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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

776–778

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lohse, Eduard

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Römer. Übersetzt u. erklärt v.E. Lohse. 15. Aufl. (1. Aufl. dieser Auslegung).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 423 S. gr.8 = Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 4. Lw. 59,00. ISBN 3-525-51630-4.

Rezensent:

Traugott Holtz

In der ältesten der großen deutschsprachigen wissenschaftlichen Kommentarreihen zum Neuen Testament (bei mir immer noch "Meyers Kommentar") ist nach fast genau einem halben Jahrhundert seit der letzten durch O. Michel (1955) endlich eine Neubearbeitung zum Römerbrief erschienen. Schon das ist angesichts der Erwartungen, die das Ansehen der Reihe nach wie vor erweckt, ein bemerkenswertes Ereignis. Und bemerkenswert ist das vorgelegte Werk denn auch in der Tat. Das gilt sowohl mit Blick auf seine formale Gestalt als auch auf seinen inhaltlichen Gehalt, gleichsam zusammengefasst in der Person seines Verfassers Eduard Lohse. Der Kommentar erscheint ein Jahr vor der Vollendung des achten Jahrzehnts eines Lebens, das in ungewöhnlich intensiver Weise der Arbeit an der Theologie und ihrem eigentlichen Bezugsfeld, der Kirche, zugewendet ist. Die vorliegende Erklärung des Briefes des Apostels Paulus an die christliche Gemeinde in Rom ist die Frucht dieses langen Lebens im Dienst der Vermittlung der christlichen Botschaft; darin jedenfalls ähnelt das Werk seinem Gegenstand, bewusst oder unbewusst sind sie gültige Zeugnisse des Lebenswerkes ihrer Autoren.

Die Konzentration des Kommentators auf den Gegenstand, der sein Lebenswerk bestimmte, tritt zunächst in der bemerkenswerten Kürze seiner Arbeit entgegen. Das ist angesichts der gegenwärtig herrschenden Neigung, Kommentare von unüberschaubarem Umfang zu publizieren, besonders bemerkenswert. Schon dadurch entspricht L. einem wesentlichen Aspekt des von ihm sogleich im Vorwort genannten "Erfordernis, einen wissenschaftlichen Kommentar so abzufassen, daß er sich für die Pfarrerschaft als brauchbar erweisen möge" (7). Wie ein nicht eigens trainierter und interessierter Pfarrer einen vielbändigen Kommentar zu einer einzelnen neutestamentlichen Schrift bei seiner gewöhnlichen Predigt- und Gemeindearbeit einsetzen soll, ist wirklich eine Frage. Dem genannten Erfordernis, das von L. übrigens erst an zweiter Stelle nach der Berücksichtigung der "gelehrten Forschung" genannt ist (ebd.), dient ebenso die inhaltliche Art der Darstellung; sie ist - wie freilich bei ihm gewohnt - von bestechender Klarheit und Geradlinigkeit. Natürlich ist das erkauft durch den Verzicht auf die minutiöse Diskussion aller Möglichkeiten, den Text und die durch ihn provozierten Probleme umfassend zu erörtern. Das bedeutet freilich gerade nicht, dass die wesentlichen Fragen und die mit ihrer Beantwortung verbundenen Schwierigkeiten literarischer, theologischer oder hermeneutischer Art unterschlagen oder verwischt würden. Die wichtige Sekundärliteratur ist übersichtlich und überschaubar (ohne das bei mehrbändigen Kommentaren besonders lästige Aufteilen der Bibliographie in mehrere Kategorien) angegeben, die Auseinandersetzung mit ihr oft exemplarisch und implizit (man erinnert sich ein wenig an die großen Kommentare von Schlatter), immer eindeutig. Das eigene Studium wichtiger differierender Arbeiten ersetzt L. freilich nicht, zwingt dem Leser die Auseinandersetzung mit ihnen aber auch nicht auf.

Bei den zahlreichen (insgesamt 23), meist kurzen Exkursen vermisst man allerdings bisweilen eine etwas detailliertere Information über das Umfeld ihres Gegenstands; das gilt nach meinem Urteil insbesondere mit Blick auf die religions- und traditionsgeschichtlichen Probleme. Behandelt werden in den Exkursen vornehmlich Fragen der (paulinischen) Theologie - oft, wie es der wissenschaftlichen Tradition entspricht, anhand einzelner (griechischer) Begriffe; dazu kommen einige literarische Probleme (Rhetorik, Sprache und Stil, Grußliste Röm 16, Integrität). Es wäre vielleicht besser gewesen, die zentralen theologischen Positionen des Römerbriefes in der Einleitung des Kommentars zusammenfassend zu verhandeln, eben auch unter dem Gesichtspunkt, warum sie und in welcher Profilierung sie von dem Apostel gerade in diesem Text (in durchaus unterschiedlicher Weise gegenüber anderen seiner Briefe) traktiert werden. Damit hätte die für den Apostel elementar wesentliche Art der Theologie und der Verkündigung als eine solche, die den einen und gleichen Gott, der in der Schrift und der in ihr bezeugten Geschichte sich offenbarte und in der Christus-Botschaft, dem Evangelium, end-gültig der (ganzen) Welt entgegentritt, zum Gegenstand hat, in ihrer je nur aktuell sich ereignenden Gestalt noch deutlicher gemacht werden können. Dass der Umgang mit dem Alten Testament (in allen seinen Aspekten) in Röm bei L. nicht in einem eigenen Exkurs thematisch behandelt wird, ist eine bedauerliche Lücke, auch wenn L. durchaus häufiger - und mit abgewogenem und sicherem Urteil! - einzelne der einschlägigen Probleme erörtert.

Die Beurteilung des Briefes insgesamt mag manchem Leser als konventionell erscheinen. Doch ist eben das gerade kein Mangel, sondern entspricht einfach der Wirklichkeit des Briefes. Zu Einzelnem kann man natürlich Fragen haben. Dass Röm im Ganzen in seinem überlieferten Umfang ein einheitlicher Brief an die Christen in Rom ist und Kapitel 16 etwa nicht ursprünglich (sei es in lokaler oder temporaler Hinsicht) einen anderen Adressaten hatte, wird gegenwärtig weithin akzeptiert; auch dass die Schlussdoxologie 16,25-27 nachpaulinisch angefügt worden ist, ist die überwiegende Annahme innerhalb der Forschung. Schwieriger (von L. für "eher wahrscheinlich" als ursprünglich gehalten) steht es mit dem etwas rätselhaft platzierten und motivierten Ausbruch gegen ungenannte Irrlehrer 16,17-20. Dass der Brief von Hause aus mit 16,23 tatsächlich endete, wird gegenwärtig allerdings wieder häufiger in Frage gestellt - wie mir scheint, zu Recht. Dass aber 7,25b nicht ursprünglich an seinem Ort im Brief sei, wird von L. mit guten Gründen bestritten (224 f.; vgl. auch S. 107 zu 2,16!).

Der rhetorischen Analyse, der in der jüngeren Diskussion über den Gehalt der paulinischen Briefe bisweilen geradezu eine Schlüsselstellung zugewiesen worden ist, steht L. (mit Recht) zurückhaltend gegenüber. Das schlägt sich auffällig in den Passagen nieder, die in die Einzelerklärung der Textabschnitte, in die L. den Brief gliedert, einführen. Sie bieten in der Regel keine ausgedehnte Diskussion ihrer rhetorischen oder literarischen Struktur, sondern eine straffe Analyse ihres Inhalts und dessen Einbettung in das inhaltliche Gesamtgefüge des Briefes. Das ist erhellender und hilfreicher als ausgefeilte rhetorisch-formgeschichtliche (Re-)Konstruktionen, die freilich dort nicht fehlen, wo sie zum Verständnis des Textes erforderlich sind (wie S. 417 zu Röm 16,25-27 etwa). Auch stellt L. natürlich nicht den Gebrauch geläufiger literarischer und rhetorischer Stilmittel durch Paulus in Abrede, beurteilt sie aber als gänzlich dem Inhalt und seiner aktuellen Vermittlung untergeordnet; doch "legt es die rhetorisch stilisierte Redeweise im Röm nicht nahe, auf bestimmte Gruppen und Gegner in Rom zu schließen" (55).

Solchem Urteil dürfte die auffällige Zurückhaltung gegenüber der Annahme, Paulus arbeite in seine Texte so genannte "vor"paulinisch fixierte Tradition ein, entsprechen. Dass Röm 1,3 f. oder 4,25 geprägte Tradition anführt, ist natürlich auch ihm sicher. Ebenso nimmt er das für 3,25.26a an, was mir nicht so sicher zu sein scheint (s. die Rekonstruktion S. 133, die durchaus [wegen des zweifachen autu] ihre Probleme hat). In Kapitel 8 aber oder 13,11 ff. etwa findet er sie - zu Recht - nicht. Eine gleiche Zurückhaltung übt er gegenüber der Annahme, dass Paulus ohne ausdrücklichen Hinweis überkommene Herrenworte (z. B. Röm 13,7 oder 14,14) in seinen Text einarbeitet; hier scheint mir ein anderes Urteil möglich zu sein. Wohl aber setzt L. voraus, dass der Apostel eigene frühere theologische Reflexionen aufgreift und auch sich auf "Formulierungen stützen konnte, die in der Unterweisung seiner Schüler und Gemeinden fest geprägte Gestalt erhalten hatten" (46). In diesem in jedem Fall nur unsicher zu bestimmenden Bereich ist freilich denn doch auch mit Einflüssen so genannter "vor"paulinischer Traditionen zu rechnen, auch wenn sie nicht in fester Form reproduziert oder gar kritisch bearbeitet worden sind.

Das Verständnis des Briefes ist nach L. gänzlich geprägt von der Bestimmung seines Ziels, der Gemeinde in Rom "eine gründlich durchdachte Rechenschaft über die Bezeugung des Evangeliums" vorzutragen (45); die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes als der zentrale Inhalt des Evangeliums (Röm 1,16 f.), die "leitende Thematik" des Briefes, verbindet alle seine Teile miteinander, es "wird immer wieder aufgenommen und in Variation auf die einzelnen Themenkreise angewendet" (siehe 54). Die Einzelinterpretation ist dementsprechend (bisweilen wohl zu) streng an dem Gesamtverständnis der paulinischen Theologie orientiert. Das ist bei L. bekanntlich sehr ausgewogen, dem jedenfalls deutschen mainstream seiner Generation verbunden; eine Nähe zur Bultmann-Schule tritt in dem Verständnis von "Sünde" und "Gesetz" (beides in kurzen, entsprechend inhaltlich akzentuierten Exkursen zusammengefasst) deutlich zu Tage und gibt dadurch gelegentlich zu kritischen Erwägungen Anlass. Die Auseinandersetzung mit der "New Perspective on Paul" (Sanders, Dunn, Stendahl u. a.) erfolgt moderat, aber klar kritisch. L. lässt sich nirgends durch attraktiv anmutende, dem Zeitgeist verlockend erscheinende Weisen des Verstehens dazu verführen, die sich ihm als dem Text und seiner Aussage an den Leser als wahr erweisende Auslegung preiszugeben. Das macht den fundamentalen Wert dieses Kommentars aus, der in seiner Konzentriertheit, durch die er sich dem Leser besonders empfiehlt, ihm gleichwohl die Möglichkeit öffnet, auch andere Weg des Verstehens zu suchen und zu finden.

Mit Respekt und Dank für den Autor und die für die Herausgabe des Bandes Verantwortlichen nimmt man dieses ein Lebenswerk krönende Buch in Empfang, um es mit Gewinn zu nutzen.