und Themen des Pietismus vom späten 17. bis ins 19. Jh. dokumentieren; der inhaltliche Schwerpunkt liegt dabei auf Forschungen, die sich auf Württemberg konzentrieren. Bei neun Beiträgen handelt es sich um bereits publizierte Texte aus den Jahren 1995 bis 2001, die für den Neuabdruck zum Teil geringfügig, zum Teil jedoch erheblich überarbeitet wurden. Der einzige als Erstveröffentlichung gekennzeichnete Beitrag über Johanna Eleonora Petersen eröffnet die chronologisch konzipierte Abfolge und soll ausführlicher besprochen werden als die weiteren Kapitel.

Petersen (1644-1724) wird als "Laientheologin des radikalen Pietismus" (11) vorgestellt - so lautet der Untertitel des Aufsatzes (11-63). In beinahe identischer Textgestalt veröffentlichte J. diese Analyse unter einem ähnlich lautenden Titel in einem weiteren Buch desselben Jahres, auf das er in den Fußnoten hinweist, ohne auf die Parallelität aufmerksam zu machen (11, Anm. 1, M. H. Jung: Johanna Eleonora Petersen geb. von und zu Merlau. Weibliche Laientheologie im radikalen Pietismus, 2003). Das Wichtige an diesen Überlegungen ist darin zu sehen, dass Petersens schriftstellerisches Werk ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird. Da J. allerdings nur einen Teil ihres umfangreichen uvres heranzieht, sind manche seiner Akzentuierungen im Blick auf das Gesamtwerk dieser Autorin korrekturbedürftig. Dies gilt etwa für folgende Interpretation: "Sie vertrat eine durch und durch individualistische Frömmigkeit. Die Kirche und die Gemeinde kamen bei ihr nicht vor. Alles drehte sich um den einzelnen Glaubenden und sein Verhältnis zu Gott." (16) J. E. Petersen trat für eine Distanzierung gegenüber den herkömmlichen Formen lutherischer Frömmigkeit ein; sie ließ jedoch in allen Phasen ihres Schreibens deutlich werden, dass es ihr um Austausch und gemeinschaftliche Strukturen der Frommen ging. Zwar ist es richtig, dass sie und ihr Ehemann, J. W. Petersen, "Propagandisten der philadelphischen Ideen in Deutschland" (30) waren; sie lehnten jedoch eine Mitgliedschaft in der von der Engländerin Jane Leade gegründeten Philadelphischen Sozietät konsequent ab. J.s Darstellung des Themas Judenbekehrung aus der Sicht J. E. Petersens greift zu kurz, wenn er betont, dass sie "jede Form von Antisemitismus" (36) zurückgewiesen habe. Denn gerade in Bezug auf den von ihm als Beispiel genannten J. P. Späth erweist sich die Vielschichtigkeit der Haltung Petersens gegenüber den Juden: Dessen Konversion zum Judentum kritisierte sie scharf und distanzierte sich daraufhin völlig von ihm.

Das zweite Kapitel dieses Sammelbandes (65-74) widmet sich Beata Sturm (1682-1730), der so genannten württembergischen Tabea. J. zeichnet den Biographieverlauf der vornehmlich in Stuttgart tätigen Pietistin nach, würdigt deren soziales Engagement und skizziert insbesondere ihre Frömmigkeitspraxis. - Die folgenden beiden Kapitel (75-91; 93-116) richten den Blick auf Johann Albrecht Bengel (1687-1752). Während im ersten dieser Beiträge Bengels theologisches Werk im Rahmen eines biographischen Überblicks verortet wird, wendet sich der zweite einem zentralen Aspekt von Bengels Eschatologie zu. J. beklagt die weit verbreitete "Unkenntnis", die in Bezug auf die Bedeutung des Jahres 1836 für Bengels eschatologisches Denken herrsche (81). "Bengel erwartete für 1836 keineswegs ... das Weltende. Auch die Wiederkunft Christi zum Gericht über Lebende und Tote hat er nicht mit diesem Jahr verbunden, sondern den Beginn einer langen, glücklichen Wohlstands- und Friedensperiode in dieser Welt, den Beginn des Reiches Gottes ... auf der Erde." (81) Bengel habe "eine klare, in sich geschlossene Konzeption" (96) vertreten, die von zwei tausendjährigen Phasen ausging; erst nach deren Ablauf habe er mit der Wiederkunft Christi gerechnet. J. unterstreicht, dass Bengel vor allem "biblische Begriffe" (102) benutzte, um seine postmillenaristische und dichiliastische Position zu beschreiben. Der zweite Teil dieses Aufsatzes verfolgt Rezeption und Veränderung des Bengelschen Denkansatzes bei dessen Schülern und Anhängern, insbesondere bei Christoph Karl Ludwig von Pfeil, Friedrich Christoph Oetinger, Philipp Matthäus Hahn und Johann Jakob Friederich.

Der sich anschließende Beitrag (117-145) gehört zum Komplex der zeitgenössischen Aufarbeitung der Hinrichtung des Stuttgarter Hofjuden Joseph Oppenheimer, genannt "Jud Süß", im Jahr 1738. J. gelingt der Nachweis, dass ein anonym überliefertes Manuskript, das diesen Vorfall theologisch reflektiert und kommentiert, dem Stuttgarter Arzt Dr. Johann Kayser (1680- 1765) zugewiesen werden kann. Kayser wird als Vertreter des radikalen Pietismus charakterisiert, dessen "Gedankenwelt ... deutlich die große Nähe des radikalen Pietismus zur Aufklärung" unterstreicht (144).

Dem Begründer der Herrnhuter Brüdergemeine, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760), wenden sich die folgenden zwei Aufsätze zu. Unter der Fragestellung nach Zinzendorfs Verständnis von Christentum und Religion bietet J. eine überblicksartige Einführung zu grundlegenden Theologoumena des innovativ wirksamen Grafen (147-157). Die Ausführungen zum letzten Besuch Zinzendorfs in Tübingen im Jahr 1757 (159-166) beleuchten sowohl die Erfolge als auch das Scheitern bei der Ausbreitung des herrnhutischen Beziehungs- und Kontaktnetzes.

Eine kleine Miszelle (167-170) erläutert die Reserve des württembergischen Theologen Magnus Friedrich Roos (1727- 1803) gegenüber den Bestrebungen der Basler Christentumsgesellschaft, auch in anderen Regionen feste organisatorische Verbindungen zu knüpfen. Roos teilte die Anliegen der Basler Freunde, er suchte jedoch nach eigenen Wegen zur Bekämpfung neologischer Ideen.

Einer der umfangreichsten Aufsätze befasst sich mit den Anfängen der Tierschutzbewegung im 19. Jh. (171-215). J. ordnet das Wirken von zwei württembergischen Pfarrern, Christian Adam Dann (1758-1837) und Albert Knapp (1798- 1864), in den deutschen und europäischen Kontext einer beginnenden Aufmerksamkeit für Tiere als schützenswerte Geschöpfe ein.

J.s Studien zum Pietismus werden abgerundet durch einen Reisebericht der Schweizerin Anna Schlatter (1773-1826), die 1821 Vertreter der Erweckungsbewegung in Deutschland besuchte (217-264). Die Veränderung gegenüber der bereits durch J. herausgegebenen und kommentierten Fassung besteht darin, dass dieser Neudruck "in der wissenschaftlichen Arbeit zitierfähig" (217, Anm. *) ist, da er die Erstausgabe von 1865 wieder zugänglich macht und keine modernisierte Überarbeitung darstellt.

Die in diesem Band versammelten Aufsätze geben einen gut lesbaren Einblick in gegenwärtig relevante Themen der Pietismusforschung. Einige der von J. zu Grunde gelegten historiographischen Kategorien bedürfen allerdings einer kritischen Debatte, die hier nur an einigen Punkten angedeutet werden kann. Wenn J. in Bezug auf das Ehepaar Petersen von einer "partnerschaftlich gestalteten Ehe" (63) spricht, dann werden Erkenntnisse der sozialgeschichtlichen Forschung außer Acht gelassen. Die mittlerweile auch in der Kirchengeschichte rezipierten Ergebnisse der Gender-Forschung sollten unbedingt für die weitere Erschließung der Herrnhuter Gemeindestrukturen in Anwendung gebracht werden; sie stellen jedoch kein geeignetes Instrumentarium dar, um das Denken Zinzendorfs zu erhellen (147). Fraglich scheint mir ebenfalls zu sein, ob Zinzendorf den "modernen Ökumenismus" antizipierte (152) und deshalb als "durchaus revolutionär" gelten kann (153). Die Begriffe "Obrigkeitsstaat" und "Überwachungsmaßnahmen" (166) erhellen nicht die Motive für den Bericht des Tübinger Pfarrers Faber an das Stuttgarter Konsistorium über den Besuch Zinzendorfs, da sie dem von J. geschilderten Sachverhalt nicht korrespondieren. Gelegentlich nimmt J. eine Art von Verteidigungshaltung hinsichtlich der von ihm geschilderten Protagonisten ein (116, hier in Bezug auf Bengel). Aufgabe der kirchengeschichtlichen Forschung kann es jedoch nicht sein, irgendjemandem Vorhaltungen zu machen (116), sondern mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die historischen Verhältnisse zu erhellen.