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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

770–773

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hagene, Sylvia

Titel/Untertitel:

Zeiten der Wiederherstellung. Studien zur lukanischen Geschichtstheologie als Soteriologie.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2003. X, 366 S. gr.8 = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 42. Kart. 49,00. ISBN 3-402-04791-8.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Lukanische Soteriologie - das allein mag schon als ein Reizwort erscheinen, wenn man sich die lange Diskussion um den Beitrag des dritten Evangelisten zum Verständnis des Todes Jesu im Neuen Testament vergegenwärtigt. Denn lange Zeit galt es als ausgemacht, dass Lukas ein Interesse an der Soteriologie - wenn überhaupt - nur sporadisch erkennen lasse. Sein geschichtstheologischer Entwurf hingegen geriet immer wieder in die Kritik und wurde unter dem vorwiegend negativ konnotierten Stichwort des Frühkatholizismus abgetan. Die Arbeit von Sylvia Hagene - eine Münsteraner Dissertation - unternimmt es vor diesem Hintergrund, die Frage nach der lukanischen Soteriologie noch einmal ganz neu aufzuwerfen und vom Gesamtentwurf des Doppelwerkes aus zu beantworten. Soteriologie und Geschichtstheologie betrachtet sie dabei nicht als zwei getrennte, einander fremde Bereiche. Vielmehr attestiert sie dem Evangelisten Lukas, dass das Wissen um Heil und Rettung gerade durch sein Konzept einer theologisch qualifizierten Geschichtsschreibung profilierte Gestalt gewinnt.

Diese Linie wird in der Untersuchung stimmig und konsequent verfolgt. Im ersten Teil geht es um die Voraussetzungen der Arbeit. Für die Darstellung des forschungsgeschichtlichen Dilemmas genügt dabei zunächst ein knapper Überblick ( 1): Der weithin akzeptierten Kritik, die lukanische Soteriologe sei vor allem durch eine Reihe von Defiziten zu beschreiben, haben auch verschiedene neuere Arbeiten nur ungenügend Paroli geboten. Ihre Versuche, ein eigenständiges soteriologisches Konzept im lukanischen Doppelwerk herauszuarbeiten, bleiben - nach Einschätzung von H. - doch zu stark einer Widerlegung jener Kritiker verhaftet, anstatt zu einer unabhängigen, allein aus dem lukanischen Gesamtentwurf heraus gewonnenen Interpretation zu gelangen. Deshalb versucht H., den Ansatz ihrer Untersuchung sowie ihre Textauswahl ( 2) aus dem "literarisch-theologischen Selbstanspruch des Erzählers Lukas" (16) zu gewinnen: Es ist vor allem der Aspekt des Gedächtnisses bzw. der Erinnerung, der die Soteriologie bei Lukas von ihrer Konzentration auf den Punkt des Todes Jesu ablöst - Rettung oder Erlösung sind angemessen somit nur als ein komplexer erkenntnistheoretischer Prozess zu beschreiben. Dass darin der wissensätiologische Ansatz K. Lönings aufgegriffen wird, liegt auf der Hand. So stellt sich die Soteriologie des Evangelisten Lukas dar als "konsequente Anamnese der Erlösungsgeschichte Israels, die mit Jesus von Nazaret ihren Höhepunkt erreicht hat und deren Vollendung noch aussteht. ... Für seine Adressaten liest sich sein zweibändiges Werk als Ätiologie des Wissens um diese Erlösung, die ihnen auch als Nichtjuden, als ursprünglich nicht zum Volk der Erlösung Gehörende, zuteil geworden ist." (69) Den exegetischen Ausgangspunkt kann dafür am besten Act 3 liefern, weil dort die Erzählung von der Heilung eines Einzelnen durch die anschließende Petrusrede mit der Vorstellung von Israels Rettung paradigmatisch verbunden ist. Dieser Ansatz wird noch einmal durch ausführliche hermeneutische Vorüberlegungen ( 3) abgestützt, ausgehend von der Erwartung, dass sich im Geschichtsbewusstsein bzw. im historiographischen Selbstverständnis des Lukas eben auch ein Zugang zu der ihm eigenen Soteriologie eröffnen werde. Indem H. einige Aspekte hellenistischer und jüdischer Geschichtsschreibung Revue passieren lässt, wird deutlich: Lukas steht näher bei jenem am Beispiel des Deuteronomistischen Geschichtswerkes, der Makkabäerbücher, des Buches Daniel oder auch (mit Einschränkungen) an Josephus gewonnenen Modell. Geschichte wird dabei als dynamische Entwicklung Israels an der Seite seines Gottes beschrieben; Geschichte fungiert primär als Raum der Begegnung mit Gott; Geschichte ist eingebunden in eine Totalitätsperspektive, orientiert an einem universalen Plan Gottes. Demnach stellt sich für Lukas die Leitfrage folgendermaßen: "Wie konnte das für Israel bestimmte Heil die Heiden erreichen?" (65) Die Soteriologie bezieht die Frage nach Israel auf fundamentale Weise ein - und kann demnach auch nur mit Blick auf Vergangenheit und Zukunft des erwählten Volkes beantwortet werden.

Der zweite Teil der Arbeit wird mit einer Exegese von Act 3 zum Dreh- und Angelpunkt der Argumentation bzw. zum "heuristischen Paradigma". Am Anfang steht eine synchrone Analyse des Kapitels ( 4), gefolgt von weiteren Beobachtungen zur Semantik und Pragmatik des Textes ( 5). In der Auftakterzählung von der Heilung des Gelähmten 3,1-10 arbeitet die narrative Analyse vor allem die Sinnlinien Bewegung, Wahrnehmung und Kommunikation heraus; die Schöne Tür des Tempels als Ort der Heilung hat ihre eigene Dimension durch die bei Lukas positiv besetzte Metapher der "Tür" und gewinnt somit eine "motivische Initialfunktion für das soteriologische Programm von Apg 3,1-10"; anhand der Almosenbitte wird die Situation genutzt, um die Korrektur falscher Erwartungen erzählerisch zu realisieren. Die Argumentationsstruktur der anschließenden Petrusrede 3,11-26 erschließt H. mit Hilfe einer rhetorischen Analyse. Im Wesentlichen drei Beobachtungen binden den Ertrag der Exegese zusammen: 1. Es gibt in Act 3 eine bemerkenswerte Verbindung von Wissen/Hören/Sagen als Ausdruck von Heil sowie von Nichtwissen/Nichthören als Ausdruck von Unheil. Die "Unwissenheit/agnoia" (Act 4,17), die es zu überwinden gilt, tritt dabei als ein Schlüsselbegriff hervor. Das zu vermittelnde Wissen hingegen "betrifft das unkündbare Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung und zu seinem Volk" (133). Der Vorwurf, Lukas habe Soteriologie allein in individuellen Kategorien zum Ausdruck gebracht, erweist sich damit als verfehlt. 2. Die maßgebliche christologische Sinnlinie wird an einer Darstellung des Weges Jesu ablesbar, der in Analogie zum Weg der Weisheit gezeichnet ist - weisheitliche Aspekte korrespondieren der Stiftung und Vermittlung rettenden Wissens. 3. Neben Erinnerung und Vergegenwärtigung tritt deutlich der Aspekt künftiger Heilserwartung, der sich vor allem in den Begriffen anapsyxis und apokatastasis manifestiert. Dadurch gewinnt die Spannung zwischen Erfülltem und noch Erwartetem für die lukanische Soteriologie konstitutiven Charakter.

Im dritten Teil ist das Zentrum der Untersuchung erreicht. Der Weg, den die methodisch-hermeneutischen Vorüberlegungen und die exegetische Fundamentierung in Act 3 gebahnt hatten, wird nun unter der Überschrift "Soteriologische Applikationen im lukanischen Makrotext" weit ausgreifend beschritten. Gemäß den Beobachtungen am Text von Act 3 geschieht das in drei großen Anläufen oder Durchgängen: Ein erster Durchgang erfolgt in anthropologischer Perspektive und behandelt "Die Wiederherstellung des Menschen" ( 6). Die Unwissenheit, die den Unheilszustand des Menschen wesentlich beschreibt, wird durch die Vermittlung des Offenbarungswissens im Munde der Zeugen überwunden; Heil ereignet sich im Medium kommunikativer Prozesse. Ein zweiter Durchgang nimmt die christologische Perspektive ein und verfolgt "Die Weisheit Jesu" ( 7). Im Kontext einer beachtlichen Dichte an christologischen Prädikationen lässt sich das zentrale Anliegen des Lukas darin ermitteln, Jesus als den archegos (3,15/5,31), als "den Repräsentanten der rettenden Weisheit Gottes zu verdeutlichen" (178). Ein dritter Durchgang schließlich ist eschatologisch ausgerichtet und thematisiert "Die Wiederherstellung der Schöpfung" ( 8). Dies geschieht im Kontext weiterer Textanalysen - so der "kleinen Apokalypse" Lk 17,20-37 und der Parabel vom Thronprätendenten Lk 19,11-27. Von da aus wird die Bedeutung der Bundesvorstellung im Sinne einer Korrelation zwischen den Begriffen neuer Bund, Gottesherrschaft und Wiederherstellung Israels bestimmt.

Die systematisch brisante Frage nach der Apokatastasis panton taucht immer wieder, namentlich hinter dem 8, verlockend und provozierend auf - ohne freilich direkt diskutiert zu werden. Dennoch liefert die Arbeit mit ihrer Untersuchung des terminologischen Haftpunktes in Act 3,21 einen eigenen, anregenden Beitrag zu diesem Diskurs. Zunächst auf die Rolle Israels im lukanischen Doppelwerk konzentriert, heißt das: Die Erlösung der Völker im Christusereignis ist nur in Gestalt einer gemeinsamen Hoffnungsperspektive mit Israel zu erfassen, insofern die Wiederherstellung Israels für Lukas als ein noch unabgeschlossener Prozess gilt. In der lukanischen Soteriologie vollzieht sich damit eine "Loslösung der Heilsgewissheit von kultischen und ethnischen Paradigmen" (326) hin zu einer Soteriologie, die sich durch das Modell rettenden Wissens beschreiben lässt. Die starke Betonung der Zukunftsoffenheit solchen Wissens wehrt jeder Versuchung, endgültige und abschließende Aussagen zu treffen - die gemeinsame Hoffnungsperspektive mit Israel erweist sich als Memento gegenüber all zu engen dogmatischen Schemata. Am Schluss bleibt freilich die Frage, ob dabei nicht die Gewissheit des Heils zu einseitig in rationalen Kategorien erfasst wird und letztlich Gefahr läuft, als schlichtes Theorem an Bodenhaftung zu verlieren. Andererseits betont dieser Ansatz zu Recht ein Moment, das bislang viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Die Soteriologie des Evangelisten Lukas hat durch die Arbeit von H. nicht nur einige neue Facetten gewonnen - sie wird vielmehr in ein völlig neues Licht getaucht. Die Diskussion hat dadurch zweifellos eine Bereicherung erfahren - und eine weitere Reibungsfläche gefunden.