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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

773–776

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Knöppler, Thomas

Titel/Untertitel:

Sühne im Neuen Testament. Studien zum urchristlichen Verständnis der Heilsbedeutung des Todes Jesu.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2001. XII, 371 S. 8 = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 88. Geb. 69,00. ISBN 3-7887-1815-3.

Rezensent:

Christian Stettler

Seit 1990 sind mehrere Monographien zur Interpretation des Todes Jesu als Sühne- und Opfertod in Teilbereichen des Neuen Testaments erschienen, so zu Jesus: C. J. den Heyer, Jesus and the Doctrine of the Atonement (London 1998); zu Paulus: W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (Neukirchen-Vluyn 1991), A. J. Tambasco, A Theology of Atonement and Paul's Vision of Christianity (Collegeville 1991) und M. Gaukesbrink, Die Sühnetradition bei Paulus (Würzburg 1999); zum Hebräerbrief: J. Dunhill, Covenant and Sacrifice in the Letter to the Hebrews (Cambridge 1992). Zudem existieren eine Reihe von älteren und neueren englischsprachigen Monographien zur Sühnethematik im gesamten Neuen Testament, so diejenigen von V. Taylor (1954), F. M. Young (1975), M. Hengel (1981), L. Morris (1983) und H. D. McDonald (1994). K.s Arbeit ist die erste Monographie in deutscher Sprache zum ganzen Neuen Testament. Sie wurde im Wintersemester 1998/99 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen und für die Veröffentlichung leicht überarbeitet und aktualisiert. Die Arbeit bietet einen hervorragenden, methodisch differenzierten Überblick über alle biblischen und frühjüdischen Stellen, an denen Sühnevorstellungen vorkommen.

K. verzichtet auf eine Darstellung der Forschungsgeschichte und setzt sich mit anderen (vorwiegend deutschsprachigen) Arbeiten nur im Laufe seiner Darstellung auseinander. Ein Autorenregister wäre von daher wünschenswert gewesen. Querverweise innerhalb der Arbeit hätten manche Wiederholung erspart, und Zusammenfassungen am Ende der einzelnen neutestamentlichen Kapitel, zusätzlich zur sehr klaren und hilfreichen Zusammenfassung am Ende des Buches, hätten die Orientierung erleichtert.

Da in der Forschung nach wie vor stark umstritten ist, in welchem Umfang das Neue Testament den Tod Jesu als Sühnopfer interpretiert, setzt K. methodisch überzeugend beim Alten Testament und Frühjudentum an, um "die inhaltlichen Konstituenten einer Thematik bereit(zu)stellen, für die der entsprechende Begriff im Neuen Testament weitgehend fehlt" (4). Nach K. "(bildet) die Sühnetheologie des Alten Testaments ... die unabdingbare Voraussetzung für das im Neuen Testament explizierte Verständnis von der im Kreuzestod Jesu geschehenen Sühne" (110). Das erste Kapitel ist denn auch ein kompakter, präziser und vollständiger Überblick über die Sühnebelege im hebräisch-aramäischen Alten Testament, in der Septuaginta, den Qumranschriften und im übrigen frühjüdischen Schrifttum. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Sündopfer nach Lev 4-5 und 16, insbesondere auf der Bedeutung seiner Handaufstemmungs- und Blutriten. Dem Passa (das, wie K. überzeugend nachweist, nachexilisch als Sühnopfer verstanden wurde) und Jes 53 (wo nach K. nicht von Sühne die Rede ist) sind eigene Abschnitte gewidmet. Sühne ist nach K., da von Gott gewährt, "ein Heilshandeln Gottes ..., das die aufgrund von Schuld verwirkte Existenz des Menschen dem verdienten Tod entreißt". Es geht also nicht um Beschwichtigung von Gottes Zorn oder um Übertragung von Schuld (wie beim Sündenbockritus und in Jes 53), sondern: "[d]urch die Handaufstemmung identifiziert sich der Opfernde mit dem Opfertier", und so "wird das der Sünde verfallene Subjekt des Opfernden auf das Opfertier übertragen. ... Durch Applikation des Blutes ... an das Heiligtum ereignet sich die Lebenshingabe des Opfernden an das Heilige, kommt der Sünder zu Gott ..., erhält der ... Mensch eine neue Existenz" (101 f.). In seiner Interpretation der alttestamentlichen Belege schließt sich K. also ganz H. Gese und B. Janowski an, lässt aber in fairer Weise auch andere wichtige Interpretationsmodelle zu Wort kommen. In der Septuaginta übernimmt hilaskesthai weitgehend die Semantik von kpr, weitere griechische Äquivalente deuten zugleich "auf eine Erweiterung des Sühnebegriffs hin, die die Vorstellung von Heiligung und Reinigung, Lösegeld und Vergebung impliziert" sowie die Bitte um Gottes Erbarmen. Zudem tritt in den Spätschriften der Septuaginta die "Vorstellung einer Beschwichtigung Gottes oder einer Abwehr des göttlichen Zorns" auf (103).

Die Ergebnisse des ersten Kapitels werden auf S. 108-110 in methodisch differenzierter Weise für das Vorgehen im neutestamentlichen Teil ausgewertet.

Im zweiten bis fünften Kapitel analysiert K. auf 200 Seiten alle neutestamentlichen Stellen, die für explizite oder implizite Sühneaussagen in Frage kommen (an einigen Stellen mit negativem Ergebnis). Während K. die "vorpaulinische Tradition" von Paulus unterscheidet und ihr 20 Seiten einräumt, widmet er dem historischen Jesus keinen eigenen Abschnitt und behandelt die Synoptiker ganz am Ende des Buches (nach Paulus, Hebräerbrief und Corpus Iohanneum!), zusammen mit der Apostelgeschichte und dem ersten Petrusbrief unter der Überschrift "übriges Neues Testament". Der Grund dafür liegt wohl darin, dass für K. die Interpretation des Todes Jesu als Sühnetod keinerlei vorösterliche Wurzeln aufweist, dass ihr Ursprung vielmehr in der zwar "alten", aber in der vorliegenden Gestalt erst nachösterlich entstandenen Herrenmahlstradition zu sehen sei, die erstmals bei Paulus greifbar wird (120.318 f.320). Es ist fraglich, ob damit die Genese der Sühnedeutung, ihr frühes Auftreten, ihre weite Verbreitung und ihr großes Gewicht im Urchristentum (vgl. 321) überzeugend erklärt sind.

Im zweiten Kapitel stellt K. zunächst die Sühneaussagen des "vorpaulinischen Traditionsgutes" dar. Mit welchen Kriterien dieses Traditionsgut bestimmt wurde, ist nicht in jedem Fall deutlich. Man wird den Verdacht nicht los, dass das "Ergebnis" schon im Voraus feststand: Die vorpaulinischen Stellvertretungsaussagen hätten lediglich eine "Sündentilgung" im Blick, während die paulinischen Stellvertretungsaussagen "dem alttestamentlichen Sühnegedanken entsprechend die Errettung der aufgrund von Schuld verwirkten Existenz des Menschen aus Todesverfallenheit" lehrten (315). Hier liegt eine methodische Schwachstelle. Dagegen ist K.s Exegese der Belege im Corpus Paulinum differenziert und präzise. Besonders hilfreich sind die Tabellen zu den Stellvertretungsaussagen auf S. 126.144.174. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass "das Stellvertretungsmotiv ein konstituierendes Moment des Sühnegedankens formuliert", während die Versöhnungs- und Rechtfertigungsaussagen "die Wirkung des Sühnegeschehens (explizieren)" (315, vgl. 155 f. 166). Nach K. ist es "das Verdienst des Apostels Paulus, dass der Sühnegedanke in der urchristlichen Soteriologie einen breiten Raum einnehmen konnte", indem Paulus im Anschluss an die Herrenmahlsüberlieferung und die in Röm 3,25 verarbeitete vorpaulinische Tradition "die Sühnung sündigen Seins bewirkende[n] Stellvertretung" herausarbeitete (320).

Im dritten Kapitel werden die Sühneaussagen des Hebräerbriefs untersucht. K. arbeitet vier Themenbereiche heraus: Opfer, Stellvertretungsaussagen, Blut(sprengung) und Wirkung der Opfer. In Bezug auf jeden dieser Bereiche wird unterschieden, ob ein Text vom alten Bund, vom neuen Bund oder mit paränetischer Abzweckung spricht.

Das vierte Kapitel untersucht, K.s Dissertation Die theologia crucis des Johannesevangeliums (Neukirchen-Vluyn 1994) aufgreifend, die Sühneaussagen im ersten Johannesbrief, im Johannesevangelium und der Offenbarung. Während nach K. in 1Joh 1,5-2,2 wohl die Jom-Kippur-Typologie im Vordergrund steht, wird Jesus im Johannesevangelium und in der Offenbarung als das wahre Passalamm verstanden.

Das fünfte und letzte Kapitel behandelt das "übrige Neue Testament": Synoptiker, Apostelgeschichte und erster Petrusbrief (s. o.).

Als Ergebnis hält K. (im Anschluss an F. Hahn) fest, dass die Deutung von Jesu Tod als Sühnopfer im Neuen Testament zwar "eine vorrangige Stellung" einnimmt, indem sie in fast allen neutestamentlichen Schriften eine wichtige Rolle spielt, dass sie aber nicht die einzige Deutung und auch nicht die allen anderen Deutungen zu Grunde liegende ist (321). Wo Jesu Tod als der eschatologische Jom Kippur oder das eschatologische Passa verstanden ist, werden kultische und eschatologische Kategorien verbunden (vgl. 320).

Während die Diskussion über die Sühne im Neuen Testament meist auf die wenigen Belege mit eindeutiger Sühne- und Opferterminologie eingeengt wird, ist es K.s Verdienst, eine methodisch sorgfältig reflektierte Arbeit vorgelegt zu haben, die das gesamte semantische Feld der Sühne vom Alten Testament her bestimmt, die dieses semantische Feld aufweisenden neutestamentlichen Texte präzise exegesiert und in differenzierter Weise verschiedene Grade von Eindeutigkeit der Bezugnahme auf Sühnevorstellungen herausarbeitet. Das Ergebnis ist eindeutig: Das Neue Testament denkt an viel mehr Stellen in Sühnekategorien, als man bisher gemeinhin angenommen hat. Die oben geäußerte Kritik an einzelnen Aspekten der Arbeit kann die große Bedeutung dieses Ergebnisses in keiner Weise schmälern.

Auf Grund der enormen von K. behandelten Textfülle konnten manche Detailfragen nicht bedacht werden, die sicher bedenkenswert wären. Während die neuesten Arbeiten zu den alttestamentlichen Opfern K.s (bzw. Geses und Janowskis) grundlegende Definition bestätigen, dass Sühne eine Gabe des heiligen Gottes ist, die dem todverfallenen Sünder neu Gemeinschaft mit ihm ermöglicht, tritt in diesen Arbeiten aber auch klarer hervor, dass die verschiedenen Opferarten mit verschiedenen Mitteln verschiedene spezifische Wirkungen erzielen (siehe die Artikel von R. E. Averbeck zu den einzelnen Opferbegriffen im New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, 5 Bde., Carlisle 1997, und C. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2002). Es wäre interessant herauszuarbeiten, inwiefern im Neuen Testament über Passa und Jom Kippur hinaus auf diese Unterscheidungen Bezug genommen wird. Wie weit werden sie durchgehalten, indem die unterschiedlichen Opferarten als Metaphern für die verschiedenen Aspekte und die umfassende Wirkung von Jesu Tod dienen (so Averbeck, a. a. O. Bd.4, 1016), und wie weit werden sie übereinander geblendet (so zum Hebräerbrief K. 199 f.207)? Hier könnte man im Anschluss an K.s Arbeit weiterdenken.