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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

769 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Barnet, John A.

Titel/Untertitel:

Not the Righteous but Sinners. M. M. Bakhtin's Theorie of Aesthetics and the Problem of Reader-Character Interaction in Matthew's Gospel.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2003. XII, 154 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series, 246. Lw. £ 55,00. ISBN 0-8264-6655-9.

Rezensent:

Wolfgang Schenk

Diese überarbeitete Fassung der 2001 vorgelegten und von Dan O. Via betreuten Dissertation kreist um das Problem des angemessenen Lesens und damit des Lesers dieser Schrift. Die ebenso überraschende wie zentrale These lautet: "For just as Jesus only came to call the sinners (Mt 9.13), so also Matthew's Gospel only calls those who recognize that they are sinners, who acknowledge their need for the one who comes for the sinners. It is by encouraging the reader to identify with the opponents of Jesus - or to recognize that they are in fact like the opponents - that the Gospel constitute the readers as sinners, thereby establishing them as the potential recipients of good news" (12 f.). Der negative Teil der Auskunft Jesu an die Pharisäer "is ironic: everyone is assumed to be a sinner: therefore everyone is called" (10). Überraschend ist diese Argumentation, weil sie von den beiden zuletzt beschrittenen Wegen abweicht, die Leser des Matthäus zu Zeitgenossen des historischen Jesus zu machen, der Redaktionskritik einerseits (15-20), die die "Schüler" historisch auf die Kirche des Matthäus ausgerichtet sieht, und des "Literary criticism" andererseits (20-27, Reader-response criticism), der sich auf das Konstrukt eines "implied reader" orientiert, das "not so much describe what happens during the reading process as define the moves of their ideal reader, moves that have been rehearsed during successive encounter with the text" (27). Beiden gemeinsam ist, dass die "Bittsteller" einerseits und die "Pharisäer" andererseits nur als Folie zur wahren Bedeutung der "Schülerschaft" dienen (27 f.). Demgegenüber schlägt die vorliegende Studie einen Zugang mittels des dialogischen Kommunikationsmodells von Mikhail Bakhtin (1895-1975) vor (28-58), das sich vom Standardmodell der Kommunikation (ein Sprecher formuliert eine Botschaft, die er einem Hörer zur Dekodierung sendet), auf dem die beiden genannten Hörer-Konstrukte beruhen, unterscheidet. "Bakhtin believes that the speaker and the listener have a shared responsibility for both the formulation and reception of the message. This is because the fundamental unit of communication is the utterance, not the sentence ... Consequently, when a speaker prepares an utterance, whether it consists of a word, phrase, sentence or text, the speaker is always aware of an anticipated response, and thus frames the speech in terms of both the preceeding utterance and the anticipated rejoinder. ... In contrast to reception theories that are usually concerned with how readers interpret texts after they are made" (30).

Die Kapitel 3-6 des Buches handeln die vier "characters" (Jesus, Schüler, Bittsteller, Pharisäer) unter diesen Aspekten ab: "Jesus of Nazareth" (59-77) als "in complete accord with God's system of values", "God's supreme agent" (59-65), dient Matthäus selbst als Modell der Schülerschaft (die gleiche Mission, das gleiche ethische Verhalten, die gleiche Sohn-Sprache). Dabei repräsentiert er ein ästhetisiertes absolutes Bewusstsein, als er auch seine Geburt und seinen Tod (67-70) als das normale Bewusstsein überschreitende Momente im Blick hat. Der Zugang der Leser zu diesem "Authoring Hero" (65-75) unterscheidet sich von dem zu den drei anderen dadurch, dass die Leser auch Ko-Autoren der Interaktion zwischen Jesus und den anderen "characters" sind (76-77). "Die Schüler" (76-95) sind zwar als die primären Rezipienten der Lehren Jesu deren Mittler, doch dürfen sie dennoch nicht als Identifikationsgröße für die Leser angesehen werden, denn sie sind bei Matthäus auch als Beispiele mangelhafter Nachfolger (mangelndes Vertrauen und Verstehen, Kleinglauben, Zweifel) "mixed characters": "The mixed portrayal of the disciples is said to provide Matthew's readers with a positive example of encouragement, a negative example of warning, but especially it provides them with the example of imperfect followers, who are able to overcome their lackings through the teachings of Jesus" (80). Im Gegensatz zu den Schülern sind die heidnischen Bittsteller (Supplicants, 96- 114), Centurion (8,5-13) und Kanaanäerin (15,21-28) "the only character in Matthew's Gospel whose faith is characterized by Jesus as exemplary" (8,10; 15,28). Sie dienen nicht nur als Folie für die Schülerschaft, sondern zur Kommunikation von Werten (96-98). Das gilt nicht nur hinsichtlich ihres "großen Glaubens", sondern auch ihrer Notwendigkeit physischer Heilung (für sich selbst 8,2; 9,21; 20,33 wie für andere 8,6; 9,18; 15,22), die letztlich (99-107) auf die Notwendigkeit der Rettung von Sünden (1,21; 9,2.5.6; 16,18; 21,43) weist. Vom Chorschluss Mt 9,8 her ist deutlich: "All of the accounts of healing in Matthew's Gospel can be viewed as symbolizing the forgiveness of sins" (103; das bestätigt meine Auslegung in ZNW 54 [1963], 272-275). Die Hauptgruppe jüdischer Opponenten gegen Jesus ist die einheitliche Charaktergruppe der Jüdischen Führer (Pharisees, 115-134), die als "Schlangenbrut" (3,7; 12,34; 23,33), "Heuchler" (15,77; 22,18; 23,13) und "blinde Führer" (15,14; 23,16) charakterisiert und "the most responsible for advancing the plot of Matthew's narrative" ist. Das Kapitel 7 (135-142) bietet eine kurze Zusammenfassung in sachlicher und methodischer Hinsicht, gefolgt von Bibliographie, Bibelstellenindex und Autorenindex. Alles in allem liegt eine anregende und weiterführende Studie vor uns, die über Redaktionsgeschichte und Reader-responce criticism hinausführt.