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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

778–781

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lührmann, Dieter

Titel/Untertitel:

Die apokryph gewordenen Evangelien. Studien zu neuen Texten und zu neuen Fragen.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2004. XII, 292 S. gr.8 = Supplements to Novum Testamentum, 112. Geb. 85,00. ISBN 90-04-12867-0.

Rezensent:

Jens Schröter

Dieter Lührmann, durch zahlreiche Einzelbeiträge sowie durch die Publikation der "Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache" (2000) bestens ausgewiesener Kenner der außerkanonischen Jesusüberlieferung, legt hier eine Dokumentation wichtiger Ergebnisse seiner Forschungen an diesen Texten vor. Dabei greift er zum Teil auf bereits Veröffentlichtes zurück, bereitet es neu auf, steuert weitere Beiträge bei und geht auf die aktuelle Diskussion ein.

Am Anfang steht ein Kapitel, das sich der Genese der Unterscheidung kanonischer und apokrypher - oder, wie L. zutreffender formuliert: kanonisch bzw. apokryph gewordener - Evangelien widmet. L. verweist auf die im 2. Jh. einsetzende Kontroverse um anerkannte (noch nicht: "kanonische") und "apokryphe" Schriften, die allerdings nie Gegenstand eines altkirchlichen Konzils gewesen sei. Eine lehramtliche Regelung habe sie erst im Tridentinum erfahren, nunmehr unter dem Vorzeichen der kontroverstheologischen Frage über das Verhältnis von Schrift und Tradition. Basiert diese Entscheidung auf der Vulgata, ergibt sich aus den antiken und mittelalterlichen Kanonverzeichnissen und Manuskripten ein wesentlich komplexeres Bild.

Im Blick auf die Evangelien konstatiert L. einen mit dem Prolog des LkEv einsetzenden Prozess, eine Form der Jesusüberlieferung als die allein legitime durchzusetzen. In diesen Kontext seien auch im 2. Jh. entstandene Schriften wie Petrus-, Maria-, Thomas-, Hebräer- und Ägypterevangelium, das im 2. Klemensbrief verwendete Evangelium (dessen Existenz freilich umstritten ist), POxy 840 und PEg 2 sowie die Vorlagen der Sophia Jesu Christi und der Epistula Apostolorum einzuordnen. Die Berufung auf das "viergestaltige Evangelium" bei Irenäus, durch Manuskripte aus etwa derselben Zeit gestützt, beurteilt L. als Versuch, unter Rückgriff auf die regula fidei anderweitig kursierende Jesusüberlieferung als "häretisch" auszuscheiden.

L. stellt zu Recht heraus, dass Entstehung von Kanon (als verbindlicher Schriftensammlung) und Glaubensregel gemeinsam zu betrachten sind. Die "inneren" kanonischen Impulse, die zur Abgrenzung anerkannter von "häretischer" Überlieferung geführt haben, hätten dabei stärker gewichtet werden können, zumal erste Spuren des Viererevangeliums eventuell deutlich vor Irenäus liegen.

Die folgenden Kapitel bilden Detailuntersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte einzelner Texte. Die Studie zum Petrusevangelium (= EvPetr) geht kurz auf die altkirchliche Bezeugung sowie den Fund von PCair 10759 (1886/87) ein, widmet sich dann aber vor allem den später entdeckten Fragmenten. L. stellt seine Rekonstruktionen von POxy 2949 und 4009 vor, wobei allerdings im Fall des Letzteren, aus dessen Verso sich kaum ein Text erschließen lässt, die Zuweisung zum EvPetr fraglich bleibt. Das Vorkommen eines Ich-Erzählers, der in Z. 9 und 15 nur mit Hilfe von 2Klem 5,2-4 erschlossen ist, reicht hierfür als Argument kaum aus. Analoges gilt für PVindob G 2325 (das so genannte Fajjum-Fragment), bei dem für die von L. erwogene Zuweisung zum EvPetr ebenfalls die Ergänzung eines im Text selbst nicht erhaltenen Ich-Erzählers eine wichtige Stütze darstellt und eine Parallele auf PCair fehlt. Auffällig ist gleichwohl, dass der Name des Petrus hier durch rote Schrift hervorgehoben, vielleicht auch als nomen sacrum behandelt wird.

Besprochen wird des Weiteren ein Ostrakon mit dem Text, dem auch die Überschrift des Kapitels entstammt ("Petrus, der Heilige, der Evangelist, verehren laßt uns ihn"). Es handelt sich dabei freilich nicht um einen Teil des EvPetr. Bezüglich der Wirkungsgeschichte ist der Hinweis auf die Analogien in lateinischen Manuskripten zu Lk 23,48 bzw. Mk 16,3 aufschlussreich, da diese eine Rezeption des EvPetr im lateinischen Sprachraum bezeugen könnten. Die gelegentlich angenommene Kenntnis des EvPetr durch Justin (von L. offen gelassen) ist dagegen eher unwahrscheinlich.

Kapitel 3 ist dem Mariaevangelium (= EvMar), insbesondere den griechischen Fragmenten (POxy 3525; PRyl 463), gewidmet. Neben einigen interessanten Einzelaspekten bezeugen diese eine Verbindung zwischen der Offenbarungsrede des Erlösers und der Vision der Maria bereits für die griechische Überlieferung, was für die literarkritische Diskussion über EvMar von Bedeutung ist. Auch die im Schlussteil erkennbar werdenden Auseinandersetzungen zwischen Maria und Levi einerseits, Petrus und Andreas andererseits, sind im griechischen Text (PRyl) bezeugt und demnach ins 2. Jh. zu datieren.

Die Studie zu PEg 2 befasst sich vornehmlich mit dem 1987 publizierten PKöln 255. Durch diese Ergänzung zu Fragment 1 von PEg wird eine Verbindung von "synoptischem" und "johanneischem" Stoff belegt und damit die Datierung des Papyrus ins 2. Jh. unterstützt. L. vermerkt hier ausdrücklich die Änderung seiner Position gegenüber der noch im Markuskommentar vertretenen.

Kapitel 5 untersucht die griechischen Fragmente des Thomasevangeliums (= EvThom). Das methodische Problem besteht darin, dass die fragmentarischen Texte häufig mit Hilfe des seinerseits von den synoptischen Evangelien beeinflussten koptischen Exemplars ergänzt werden müssen, was sie "synoptischer" erscheinen lassen kann, als sie tatsächlich waren. L. orientiert sich bei den Ergänzungen deshalb, soweit möglich, an Partikeln, Adverbien, syntaktischen Strukturen und griechischen Lehnwörtern im koptischen Text. Auf diese Weise lasse sich aus den griechischen Fragmenten in Umrissen eine ältere Überlieferungsstufe des EvThom erheben.

Zu Log. 7 (Mensch und Löwe) greift L. auf die frühere Beobachtung einer Analogie bei Didymus von Alexandrien zurück, die das Rätsel der unsinnig erscheinenden zweimaligen Apodosis "und der Löwe wird Mensch" im koptischen Text lösen könnte (die zweite wäre zu streichen).

L. differenziert allerdings zu wenig zwischen POxy 654 und 1 einerseits, 655 andererseits. Bei Letzterem handelt es sich um einen im Nag Hammadi-Text stark verkürzten Dialog Jesu mit seinen Jüngern, dessen Verhältnis zum (koptischen) EvThom anders geartet ist als bei den beiden anderen Papyri. Die Möglichkeit, dass es sich hierbei nicht um eine frühe Version des EvThom, sondern um das Fragment eines anderen Textes handelt, der dann in das EvThom eingearbeitet wurde, wäre deshalb zu diskutieren. Die von L. noch vorausgesetzte Rekonstruktion von Z. 10 f. ist zudem inzwischen als unwahrscheinlich aufgewiesen worden (vgl. NTS 47, 5 f.452 f.).

Ein weiteres Kapitel analysiert zwei Textpassagen bei Didymus von Alexandrien, die die bisherige Kenntnis des Hebräerevangeliums (EvHebr) bereichern könnten. An der ersten Stelle behandelt Didymus das Phänomen mehrerer Namen für dieselbe biblische Person. Dies sei auch bei Matthias und Levi der Fall, wie das EvHebr zeige.

Die Notiz könnte so zu erklären sein, dass das EvHebr eine Parallelüberlieferung zur Episode von der Berufung des Levi enthielt, der dort den Namen Matthias trug. Auf jeden Fall kennt Didymus die Namen Matthäus, Levi und Matthias für den Berufenen. Interessant dabei ist, dass er eine "kanonische" Identifizierung von Matthäus und Levi unter Berufung auf das EvHebr explizit ausschließt und stattdessen Levi und Matthias miteinander gleichsetzt. Die Möglichkeit, dass das EvHebr seinerseits auf dem MtEv beruhen und Matthäus durch Matthias ersetzt haben könnte, wird von L. nicht diskutiert. Die von ihm erwogenen Verbindungen von EvHebr zu weiteren Matthias-Traditionen sind interessant, bleiben allerdings recht vage.

Der zweite Text ist eine als Zitat "aus gewissen Evangelien" eingeführte Version der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin. Der zunächst nahe liegenden - und auch häufig vertretenen - Auffassung, Didymus beziehe sich hier auf das JohEv, widerspricht L. mit guten Gründen. Zum einen weise der Textbefund in eine andere Richtung, denn die Episode findet sich in der Frühzeit nur in der lateinischen, nicht in der griechischen Überlieferung. Dies wird in einem Appendix zur Überlieferungsgeschichte der Episode, der auch Synopsen lateinischer und griechischer Versionen enthält, näher dokumentiert. Des Weiteren könne die Formulierung "gewisse Evangelien" auf apokryphe Evangelien hinweisen. Schließlich sind zwischen der Version des JohEv und derjenigen bei Didymus etliche Differenzen festzustellen, die einen unmittelbaren literarischen Zusammenhang ebenfalls unwahrscheinlich erscheinen lassen. Bezieht man die Notiz Eusebs über die bei Papias aufbewahrte, angeblich aus dem EvHebr stammende Episode über eine vieler Sünden angeklagte Frau in die Betrachtung ein, könnte sich stattdessen nahe legen, dass Didymus die Geschichte aus dem EvHebr und eventuell noch aus einem weiteren apokryphen Evangelium kannte.

Die letzte Textstudie ist den judenchristlichen Evangelien, insbesondere dem Problem des Verhältnisses von Hebräer- und Nazaräerevangelium (= EvNaz), gewidmet. L. zufolge sind die Frage, ob es überhaupt drei selbständige so genannte "judenchristliche" Evangelien gegeben hat, sowie die damit verbundene Unsicherheit in der Zuweisung einzelner Fragmente auf Äußerungen bei Hieronymus zurückzuführen, der keine klare Unterscheidung zwischen EvHebr und EvNaz vollzogen habe. Vielmehr wird erst im 9. Jh. zum ersten Mal ein evangelium Nazaraeorum erwähnt. Bei diesem handle es sich um ein Werk, das im 4. Jh. von den Nazaräern benutzt und als das hebräische Original des MtEv angesehen wurde.

Das letzte Kapitel stellt diese Ausführungen in den Kontext der Diskussion des synoptischen Problems. Hatte Lessing mit der Annahme eines den kanonischen Evangelien vorausliegenden "Evangeliums der Nazarener" an Hieronymus angeknüpft, so verlieren sich dessen Spuren in der Folgezeit durch ein anderes Verständnis der Papiasnotiz über die Logia des Matthäus (Schleiermacher, Holtzmann), die nunmehr zur Basis der Annahme einer zweiten Quelle des Matthäus und Lukas wird. Die Erwartung, in den "judenchristlichen Evangelien" den undogmatischen, "menschlichen" Jesus zu finden, sei damit enttäuscht worden. Allerdings führe auch die Logienquelle nicht unmittelbar an Jesus heran, sondern sei als eine Rezeptionsform der Jesusüberlieferung neben anderen zu beurteilen.

Der Band dokumentiert jahrelange, intensive Arbeit an Texten, die zumeist nicht im Zentrum exegetischer und historischer Forschung stehen. Die gediegenen Studien, die häufig Pionierarbeit bei der Erforschung neu entdeckter Texte leisten, verleihen ihm zudem eine Souveränität, die sich wohltuend von spektakulären, mehr auf Phantasie als auf Kenntnis beruhenden Hypothesen zur außerkanonischen Jesusüberlieferung unterscheidet. Für die weitere Diskussion über die apokryphen Evangelien sind L.s Untersuchungen unverzichtbar.