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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

786–789

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Thorsteinsson, Runar M.

Titel/Untertitel:

Paul's Interlocutor in Romans 2. Function and Identity in the Context of Ancient Epistolography.

Verlag:

Stockholm: Almqvist & Wiksell 2003. XIV, 283 S. 8 = Coniectanea Biblica. New Testament Series, 40. Kart. SEK 304,00. ISBN 91-22-02047-0.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Paulus wendet sich im Römerbrief in 1,5-7; 11,13 direkt an Christen paganer Herkunft und stellt sich in 1,5.13; 11,13; 15,15 f. betont als Apostel der Heiden vor. In anderen Abschnitten hingegen scheint er Christen jüdischer Herkunft im Blick zu haben (1,16; 4,1; 7,1; 15,7), in 2,17 nimmt er gar eine Diskussion mit einem Gesprächspartner auf, dessen Hintergrund als jüdisch erscheint.

Dieser Befund hat in der Vergangenheit unterschiedlichste Erklärungsmodelle hervorgerufen und zugleich weiterführende Erwägungen zum Abfassungszweck des Römerbriefs angeregt. Während Ferdinand Chr. Baur die Judenchristen als die eigentlichen Gesprächspartner erachtete, geht die neuere Wissenschaft mehrheitlich davon aus, dass Paulus die römischen Juden- und die Heidenchristen gleichermaßen anredet und zur gegenseitigen Annahme ermahnt (Röm 15,7). Für Walter Schmithals hingegen rief der exegetische Befund unterschiedlicher Adressierung nach einer literarkritischen Lösung, der zufolge sich Brief A ausschließlich an die Heidenchristen richte, ein ihm folgender Brief B hingegen ein Lehrschreiben sei und eine Diskussion mit der Synagoge führe.

Runar Thorsteinssons unter der Anleitung von Birger Olsson in Lund gefertigte Dissertation nimmt einen weit ausholenden Anlauf - from the whole to the part (10) -, um im Blick auf die Frage, welchen Gesprächspartner Paulus in Röm 2,1-5 und 2,17-29 im Blick hat, eine von der mehrheitlichen Position erheblich abweichende Antwort zu geben und um damit zugleich einen weiteren Beitrag zur Abfassungsproblematik des Römerbriefs beizusteuern. Seine These hat mich in ihrer letzten Konsequenz nicht überzeugt, aus seinem Buch allerdings habe ich viel gelernt. Es stellt in seiner Unbefangenheit, überkommene Sichtweisen in Frage zu stellen und eigene Perspektiven zu entwickeln, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Römerbriefs dar.

Kapitel 1 behandelt Epistolary Structure and Setting of Romans (13-85). Th. wendet sich scharf gegen eine Analyse des Röm nach Maßgabe antiker Rhetorik, da auf diese Weise die unterschiedlichen Voraussetzungen schriftlicher und mündlicher Kommunikation missachtet werden (14-16). Er betont hingegen die Anlehnung an das dreiteilige griechisch-römische Briefschema in Briefeingang, Briefcorpus und Briefschluss. Grundlegend ist die im Briefeingang begründete Beziehung zwischen Absender und Adressat, die in Anlehnung an die offizielle Sprache griechisch-römischer Briefe vorgetragen wird. Das Briefcorpus ist die Gestalt des im Eingang angesprochenen Evangeliums.

Kapitel 2 widmet sich der Intended Audience of Romans (87-122). Kein paulinischer Brief gebe, so Th., so eindeutige Hinweise über den angeschriebenen Adressaten wie der Röm. Es handele sich, wie bereits im Briefeingang angezeigt (Röm 1, 5f.), ausschließlich um Heidenchristen (88). Weder externe noch interne Argumente, die umfassend vorgetragen werden, könnten die Sicht, dass Paulus sich auch an Judenchristen wende, unterstützen (90). Grundlegend für diese These ist die Unterscheidung zwischen einer "potential knowledge of Roman Christianity" einerseits und "people addressed in Paul's letter" andererseits (100; auch 121 u. ö.). Nachvollziehbar ist auch das mit Blick auf den Galaterbrief gewählte Argument, dass die vielfältigen Ausführungen über Juden und Judentum, zu denen auch die vielen Schriftzitate und -anspielungen zählen, die Adressaten nicht zu Judenchristen machen (114.116). Merkwürdig mutet die weitgehende Zurückweisung und Einarbeitung weiterer Kenntnisse über die Situation der römischen Christen im 1. Jh. an. Bereits in diesem Abschnitt geht Th. auf die/den Gesprächspartner in Röm 2-4 ein - "a fictious individual whose participation in the discourse is meant to say something to the audience" (116) - und diskutiert weitere Aussagen, die sich scheinbar an Judenchristen wenden (1,16; 4,1; 7,1; 15,7). Mit Stanley K. Stowers erkennt Th. "a fictious debate with a Jewish teacher" (116), deren präzise Funktion im Schlusskapitel bestimmt wird. Es wird also ein judenchristlicher Anteil in der von Paulus angeschriebenen Gemeinde vor allem mit Blick auf den Briefeingang bestritten, dennoch für diese Gemeinde die Vermutung geäußert, dass "those non-Jews ... had been or still were operative within a Jewish community in Rome" (121).

Kapitel 3 geht von der formalen und funktionalen Stellung eines Gesprächspartners innerhalb der Diatribe aus, fragt dann aber präziser nach den epistolary interlocutors in Greco-Roman antiquitiy. Obwohl hier der eingeführte Gesprächspartner stets eine individuelle Person sei, repräsentiere er doch öfter einen größeren Adressatenkreis. Daher können auch im Römerbrief die vielfältigen Anreden an einen individuellen Gesprächspartner (vgl. die Zusammenstellung 146) auf die Gemeinde bezogen werden, deren Fragen und Ansichten in den Einwürfen des Gesprächspartners aufgenommen werden. "As a rule, the interlocutor is meant to speak for or represent the letter's recipient(s) and thus to function as an object of identification for the latter" (150; auch 141). Aus dieser Funktionsbestimmung des epistolary interlocutor folgt für Th. zwingend, "that the interlocutor remains identical throughout these chapters ..." (150).

Nach diesem durchaus lehrreichen, sich über 150 Seiten erstreckenden Anlauf kommt Th. im Schlusskapitel zum eigentlichen Thema, der Bestimmung von Paul's interlocutor in Romans 2 (150-242). In Röm 2,1-5 spricht Paulus in der 2.Person Singular den Gesprächspartner direkt an, wählt aber zunächst in 2,1 die denkbar unspezifische Anrede anthrope (vgl. aber bereits anthropos in 1,18). In 2,17-29 hingegen nimmt er einen erneuten Anlauf in der 2. Person Singular mit sy Iudaios eponomaze. Th. liegt nun an dem Nachweis, dass es sich hierbei a) in keiner Weise um die Einführung unterschiedlicher Gesprächspartner handelt und dass b) der Gesprächspartner sich wohl Jude nennt, demnach aber nicht notwendig Jude ist (159). Th. arbeitet in Röm 2 die stilistischen Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in beiden Textteilen heraus, um zu folgern, "that Paul's address in 2:17-29 is a direct continuation of the preceding text, and that the same interlocutor is involved throughout the chapter" (159). In welchem Verhältnis steht Röm 2 als Anrede eines heidnischen (d. h. heidenchristlichen) Gesprächspartners zur Anklage der Heiden in Röm 1,18-32? Dieser Text repräsentiert charakteristische jüdische Verwerfungen der heidnischen Welt, die Paulus teilt und die er den heidnischen Lesern in Rom in Erinnerung ruft. Der in Röm 2,1 eingeführte heidenchristliche Gesprächspartner steht also ebenfalls unter dem Todesurteil dieser Anklage der heidnischen Welt. Sein Richten anderer Heidenchristen überspielt seine eigene Verurteilung. Dieser heidenchristliche Gesprächspartner nennt sich nach Röm 2,17 Jude - "a series of factors suggest in fact that the interlocutor is envisaged not as a (native) Jew but as a person of gentile origin who wants to call himself a Jew" (245). Ein entscheidendes Argument für dieses linear reading von Röm 1-2 besteht für Th. darin, die Konjunktion dio in Röm 2,1 streng als Folgerung auf Röm 1,18-32 zu beziehen (177-188) und also Anklage der heidnischen Welt und Anrede des Gesprächspartners konsequent aufeinander abzustimmen: "This means ... that 1:18-32 as a whole provides the cause (dio) for the interlocutor in 2:1 being without excuse when he judges others" (179).

Th. spitzt nun diese Überlegungen zu einer, wie mir scheint, recht gewagten, aber in der Logik der Argumentation dann doch konsequenten These zu. Nach seiner Sicht steht dieser fiktive heidenchristliche Gesprächspartner für die von Paulus angeschriebenen Heidenchristen in Rom. Der Gesprächspartner wird vorgestellt als Proselyt oder zumindest als potentieller Proselyt. "The interlocutor, whose identity as a proselyte (i. e. a circumcised gentile) is sometimes blurred, is singled out as a potential, imaginery representative of the audience" (233). Er sucht der Anklage der heidnischen Welt (Röm 1,18-32) dadurch zu entgehen, dass er eine heidenchristliche Ausrichtung verdammt (Röm 2,1) und zugleich mit der Übernahme der Beschneidung (Röm 2,25-29) die Konversion zum Judentum vollzieht. "Rather, Paul is making use of an imagery gentile interlocutor in order to persuade his gentile audience that the proper path for them to salvation is not through physical circumcision. They are not to become Jews in order to be saved on the day of judgement" (246).

Die Weichenstellung für diese These vollzieht Th. mit den Grundentscheidungen der einleitenden Kapitel. Die These einer Adressierung des Römerbriefs ausschließlich an eine heidenchristliche Gemeinde in Rom ist nach meiner Sicht mit dem im Präskript vorgetragenen Anspruch wohl zu vereinbaren, wird aber doch im weiteren Römerbrief und m. E. bereits spätestens ab 2,17 einfach nicht konsequent durchgehalten. Th. trägt diesem Sachverhalt dadurch Rechnung, dass er die Unterscheidung einführt zwischen einerseits römischen Christen und ihrem Umfeld allgemein und andererseits der speziell angeschriebenen Gemeinde (100.121.244 u. ö.). Klassische Argumente für die Annahme einer gemischten Gemeinde wie etwa die in Röm 14,1-15,6 verhandelte Thematik zwischen Starken und Schwachen werden von Th. von jeglicher situativer Abzweckung ferngehalten (96 f.). Wenn eine heidenchristliche Adressierung in solcher Ausschließlichkeit auch von ihren epistolographischen Voraussetzungen im Präskript her bestimmt wird, dann kann der Gesprächspartner im Sinn der These nur Heidenchrist sein. Sein jüdisches Auftreten muss dann, wiederum in der Konsequenz der These, proselytisch erklärt werden.

Die Annahme, Paulus wolle in Röm 1,18-3,20 die Sünde der gesamten Menschheit, der Heiden in 1,18-32 und der Juden in 2,1-3,20 ansprechen, um auf diesem Hintergrund die universale Möglichkeit des rechtfertigenden Glaubens darzulegen, wird also nicht von der Sache her, aber von einer diesbezüglichen Ableitung aus Röm 1-3 kräftig in Frage gestellt. Auch Röm 3,9 wird nicht im Rückblick auf eine Anklage des Juden in Röm 2 bezogen, sondern (im Sinn von Gal 3,22) als vorwegnehmende Einführung in das Zeugnis der Schrift über die Verfehlung aller Menschen, so dass auch Röm 3,9 nicht als Beleg für die Anrede eines jüdischen Gesprächpartners in Anspruch genommen werden kann (235 f.).

Über dies alles wird man streiten können. Hingegen erscheint mir Th.s These in ihrer letzten Konsequenz an den Text herangetragen zu sein. Der als heidenchristlich bestimmte interlocutor soll die gesamte, von Paulus angeschriebene Gemeinde repräsentieren, die wie er in der Versuchung steht oder ihr bereits erlegen ist, den Weg des Proselytentums zu beschreiten, um typisch jüdischen Vorwürfen über die heidnische Lebensweise aus dem Weg zu gehen. Die Beschneidungsfrage spielt im gesamten Röm nur eine untergeordnete Rolle. Andere Aspekte von Konversion zum Judentum fehlen im Briefganzen durchgehend. Die galatische Problematik scheint von Th. in den Röm hineingelesen worden zu sein, ohne wahrnehmen zu wollen, dass nur im Gal dieses Thema wirklich und durchgehend behandelt wird.