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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

799–802

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Gremels, Georg

Titel/Untertitel:

Die Ethik Philipp Jakob Speners nach seinen Evangelischen Lebenspflichten.

Verlag:

Münster-Hamburg-Berlin-London: LIT 2002. 271 S. gr.8 = Hamburger Theologische Studien, 26. Kart. Euro 20,90. ISBN 3-8258-5834-0.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Im Jahre 1978 legte Jan Olaf Rüttgardt eine Untersuchung über die Ethik Speners vor, die den Anspruch erhob, eine "systematische Gesamtdarstellung der Anschauung Speners von der christlichen Sittlichkeit" zu bieten: Heiliges Leben in der Welt. Grundzüge christlicher Sittlichkeit nach Philipp Jakob Spener, AGP 16, Bielefeld 1978, 23 f.

Schon in dieser Arbeit bildete das große Predigtwerk Speners, vor allem seine "Evangelischen Lebenspflichten", eine wesentliche Grundlage für die Darstellung der Ethik Speners. In dieser neuen Untersuchung wird jedoch der umfangreiche Predigtband: "Die Evangelische[n] Lebens-Pflichten" des Kirchenjahres 1687/88 in der Akzentuierung auf das ethische Hauptwerk Speners herangezogen (64). Dieser Predigtband, der 1692 in Frankfurt/Main erstmals erschien und mit seinen sechs bzw. sieben Auflagen bis in die Mitte des 18. Jh.s hinein wirkte, steht in der Mitte der großen Predigtwerkstrilogie Speners, deren ersten Teil "Die Evangelische Glaubens-Lehre" (1686/87) und deren dritten Teil "Der Evangelische Glaubens-Trost" (1688/89) bilden. Im Verlauf seiner Untersuchung werden jedoch auch andere Werke Speners, besonders seine Theologischen Bedenken, herangezogen.

Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Zunächst wird der "Rahmen für Speners Ethik" abgesteckt, indem der Vf. die Ethik Speners als lutherische Sittenlehre herauszustellen versucht, weil es nicht nur um das gute Handeln, sondern um das gute, d. h. gottselige Leben geht. Er sieht in Spener den ersten Lutheraner, der "nicht nur die objektive Seite des göttlichen Wirkens, sondern auch dessen Folgen für das ethische Subjekt" durchdenkt, "denn nur die wirkliche Veränderung des Menschen durch Gottes heiligen Geist befähigt ihn zum Tun des Guten. So rückt er die mit der Wiedergeburt im Menschen wachsende neue Natur ins Zentrum seiner Ethik" (22). Damit ist auch schon die Hauptthese dieser Untersuchung ausgesagt, die in vielen Variationen auf der Grundlage sorgfältiger und intensiver Predigtinterpretationen mit ausführlichen Zitaten belegt wird. Inwiefern die Ethik zur eigentlichen Mitte der Theologie Speners und zum Streitpunkt zwischen ihm und der Spätorthodoxie werden konnte, sieht der Vf. nicht zuletzt in Speners Persönlichkeit begründet, so dass er verhältnismäßig ausführlich auf Speners Biographie eingeht.

Am Ende des ersten, einführenden Kapitels werden so grundlegende und viel diskutierte Themen wie "Spener als Vater des Pietismus" und das Neue des Pietismus gegenüber der Orthodoxie nur knapp berührt. Der Vf. möchte mit seiner Untersuchung der Spenerschen Ethik "nicht nur die bekannte Antwort geben, dass die Wiedergeburtslehre das Zentrum Spenerscher Theologie und Ethik bildet, sondern sie wird zeigen, wie diese Lehre - und darin liegt das Neue im Vergleich zur Tradition - das Zentrum ist" (42). Gegenüber Rüttgardt und Martin Schmidt, die bei Spener im Vergleich zur Orthodoxie eine inhaltlich neue, die Rechtfertigung inkludierende Wiedergeburtslehre wahrnehmen, deren Entstehung sie auf den Spiritualismus zurückführen, sieht der Vf. Spener lehrmäßig ganz und gar in der lutherischen Orthodoxie verwurzelt, ihm ist es allein um die Applikation der Begriffe des ordo salutis ins Leben gegangen. Damit schließt er sich dem heutigen Forschungskonsens an, der die Differenz zwischen Spener und der Orthodoxie- wie schon Emanuel Hirsch und Albrecht Ritschl - nicht in einer wesentlichen lehrmäßigen Abweichung von der Orthodoxie sieht.

Im zweiten Kapitel wird das umfangreiche Predigtwerk der Evangelischen Lebenspflichten als Hauptquelle für die Darstellung von Speners Ehtik in seiner strukturellen und inhaltlichen Gestalt ausführlich vorgestellt. Damit tritt das Neue in Speners Theologie in mehrfacher Hinsicht hervor. Mit seiner systematischen Trilogie in den drei großen Predigtwerken über die Glaubenslehre, die Lebenspflichten und den Glaubenstrost legt er eine "dreifach differenzierte Theologie von Dogmatik, Ethik und Frömmigkeit als umfassende Entfaltung des einen Evangeliums" vor, was auch im Vergleich zur Tradition neu ist (55 f.). Nicht nur die Unterscheidung von Dogmatik und Ethik in der Nachfolge von Calixt sei für Spener charakteristisch, sondern mit seinem dritten Teil des Glaubenstrostes habe er erstmals innerhalb der lutherischen Orthodoxie einen neuen Hauptteil im Ganzen der Theologie herausgestellt, "der ausschließlich der Applikation des Evangeliums und somit der Glaubensstärkung gewidmet ist" (ebd.). Die mittlere Stellung der "Lebenspflichten" in der Predigttrilogie bringe auch die eigentliche Mitte seiner Theologie in der Ethik zum Ausdruck, die auf dem Evangelium und seinen Auswirkungen in der Person begründet ist. Theologisch sei die Ethik Speners in der Pneumatologie, nicht mehr wie in der Orthodoxie in der Lehre vom Gesetz begründet und anthropologisch auf der Wiedergeburt als dem neuen Leben aus lebendigem Glauben (80 f.). Das zweite neue Element in der Ethik Speners sieht der Vf. in seinem Verlassen des dekalogischen Aufbaues der Ethik, indem er neben der Gottes- und Nächstenliebe einen neuen dritten Bereich in der ordentlichen Selbstliebe deklariert. "Er begreift die Person des Menschen nicht mehr nur aus der negativen Perspektive der Selbstverleugnung, sondern aus der positiven, die in der wiedergeborenen und neuen Natur begründet ist" (94).

Der neuen Natur in Speners Ethik ist das dritte Kapitel gewidmet. Um in Speners ethischem Denken sowohl die Treue zur Orthodoxie sowie die neuen Elemente aufzuzeigen, wird am Beispiel von Johannes Habermann (1516-1590) die Aporie in der weiteren Entwicklung der orthodoxen Sittenlehre zu verdeutlichen versucht. Im Anschluss an Traugott Kochs Darstellung der Predigten dieses frühorthodoxen Theologen wird sie in dem unausgeglichenen Nebeneinander göttlicher Gnade und des vom Menschen geforderten Tuns gesehen. "Die neue lutherische Freiheit des Handelns aus dem Glauben führt nicht zu einer im Vergleich zum Katholizismus höher stehenden Sittlichkeit ... Die Predigt einer sich auf die Rechtfertigung Gottes fixierenden Orthodoxie und ihre unermüdlichen Appelle erreichten das Ziel eines wachsenden, neuen Lebens nicht" (106). Auf Grund dieser Erfahrung habe Spener sowohl die Möglichkeit wie die Notwendigkeit der realen Erneuerung des Menschen aufgezeigt, die er einerseits in dem Begriff der Erleuchtung durch den Heiligen Geist beschreibt und andererseits und zentral in seiner Lehre von der Wiedergeburt. Anhand einer einzigen Predigt aus den "Lebenspflichten" über die Pflichten der Wiedergeburt und Erneuerung am Trinitatisfest über Joh 3,1- 15 wird sodann detailliert die Wiedergeburt als ethische Grundlegung bei Spener dargestellt.

Im vierten Kapitel wird die materiale Ethik Speners entfaltet. Über die Gottesliebe in der Sonntagsheiligung, die Pflichten der Nächstenliebe - hier ist besonders charakteristisch die Pflicht zu geistlichen Gesprächen- geht die Darstellung weiter zur Entstehung des ersten Collegium pietatis, zu den Pflichten der drei Stände und schließlich zu den Selbstliebepflichten. Hier wird die Selbstliebe am Beispiel der Sparsamkeit und einer maßvollen Lebensführung verdeutlicht.

Im fünften Kapitel kommen unter dem Titel "Auswertung und Kritik" zu den bisherigen detaillierten Textanalysen zentrale Themenschwerpunkte zum Ausdruck: Speners Zukunftserwartungen, sein Weltverhältnis und Verständnis der Adiaphora sowie Grundzüge seiner Anthropologie und schließlich "die Liebe als Mitte der Ethik Speners" als ein zusammenfassender Rückblick auf Speners Ethik. Im Schlusskapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung noch einmal von der neuen Ethik Speners auf das heute viel diskutierte und schwierig zu fassende Verhältnis von Pietismus und Orthodoxie bezogen. Zwei Anhänge beschließen die Arbeit: Zunächst der Aufbau von Speners Evangelischen Lebenspflichten im Vergleich zu Johann Konrad Dürrs "Compendium theologiae moralis" von 1675, auf das im Verlauf der Untersuchung durch seine zeitliche und sachliche Nähe zu Spener mehrfach verwiesen wird. Und schließlich Speners dogmatisches System nach seiner Predigtreihe "Die Evangelische Glaubens-Lehre" nach seiner im Anhang der Glaubenslehre befindlichen "Sciagraphia Doctrinae Fidei Evangelicae".

Es ist zu begrüßen, wenn im Rahmen der Systematischen Theologie so detailliert und sorgfältig auf ein so bedeutendes Predigtwerk wie die "Lebenspflichten" Speners eingegangen wird. Das zeigt zunächst die beklagenswerte Tatsache, dass von kirchenhistorischer Seite auf die großen Predigtwerke der Frühen Neuzeit und insbesondere Speners trotz mancher Bemühungen noch viel zu wenig Aufmerksamkeit gerichtet wurde. Die Untersuchung des Vf.s über die Ethik Speners nach seinen Evangelischen Lebenspflichten stellt Bekanntes, aber auch neu akzentuierte Aspekte in Speners ethischem Denken quellennah und durch die reichhaltigen Zitate auch nachprüfbar heraus. Mit ihrer Grundthese, dass das Neue in Speners Ethik im Vergleich zur Orthodoxie nicht in einer inhaltlich neu akzentuierten, vom Spiritualismus beeinflussten Wiedergeburtslehre beruhe, sondern in einer durch den heiligen Geist bewirkten realen Veränderung der Person, d. h. in der neuen Natur des Menschen aus der Wiedergeburt als Bedingung der Möglichkeit zu eigenständigem sittlichen Handeln - mit dieser Perspektive wird die Untersuchung gewiss wie schon seinerzeit die Arbeit Rüttgardts in die Spenerforschung hineinwirken.

Aus kirchenhistorischer Perspektive bleiben mir jedoch bei der Aussage, nicht das Was, sondern das Wie der Lehre sei bei Spener das Neue gegenüber der orthodoxen Tradition, nach wie vor Bedenken.

Zwei Sätze stehen beim Vf. nahe beieinander, die die großen Schwierigkeiten im Verhältnis von Orthodoxie und Pietismus gerade auch im Bezug auf das Neue in Speners Ethik markieren: "Die Lebendigkeit und Wirksamkeit des Glaubens gehören ebenfalls zum Allgemeingut lutherisch-orthodoxer Theologie." "Die zentrale Intention des Pietismus ist das Dringen auf die Wirklichwerdung der Gnade im Menschen" (242). Wenn zu Spener gesagt wird, dass er als erster Lutheraner nicht nur die objektive Seite des göttlichen Wirkens, sondern auch dessen Folgen für das ethische Subjekt durchdacht habe (22), so muss man fragen, ob dies nicht auch schon für viele Theologen im Umkreis von Johann Arndt und anderen Vertretern der Frömmigkeitsliteratur im orthodoxen Zeitalter gilt. Auch die kritische Reaktion der Spätorthodoxie auf Speners Insistieren auf der Auswirkung objektiver Wahrheit in der subjektiven Existenz ist eine nicht erst zu Speners Zeiten auftretende Kontroverse in der lutherischen Theologie, sondern sie hat schon im frühen 17. Jh. z. B. in den Arndtschen Streitigkeiten ihre zeitgebundene, aber strukturell ähnliche Vorläufergestalt. Diese Kontroverse als einen "Gegensatz zu einer späten Buchstabenorthodoxie" (22) zu bezeichnen, ist fragwürdig.

Im Vorwort wird gesagt, dass nur diejenige Literatur hinzugezogen wurde, die unmittelbar dem Verstehen von Speners Ethik dient (9). Aber im Blick auf die Standespflichten bei Spener wäre eine Hinzuziehung der Untersuchung von Martin Kruse, Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte, AGP 10, Witten 1971, und für Speners Ethik insgesamt die Arbeit von Inge Mager, Georg Calixts theologische Ethik und ihre Nachwirkungen, SKGNS 19, Göttingen 1969, durchaus sinnvoll gewesen. Auch sonst ist auffallend, dass mehrfach nur auf ältere Literatur zurückgegriffen wird. Bei der Thematik des Weltverhältnisses bei Spener konnte ich bei der Kritik des Vf.s an Rüttgardts These von der "Weltenthaltung" und "Weltgestaltung" bei Spener keine wesentlich neuen Erkenntnisse wahrnehmen. Auch der Vf. muss schließlich "einen letzten Gegensatz zwischen selbstbezogenem und gottverbundenem Gebrauch der Schöpfung" bei Spener konstatieren (209).

Diese systematisch orientierte Arbeit zu Speners Predigtwerk wird hoffentlich zu weiteren kirchenhistorisch notwendigen Untersuchungen zu Speners Predigten und den Predigtwerken der Frühen Neuzeit ermuntern.