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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

793–795

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Martina

Titel/Untertitel:

Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters.

Verlag:

Stuttgart: Thorbecke 2001. 336 S. gr.8 = Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 19. Lw. Euro 40,00. ISBN 3-7995-5719-9.

Rezensent:

Irene Dingel

Matthias Flacius Illyricus, der ehemalige Schüler Luthers und Melanchthons in Wittenberg und spätere verbissene Gegner des "Praeceptor Germaniae" sowie Propagator einer sich ausschließlich an Luther orientierenden Lehre, ist bisher überwiegend von theologischer Seite in den Blick genommen worden. Nur wenige Untersuchungen haben sich unter mediävistischem Aspekt diesem vielseitigen Gelehrten des 16. Jh.s genähert. Dieses Ungleichgewicht in der Forschung will die von Martina Hartmann vorgelegte Regensburger Habilitationsschrift ausgleichen, wobei die quellenkundliche Fragestellung nach den kirchengeschichtlichen Forschungen des humanistisch geprägten Theologen Flacius im Vordergrund steht. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, - nach einem Blick auf die durch den Buchdruck und die Reformation geschaffenen Voraussetzungen für die kirchengeschichtlichen Forschungen des Flacius - über die persönlichen Kontakte des Gelehrten und dessen Briefwechsel Arbeitsweise und Intentionen zu klären sowie das von ihm unterhaltene wissenschaftliche Beziehungsgeflecht zu erhellen. Die daran anschließende Analyse der Bibliothek des Flacius verschafft Auskünfte über dessen historische Kenntnis als wesentliche Voraussetzung für seine Tätigkeit als Editor. In dieser Hinsicht rückt vor allem der "Catalogus testium veritatis" in das Zentrum des Interesses, der als Vorstufe zu der mit den Magdeburger Centurien vorliegenden "Historia ecclesiastica" anzusehen ist und auf dessen Grundlage die Vfn. eine Würdigung der Editorentätigkeit des Gelehrten vornimmt.

Die solide und historisch klar entfaltete Untersuchung gewährt Einblick in die Arbeitsmethodik des Flacius, der auf die in der Frühen Neuzeit entstehenden großen Kompendien des Wissens und auf Schriftstellerkataloge zurückgreifen konnte. Nach Art der Humanisten - so erfährt man - stellte er zunächst einen "Catalogus librorum ad scriptionem historiae necessariorum" als Suchliste jener Autoren und Werke zusammen, die entweder gedruckt oder - häufiger - ungedruckt für eine Edition in Frage kamen. Der bei solchen historischen Arbeiten im Humanismus noch vorherrschende nationale Aspekt trat jedoch bei Flacius zu Gunsten einer an konfessionellen Gesichtspunkten ausgerichteten Geschichtsbetrachtung zurück. Über ausgiebige Bibliotheksreisen und Handschriftenstudien erwarb sich der Kroate eine fundierte Quellenkenntnis, die auch durch seine weitreichende, übrigens bis heute unedierte Korrespondenz erweitert wurde. Bücher- und Handschriftensammler wie der pfälzische Kurfürst Ottheinrich oder Ulrich Fugger und viele andere standen Flacius in seinem Bemühen um Beschaffung und Ausleihe von Quellen zur Seite. Wichtig wurde vor allem der humanistisch gebildete Jurist und einstige Student bei Melanchthon und Flacius, Caspar von Nidbruck, der in Diensten Maximilians II. stand. Die in Fässern verpackten Codices wurden von Wien nach Regensburg verschifft, wo bei Nikolaus Gallus, dem theologischen Gesinnungsgenossen des Flacius, eine Zeit lang das Zentrum der Arbeit an den so genannten "Magdeburger Centurien" lag, an deren Vollendung bekanntlich letzten Endes Johannes Wigand in Wismar den größten Anteil hatte. Nur die kurze Entstehungsphase der Centurien, so ruft die Vfn. in Erinnerung, war mit Magdeburg verbunden. Und Flacius erwies sich im Blick auf die historische Arbeit des Wigand an dem Werk auch nicht gerade als kooperativ, denn er hatte nach seinem Weggang aus Magdeburg die von ihm gesammelte Bibliothek mitgenommen, so dass Wigand aus eigenen Mitteln einen Bücherfundus für die Centurienarbeit zusammenstellen musste. Freilich hatten sich die beiden unterdessen wegen der eigentümlichen Erbsündenlehre des Flacius dauerhaft entzweit.

Der Schwerpunkt der Untersuchung aber liegt auf den quellenkundlichen Betrachtungen. Interessant ist die Entstehung der heute zum überwiegenden Teil in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel beheimateten Büchersammlung des Flacius, die die Vfn. nach Bibliotheks- bzw. Herkunftsorten nachzeichnet. In dem Büchersammler und Editor - so stellt die Untersuchung heraus - kommen der Humanist und der kompromisslose Kämpfer für das evangelische, an Luther orientierte Bekenntnis zusammen. Seine unermüdliche Suche nach Quellen und seine umfangreichen Widmungsvorreden bei Einzeleditionen erweisen ihn als Humanisten, die Auswahl und Zusammenstellung der im "Catalogus" edierten Texte zeigen ihn als Kritiker der Papstkirche und Propagator der Lutherschen Reformation. Die Arbeit macht deutlich, wie Flacius auf dem Hintergrund seiner konfessionell geprägten und in die vergangenen Jahrhunderte rückprojizierten Sicht der Geschichte zu einer kritischen "relecture" der mittelalterlichen Quellen kommt, womit er, vermittelt durch eine breite Rezeption, einen bis heute spürbaren Einfluss ausgeübt hat. Überhaupt sind manche Quellen nur durch Flacius' Editorentätigkeit unserer Kenntnis zugänglich. Seine Arbeit, so weist die Vfn. nach, habe wichtige Werke vor dem Untergang und der Vergessenheit gerettet.

Nur kurz soll an dieser Stelle die akribische quellenkundliche Analysearbeit der Vfn. am "Catalogus testium veritatis" erwähnt werden, die aufweist, welche intensive und erstaunliche Kenntnis Flacius von den mittelalterlichen Quellen im Einzelnen hatte. Dazu dient ein Vergleich der Ausgaben von 1556 und 1562, der auch darüber Aufschluss gibt, welche Texte Flacius selbst kannte und besaß, was er edierte und kommentierte. Dabei kommen auch die Unterschiede in der Anlage der nach der Loci-Methode organisierten Magdeburger Centurien und des strikt chronologisch vorgehenden "Catalogus testium veritatis" zur Sprache, der die Wahrheitszeugen Epoche für Epoche behandelt und durch gezielte Selektion wertet. Auch damit hat Flacius heutiges Geschichtsverständnis prädisponiert, wie sich z. B. an der Bonifatiusinterpretation zeigt oder an dem durch Flacius geprägten, bis in die Gegenwart fortwirkenden Konzept des "Reformators vor der Reformation".

Weiterführend und aufschlussreich ist darüber hinaus der Blick auf den quellenmäßig unterschiedlichen Gehalt von Catalogus und Centurien, die beide in der angewandten Methodik deutlich die Melanchthonschülerschaft des Flacius zeigen. Freilich war Flacius lediglich zu Beginn als Organisator an den Centurien beteiligt, die sich sehr bald sowohl vom Organisatorischen als auch von der Abfassung der Texte her von ihm emanzipierten. Die in den Centurien angewandte Loci-Methode führte, anders als in dem chronologisch und personenorientiert angelegten Catalogus, zu einer Zerstückelung der zitierten Quellen, die auf Grund des thematischen Gliederungsprinzips dann auch durchaus an verschiedenen Stellen auftauchen konnten. Außerdem griffen die Centuriatoren - notgedrungen - immer mehr auf den Quellenfundus des Catalogus zurück, zumal sich Flacius von dem Unternehmen abgewandt hatte und die Beschaffung von Quellen schwierig war. Für die Kirchengeschichtsforschung aber kann die Bedeutung der Centurien, sowohl was die Methodik als auch die Hermeneutik und die Quellensättigung angeht, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Darin sieht die Vfn. zu Recht den Grund dafür, dass man die Bedeutung des Flacius bisher eher von den durch ihn initiierten Magdeburger Centurien her gesehen und seine mediävistische Kompetenz in Interpretation und Edition übersehen hat. Es ist deshalb ein großes Verdienst der Untersuchung, nachgewiesen zu haben, welch große Bedeutung dem streitbaren Theologen gerade auch für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte zukommt: Der aus Kroatien stammende Humanist steht mit seinem "Catalogus testium veritatis" sowohl am Anfang einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der lateinischen Literatur des Mittelalters als auch am Beginn der historischen Quellenkunde überhaupt.

Die in ihrer Konzeption klare und in ihrer Argumentation überzeugende Untersuchung ist nicht nur ein Musterbeispiel für genaues historisches Arbeiten, sondern zugleich auch eine flüssig und interessant zu lesende Darstellung des "Mediävisten", Quellensammlers und Editors Flacius. Damit erhält die derzeit herrschende "Flacius-Begeisterung" auf dem Gebiet der historischen Theologie eine wichtige Ergänzung. Der Band enthält im Anhang ein Verzeichnis der Bibliothek des Matthias Flacius Illyricus sowie darüber hinaus eine Edition von zehn unedierten Briefen der Salier- und Stauferzeit "aus der Werkstatt der Magdeburger Centuriatoren".