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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

764–768

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Ludwig

Titel/Untertitel:

Das vierte Buch Mose. Numeri 10,11- 36,13. Übersetzt u. erklärt v. L. Schmidt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. XII, 224 S. gr.8 = Das Alte Testament Deutsch, 7/2. Kart. 34,90. ISBN 3-525-51128-0.

Rezensent:

Horst Seebaß

Das Buch Numeri bereitet seinen Auslegern anerkanntermaßen außerordentliche Schwierigkeiten. Nimmt man hinzu, dass die alttestamentliche Wissenschaft seit mehr als einem Jahrzehnt extrem wenig Einigungsfähiges produziert, einzelne Schulen sich in den Vordergrund drängen und dabei das Auseinanderdriften der Meinungen vorantreiben, kann man selbst bei Übereinstimmungen im Grundsätzlichen des jeweiligen Erklärungsmodells weder einen Gleichklang erwarten noch einfordern. So geht es dem Rezensenten mit dem hier vorzustellenden Werk. Er fand trotz gleichen Erklärungsmodells nur ganz geringe Gemeinsamkeiten, aber sehr viele Differenzen. In dieser Situation kann man den erfreulich vielen neuen Kommentierungen von Num nur mit dem gebührenden Respekt angesichts einer durch und durch schwierigen Aufgabe begegnen und u. a. auch die Divergenzen zu anderen Schultraditionen nur insoweit ernst nehmen, als alle Beteiligten sich jedenfalls einer lohnenden Aufgabe unterzogen haben.

Der Vf. hat sich mit seiner Kommentierung auf die von ihm abgegrenzten Teile II (10,11-21,35) und III (22,1-36,13) des biblischen Buches beschränkt, die sicher reizvoller sind als Teil I (1,1-10,10). Auf nur 224 Seiten hat er zusammengedrängt, was er angesichts der gegenwärtigen, ganz diffusen Forschungslage sagen zu sollen meint (zum Vergleich: P. J. Budd benötigte 281 Seiten, T. R. Ashley 470 Seiten, E. W. Davies [wenig Übersetzungen] 261 Seiten, jeweils zuzüglich Introductions). Wer Schriften des Vf.s kennt, ist damit vertraut, dass er konzentriert und präzise zu erklären und zu argumentieren weiß. Diese Kürze wird man ihm gewiss weithin zum Vorteil rechnen.

Der Vf. gliedert seine Darstellung in 11 Seiten Einleitung und 213 Seiten Kommentierung. Die Einleitung hat drei Teile: 1. Name und Gliederung, 2. Entstehung von 10,11-36,13, 3. Bedeutung dieses Teils des Buches. Die Gliederung trennt überzeugend 1,1-10,10 vom kommentierten Teil und teilt diesen ebenso überzeugend in 10,11-21,35 (meine Variatio: bis 22,1) und 22,1-36,13 (anders die bekannte Gliederung von D. T. Olson, The Death of the Old and the Birth of the New, 1985, die neuestens Th. Römer in: Th. Römer et. alii, Introduction à l'Ancien Testament, Le Monde de la Bible, 40, 2004, 196-203, übernommen hat: 1,1-25,18 und 25,19-36,13). Der Vf. erklärt in Teil II seiner Einleitung, dass er im vollen Bewusstsein dessen, wie schwierig die Deutung der mannigfach bearbeiteten Num-Stoffe ist, die im 19. Jh. begründete klassische Dreiquellentheorie (J, E, P) nicht für erledigt, sondern für sachgemäß hält. Das ist seit dem Kommentar von J. de Vaulx (1972) zusammen mit dem von B. A. Levine und dem des Rezensenten ein nicht zu unterschätzendes Votum. Ganz knapp erläutert der Vf. an einigen signifikanten Beispielen, inwiefern a) die Dreiquellentheorie einschließlich der des Jehowisten für die Erklärung unentbehrlich ist, b) Num aber eine Fülle von Erweiterungen und Fortschreibungen aufweist, die die Aufgabe des Kommentators stark bestimmen. So führt der Vf. unter dem Titel "Entstehung", einer Mehrheitsmeinung entsprechend, aus, dass Num über Jahrhunderte bis zu seinem jetzigen Bestand angewachsen und ein Mehr an Stoffen späteren Ergänzungen oder Bearbeitungen zu verdanken ist, hinzu zu einem durch jene drei Quellen plus Jehowist von ihm erhobenen Grundbestand. In großen Zügen: Der Vf. rechnet mit einem einigermaßen präsentablen Jahwisten (von 10,29-*33 bis 24,15-17) um 950, einem fragmentarischen Elohisten (21,21-*24. 31 bis 32,*1-38) um 760 und einer nachexilischen Priestergrundschrift (10,11 f. bis 27,*12-23) zwischen 500 und 450 v. Chr., die ihrerseits DtrH (spätexilisch) voraussetze. Die jehowistische Redaktion habe J und E erst im Exil vereint, und da DtrH diese nicht kenne, könne sie nicht (wie P) nachexilisch sein. Die jehowistisch redigierte Schicht sei zwischen 400 und 350 v. Chr. durch die Pentateuchredaktion mit P einerseits, dem Dtn andererseits verbunden worden. Danach aber seien noch viele Stoffe hinzugekommen, und zwar bis kurz vor dem Abschluss des Buches um 300 v. Chr. (in den Früh-Hellenismus reiche z. B. 24,23 f., auf Alexander d. Gr. zu beziehen [s. u. zur Philologie]).

Interessant sind Einzelzuweisungen. So gehen nach Meinung des Vf.s nur 10,29-*33, die Wachtelerzählung in 11,*4-33, der alte Anteil von Num *13 f., dazu 20,1ab.22a; 21,*4a.*11b. 13aa sowie ein Anteil an 22,*2-41 und 24,*1-9.14-17 (Bileam) auf den Jahwisten zurück, und der Anteil an der Bileam-Erzählung beende die J-Erzählung des Pentateuch wegen einer inclusio von Num 24,9b mit Gen 12,1-3. Der Elohist finde sich in 21,21-*24.31, einem Anteil an 22,*2-23,26 und einem stark überlagerten Anteil an 32,*1-38, der als Nordreichstradition den Abschluss in E gebildet habe. 11,1-3, die Ältesten-Variante in 11,4-34, der Grundbestand von 12,1-15, die Datan-Abiram-Variante in Num 16, der Grundbestand von 20,14-21, in der Bileam-Erzählung 22,7-19 und 24,10-13 und der älteste Teil der Baal-Peor-Episode (nach dem Vf. nur 25,1.3a.5) gingen auf den exilischen Jehowisten zurück. P fand der Vf. in 10,*11-28 und 12,16b, einem Anteil an Num *13 f., erstaunlicherweise in 16,2ab-*5. 6a.ba.*18. 35a.ba und 17, 6-13.27 f., in 20,*1-13.*22-29; 22,1a; 27, *12-23 (mit Dtn *34 als Schluss). Der Vf. rechnet damit, dass nach der Vereinigung des Jehowisten mit P durch die Pentateuchredaktion P im 4. Jh. noch selbständig überliefert wurde und so noch Erweiterungen erfuhr wie etwa durch 26,*4bb-51. Große Stoffmassen weist der Vf. seiner Pentateuchredaktion zu, also der Redaktion, die den Jehowisten mit P und dem Dtn vereinigt habe, und ebenso viele Ergänzungen noch späteren Redaktionen. Begründungen zu den meisten seiner Auffassungen findet man in L. Schmidt, Studien zur Priesterschrift, BZAW 214 (1993). Dazu kommen einige wenige spätere Aufsätze, im Kommentar am Ort verzeichnet.

Man wird dem Vf. zugestehen dürfen, dass er das Schifflein seiner Exegese mit großer Sicherheit durch die vielen Probleme hindurchsteuert, die sich jeder Kommentierung stellen. Von dieser Voraussetzung aus möchte der Rezensent hervorheben, dass dem Vf. in unserer zum Teil reichlich verwüsteten Debatte zu Num einiges besonders gut gelungen ist. Dies gilt z. B. für das wichtige Stück Num 13 f. J/P (trotz R. Achenbach, Die Erzählung von der gescheiterten Landnahme [Numeri 13-14] als Schlüsseltext der Redaktionsgeschichte des Pentateuch, ZAR 9, 2003, 56-123), das in Num einen alles entscheidenden Wendepunkt markiert, weil von da an die ursprüngliche Absicht, mit einer guten Formation des Volkslagers (Num 1-4; 10,11- 36) das heilige Land wie verheißen nach einem großen Marsch durch die Wüste zu besetzen, nicht ans Ende kommen durfte. Ähnliches gilt etwa für 21,21-*24.31, das der Vf. mit Recht E zuweist, und am Ende für das seltsame Kapitel Num 35, in dem Levitenstädte durch teilweise Identifikation mit Asylstädten eine sekundäre, umfangreiche juristische Erörterung zu Totschlag und Mord ermöglichten.

Sehr anregend und erörternswert ist die Analyse von 32,1- 38, in der der Vf. beharrlich jeden Satz oder Halbsatz, der den Jahwe-Namen enthält, einer späten Bearbeitung zuschreibt (abgesehen noch von dem Sonderstück 32,6-15). Im Ganzen aber möge die Frage erlaubt sein, ob ein so außerordentlich geringer Anteil an J (E gilt zumeist ohnehin als fragmentarisch) in Num wie beim Vf. die Quellentheorie für das Verständnis des Buches empfehlen kann - P als vergleichsweise weniger umstritten kann man hier ausnehmen (Pg identifiziert der Vf. abgesehen von Num *16 traditionell). Für den Rezensenten etwa gehören auch 11,1-3; der Grundbestand von 11,4- 25a.31-34 (Älteste); der von 12,1-16a; der von 16,1-35 (Datan und Abiram); der von 20,14-21 sowie 21,1-3.10-20; 25,1-4(?) und der alte Bestand von 32,1-38, den der Vf. E zuweist, zusätzlich zu J (Anfang 8. Jh.!), der alte Bestand von 21,4-9 vielleicht zu E. Dieser Unterschied könnte darauf beruhen, dass der Vf. anders als der Rezensent nicht eine strenge Einschränkung literarkritischer Hypothetik befolgt, wie der Rezensent sie für methodisch zwingend hält, siehe "Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26)", 1996, 10 f. Zurzeit ist allerdings das Gegenteil große Mode.

Wohlgemerkt: es kann hier nicht um Meinungsunterschiede im Detail gehen, die angesichts vieler, vieler kleinerer und größerer Einzelentscheidungen möglich sind und bleiben. Aber man nehme z. B. die Analyse von Num 11,4b-34. Der Vf. belässt (21) J nur *4b-6.10ba.31-34. Der ganze Rest (4a.7- *10.11-29) ist für den Vf. ein Zusatz aus zwei Hauptbestandteilen, dem Jehowisten und der Pentateuchredaktion. In der großartigen Erzählung von Num 12 kann der Vf. nicht hinreichend erklären, warum Aaron überhaupt, seiner Meinung nach sekundär, in die Erzählung eingefügt wurde, da V. 6b-8 sich zu Propheten, aber nicht unmittelbar zu Aaron und zu Priesterlichem erklären, und der schmale Grundbestand 12,*1 (ohne Aaron).2b.*9 ("da entbrannte Jahwes Zorn").10ab.13-16a soll erst jehowistisch, der Rest Pentateuchredaktion sein, nur weil sonst nirgendwo von einer kuschitischen Frau Moses die Rede ist. Wieso muss Singuläres sekundär sein? Es kann schwerlich bestritten werden, dass in 1,1-10,10; 15,1-43; 19; 26,1-27,11; 28-31; 33-36 viel sehr spätes, auf die Eigenheiten der Komposition des Num-Buches zurückzuführendes Material vorliegt. Wenn aber in 10,29-14,45; 16; 20,14-21; 21,1-31; 22-24; 25,1-5; 32,1-38, die nach klassischer Meinung überhaupt nur für das Aufsuchen alter Traditionen in Betracht kommen, im Wesentlichen Erweiterungen bzw. Nachträge das Feld beherrschen und von J bzw. E nur winzige Reste bleiben, dann muss man nach der Fruchtbarkeit dieser Quellenscheidung fragen, die ja die deswegen oft angegriffene Analyse von M. Noth in seinem Kommentar (ähnlich vorher in der "Überlieferungsgeschichte des Pentateuch", 1948) ganz erheblich unterbietet. J. Wellhausen, der den Jehowisten für J und E als grundlegend ansah, weil die Scheidung von J und E nicht immer gelinge, kann der Vf. wegen seines Rückgriffs auf die Pentateuchredaktion kaum nachgeeifert haben.

Der Rezensent hat Probleme mit der vom Vf. identifizierten Pentateuchredaktion als einer literarischen Schicht, weil bei den Num weithin beherrschenden großen Stoffmassen in priesterlichem Stil eine abgrenzbare Pentateuchredaktion, die ja auch P selbst erfassen müsste, methodisch höchstens ausnahmsweise identifiziert werden kann. Nach welchen Kriterien soll dies geschehen? Die Endgestalt geht wohl auf eine stark eigenständige, relativ späte priesterliche Komposition (2. Hälfte des 4. Jh.s v. Chr., auch Th. Römer s. o.; der Rezensent, BKAT IV/2, 151: 2. Hälfte des 5. Jh.s, zitierte die Meinung der Anthropologin M. Douglas) zurück, die von einer abgrenzbaren Pentateuchredaktion abzuheben wäre.

Neben diesen eher "technischen" Anfragen ist eine weitere nötig. Der Vf. lässt fast nirgendwo einen theologischen Gewinn seiner Exegesen erkennen. Nachdem Num jahrzehntelang wenig Beachtung fand, steht es neuerdings in der Mitte der Pentateuchdiskussion. Wenn diese in einen Kommentar eingeht, sollte Num, soweit es theologisch redet, theologisch zu Gehör gebracht werden (so wahrscheinlich demnächst Th. Römer, der die Quellenhypothese für überholt hält). D. T. Olson, Death, hat dies bereits 1985 mit Recht eingefordert. Religiöse Interpretation leisteten die beiden überragenden jüdischen Kommentatoren J. Milgrom und B. A. Levine, christliche Autoren wie J. de Vaulx, G. J. Wenham, P. J. Budd, K. D. Sakenfeld, T. R. Ashley; D. T. Olson, T. Staubli und neuestens Ch. Frevel haben ebenfalls Theologisches zu sagen gewusst. Auch wenn sich manche Partien in Num solcher Deutung entziehen wie z. B. 33,1-49 oder 15,1-16; 7,1-88, gibt es offenbar die Dimension des Theologischen in Num. Der Vf. war vielleicht aus Platzgründen zurückhaltend; aber ein ATD-Band im Jahre 2004 sollte am nötigen Ort Hilfen geben. Der Rezensent hält dies auch deswegen für unbedingt erforderlich, weil in dem dankenswerterweise nach dem 2. Weltkrieg aufgenommenen, längst überfälligen christlich-jüdischen wissenschaftlichen Gespräch für jedes einzelne Buch des Alten Testaments von christlichen Exegeten zu begründen ist, inwiefern und unter Umständen ob es als Teil der christlichen Bibel rezipiert werden sollte.

Bei dem auf Präzision bedachten Vf. gibt es auch philologische Anfragen. Beispiele seien nur der Bileam-Perikope entnommen: Über die von vielen Autoren nachgewiesene Unübersetzbarkeit von 24,23 f. setzt sich der Vf. hinweg, siehe jetzt der Rezensent, BKAT IV/3,1 (2004), 25 f. Auf das philologische Problem, das 23,23b stellt, geht er nicht ein. Gravierend scheinen mir a) die Übersetzung von rbc mit "Staub" in 23,10 (136), obwohl S. Timm, Moab zwischen den Mächten, ÄAT 17 (1989), 112-116, nachgewiesen hatte, dass die Herleitung in HALAT 1101 f. akkadistisch nicht haltbar ist (HALAT IV erschien 1990, konnte also Timms Arbeit nicht mehr berücksichtigen); b) die Übersetzung von 'hljm in 24,6b mit "Aloebäume" (121.141), obwohl alle drei großen neuen Lexika, also auch DCH, nach semitischem Sprachvergleich mit "Eiskräuter" übersetzen.

Insgesamt darf man sagen: Wissenschaftlich-analytisch wird man diesen Teilkommentar sicher mit Gewinn lesen. Dass Fragen an die Analytik offen bleiben, ist beim gegenwärtigen Stand der Debatte um das schwierige Buch Num kaum anders zu erwarten. Als Theologe, der das Alte Testament, also auch Num, als zum Teil wiederzugewinnende Bibel der Christenheit liest - es geht ja um "Das Alte Testament Deutsch"-, wird man sicher zu wenig bedacht.