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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

762–764

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Neher, Martin

Titel/Untertitel:

Wesen und Wirken der Weisheit in der Sapientia Salomonis.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. X, 274 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 333. Lw. 78,00. ISBN 3-11-017880-X.

Rezensent:

Johannes Marböck

Die von Otto Kaiser begleitete Marburger Dissertation gilt dem Verständnis alttestamentlich-jüdischer Vorstellungen und griechisch-hellenistischer Einflüsse in der Konzeption der Weisheit im Buch der Weisheit Salomos, insbesondere der Beurteilung der personifizierten Darstellung der Sophia als selbständiges Wesen (Hypostase) oder als poetische Metapher. Der fehlende Konsens der Forschungsgeschichte (1-17) gründet in der schillernden Beschreibung der Weisheit von Proverbien über Hiob und Sirach bis zur Sapientia, vor allem in der Vermischung ontischer und funktionaler Aussagen, d. h. von Wesen und Wirken, sowie in ihrer Stellung zwischen Gott und Mensch, Transzendenz und Immanenz. Die Abhandlung, die in den Kontext der Geistes- und Philosophiegeschichte hineinreicht, beginnt mit einem Blick auf die Diskussion des Hypostasenbegriffes mit seinen sehr verschiedenen Akzentsetzungen (mehr ontisch oder mehr funktional) und dem Problem der Einseitigkeit der Definitionsversuche. Eine Untersuchung aller einschlägigen biblischen Belege auf Wesen bzw. Wirken der Weisheit soll dieser Gefahr wehren und eine sachgerechte Entscheidung über Frau Weisheit als Hypostase oder poetische Personifikation ermöglichen (17).

Im mit Prov 1-9 beginnenden Gang durch Texte des Spruchbuches (1,20-33; Kapitel 8; Kapitel 9) erhält die Weisheit durch die Personifizierung zwar einen besonderen Stellenwert. Ihre Einbindung in den Kontext von Kapitel 1-9 sowie der synonyme Gebrauch von Begriffen wie Einsicht, Rat, Verstand zeigen jedoch die poetische Zielsetzung ihrer Beschreibung, d. h. der Verstärkung der Autorität der Botschaft der Weisheit bzw. des Weisheitslehrers. D. h. Weisheit ist keine Hypostase. Dies gilt auch für Kapitel 8; in 8,22-31 geht es trotz des sehr eigenständigen Bildes der Weisheit um die rechte Stellung in ihrer Unterordnung unter Gott und ihren Vorrang gegenüber den Menschen. Sie ist (vgl. Prov 3,19; Ps 104,24) die Eigenschaft, mit der Gott die Welt geschaffen hat (49.59). Man mag fragen, ob es der Dynamik des Gedichtes bzw. seiner Struktur nicht noch besser entspräche, Weisheit als Plan (Idee) Gottes vor der Schöpfung der Welt zu verstehen, der in der Ordnung der geschaffenen Welt als Zeichen der Gegenwart der Weisheit Gottes seine Realisierung gefunden hat.

In Hiob 28 (60-70) ist die Gott unterstellte Weisheit kein selbständiges konkretes Geschöpf; sie ist für den Menschen unergründlich und nur über die Gottesfurcht zugänglich. Charakteristisch für das Sirachbuch (71-88) ist der Zusammenhang von Weisheit, Gottesfurcht und Geboten. Von den zwei behandelten Texten, auch 14,20-15,10 wäre zu nennen, kündigt Sir 1,1-10 die Verbindung der Weisheit mit den Gottesfürchtigen an, die in Kapitel 24 breit entfaltet wird. Die Weisheit spricht in dieser großen Ichrede (24,3-22) metaphorisch von ihrer Erschaffung, ihrer Präsenz in der Welt, ihrem Ruheort in Israel/Jerusalem und ihren reichen Früchten. Nach 24,23-29 findet sich dies alles verdichtet im unerschöpflichen Reichtum der Tora; aus dieser Toraweisheit kommt nach 24,30-34 auch die segensreiche Wirksamkeit der Lehre des Weisen. Auf Grund der klaren Rückbindung der Weisheit an das Gesetz kann sie im Sirachbuch keine selbständige Wesenheit darstellen (87 f.). Bei aller Berechtigung dieser Feststellung sei gefragt, ob das in Sir 24, 23ff. als Toraoffenbarung dargestellte Wirken der Weisheit von 24,3-22 mit dem Terminus einer "Eigenschaft" (87) adäquat getroffen ist.

Der Hauptteil der Textuntersuchungen gilt der Weisheit in der Sapientia Salomonis (89-154), beginnend mit Weish 1,1- 10, von dem 1,1-4 bereits das Grundproblem des Verhältnisses zwischen Gott und Weisheit (1,1-3a und 1,4) ansprechen. Das dort anklingende Konkurrenzverhältnis wird durch den Begriff des Weisheitspneumas aufgelöst (1,5.6), das sowohl die Göttlichkeit der Weisheit als auch den Unterschied zwischen Gott und Weisheit zum Ausdruck bringt und so Gottes Transzendenz sichert. Auch für Kapitel 7 stellt sich das Problem ähnlich, insbesondere in 7.15-22a (Spannung Gott-Weisheit: 7,15.22a) und 7,22b-8,1 (Auflösung). Der Geist verbindet Gott und Weisheit sehr eng (7,7.22b), hält sie als distanzierendes Zwischenglied aber auch auseinander. Das von Gott ausgehende Weisheitspneuma initiiert eine Bewegung zum Kosmos und zum Menschen (vgl. 7,14.27.28; Abwendung im Fall der Sünde vgl. 1,4.6) und wieder zurück zu Gott (1,9 f.). Die in den Aussagen über Wesen und Wirken der Weisheit begegnende Verbindung zentraler biblischer Begriffe mit philosophischen Abstrakta (vgl. 7,22 f.) bzw. mit platonisierenden Bildern (vgl. 7,25 f.) zeigt wiederum deren funktionalen Charakter als Wirken des Geistes Gottes in den Menschen. Auch Kapitel 9 begegnet Weisheit als Geist Gottes (9,17) mit der Aufgabe der Vermittlung: In Gottes Nähe stehend (9,1.4.5) wird sie auf das Gebet des Menschen hin zur Erschließung des göttlichen Willens (9,10 f.13-17) und zur Rettung der Frommen gesandt. Auch in Kapitel 10 lässt sie sich am ehesten als Geist begreifen, der in die Seelen der Frommen eingeht, "um an ihnen und ihrem Umfeld zu handeln und zu retten" (138), wobei sie ab Kapitel 10 auch als Wunder wirkende Macht zu erkennen ist. "Insgesamt kann man die Frage nach der Bedeutung der Weisheit in der Sapientia Salomonis als die nach der Art und Weise von Gottes Handeln und seiner Offenbarung in der Geschichte Israels verstehen" (153); dieser Feststellung ist zuzustimmen. In Anlehnung an M. Gilbert (Les cinq livres des Sages, Paris 2003, 245) sollte man sie unter Umständen erweitern als "aktive Gegenwart des Herrn in seiner Schöpfung und in den Herzen der Menschen, die ihn aufnehmen."

Der exegetischen Befragung der Texte folgt die Suche nach möglichen philosophischen Modell-Vorlagen der Vermittlung zwischen Gott und Welt (155-228). Ein erster Blick auf Philo von Alexandrien, der das Problem durch die Annahme substantiell gedachter Kräfte (Hypostasen) löst, erweist die Weisheit Salomos als zeitliche und sachliche Vor-/Zwischenstufe auf diesem Weg (162). Nach einer dankenswerten Skizze der Forschungsgeschichte zur Frage der philosophischen Beeinflussung der Weisheit Salomos seit der Mitte des 19. Jh.s (164-180), die im Wesentlichen einen eklektischen Einfluss aus dem mittleren Platonismus und der mittleren Stoa annimmt, überprüft N. die Frage neu auf Grund der gegenwärtigen Quellenbefunde. Das Beispiel des Stoikers Poseidonios von Apamea (zwischen 135 und 50 v. Chr.) zeigt, dass dessen theologische Kosmologie von Gott und Welt als großer Einheit dem Verfasser des Weisheitsbuches trotz Gemeinsamkeiten nicht als Grundlage für sein Verständnis von Weisheit, die zwischen Gott und Welt vermittelt, gedient haben konnte (186-202). Auch der platonisch orientierte Antiochos von Askalon (zwischen 140 und 68/67 v. Chr.) mit seiner Identifikation von Gott, Weltseele und vergöttlichter Welt kommt als Anregung für Sapientia nicht in Frage (203- 217). Eudoros von Alexandrien (1. Jh. v. Chr.), ein Vertreter des Mittelplatonismus und Wiederentdecker der Transzendenz Gottes, zeigt ebenfalls keine direkte Beziehung zum Weisheitsbuch (vgl. dagegen Weish 2,23 f. vom Tod als Werk des Teufels und das monistische System des Eudoros), wohl aber die Aktualität des Vermittlungsproblems als möglicher Impuls für eine Klärung im Weisheitsbuch (218-226).

Das Fazit der Untersuchung der drei Denker lautet (227 f.): Außer einigen Begriffen der philosophischen Koine (vgl. Weish 1,7; 7,23.24 f.) gibt es keine spezifischen Zusammenhänge mit der Sapientia, die im Begriff der Weisheit Stoa und mittleren Platonismus verbindet, ja mit der Verheißung von Unsterblichkeit überbietet. Gegenüber der fehlenden klaren Trennung von Gott und Welt in den philosophischen Systemen hält der jüdische Theologe die Spannung zwischen Gottes Transzendenz und seinem Wirken in der Welt durch den Geist der Weisheit durch. Die bei den Philosophen fehlenden Hinweise auf Weisheit als Hypostase bestätigen zudem das Verständnis der Weisheitstexte als poetische Personifizierung.

Das Hauptverdienst der Studie liegt für den Rezensenten in der philosophiegeschichtlichen Untersuchung (Kapitel 3 und 4), die sehr viel Quellenmaterial zur Sprache kommen lässt und dadurch zur Klärung und Differenzierung des geistesgeschichtlichen Umfeldes des Weisheitsbuches beiträgt. Auch der Grundthese als Ergebnis des exegetischen Arbeitsganges, dass Weisheit in Sapientia (wie auch in Prov, Hiob und Sirach) keine Hypostase, sondern dichterische Personifikation sei, ist zuzustimmen. Leser und Leserinnen werden die präzisierenden Zusammenfassungen größerer Abschnitte zu schätzen wissen.

Die methodisch durchaus gerechtfertigte philosophisch-begrifflich orientierte Frage nach Weisheit als Hypostase lässt vielleicht im exegetischen Teil andere Aspekte zurücktreten: dies wären m. E. eine stärkere Gewichtung der literarischen Struktur des Buches sowie einzelner Texte, etwa einer Diskussion der von M. Gilbert und H. Engel erhobenen Ringkomposition von Weish 7,1-8,21 mit ihrer Abwandlung des griechischen Enkomiums oder die Einbeziehung der nicht zu leugnenden Elemente zeitgenössischer Isisfrömmigkeit (Isis als Wahrerin von Recht und Gerechtigkeit; nicht dem Schicksal unterworfen; Retterin und Wohltäterin ...) für eine umfassende Interpretation von Weisheit im Mittelteil des Buches.

Insgesamt stellt N.s Studie eine wertvolle Bereicherung zur Erforschung des geistesgeschichtlichen Kontextes der Sapientia Salomonis dar.