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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

759–762

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Janowski, Bernd

Titel/Untertitel:

Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003. XVI, 424 S. m. Abb. 8. Kart. 29,90. ISBN 3-7887-1913-3.

Rezensent:

Manfred Oeming

Das Buch von Bernd Janowski, dem auch die Neukommentierung der Psalmen im Biblischen Kommentar (gemeinsam mit F. Hartenstein) anvertraut wurde, stellt eine reife Frucht seiner Beschäftigung mit den Psalmen dar. Unter Wiederaufnahme zahlreicher exegetischer Studien entfaltet J. nunmehr eine durchsystematisierte Anthropologie der Psalmen. Die (großenteils schon andernorts publizierten) Exegesen werden eingebaut in einen übergreifenden Fragehorizont und gewinnen dadurch neuen Reiz. Die Darstellung ist in fünf Teile gegliedert.

Die Einführung (1-52) bietet zwei programmatische Abschnitte: 1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie (1- 35). Hier wird ein markantes Plädoyer für eine historische Anthropologie geführt. Ihr Ziel wird folgendermaßen formuliert: "Um der Gefahr einer ahistorischen Auffassung vom Menschen des alten Israel zu entgehen und dennoch die Frage nach seinem Wesen wach zu halten, werden in diesem Buch anhand eines begrenzten Textcorpus - der Klage- und Danklieder des einzelnen - die Lebenssituationen in den Blick genommen, in denen der Mensch des alten Israel als Angefeindeter, als Verfolgter, als Kranker oder Sterbender, aber auch als Geretteter, als Lobender oder Dankender in Erscheinung tritt. Es geht also nicht einfach um allgemeine Züge der menschlichen Natur, gleichsam um anthropologische Grundkonstanten, sondern um die Besonderheit von Erfahrungen und Verhaltensweisen, die den Beter der Psalmen in elementaren Lebenskonflikten zeigen, die er klagend und bittend zu bestehen sucht." (2) Dabei wird die Differenz von damals und heute stark betont: "Es war alles anders als heute, sogar anders als man heute nachvollziehen kann" (4, mit W. Schild). Dennoch, oder gerade wegen ihrer Fremdartigkeit, strebt J. danach, mit den alttestamentlichen Texten "zur Lösung von Gegenwartsproblemen beizutragen" (6). Im Abschnitt 2. Psalmen als anthropologische Grundtexte (36-52) wird Polarität von "Leben" einerseits und "Tod" andererseits als der entscheidende Spannungsbogen jeder Anthropologie herausgearbeitet.

Der erste Hauptteil (53-214) zeichnet entsprechend dem Aufbau der Klagepsalmen den Weg "Vom Leben zum Tod" nach. An vier Beispieltexten werden Grundsituationen des Menschen vorgeführt und jeweils ein anthropologisches Stichwort ausgeführt: 1. Ps 13: der klagende Mensch, Stichwort: Sehen und Hören; 2. Ps 59,8: der angefeindete Mensch, Stichwort: Rache; 3. Ps 7: der verfolgte Mensch, Stichwort: Herz und Nieren; 4. Ps 41: der kranke Mensch, Stichwort: Vitalität.

Nach einem poetischen Zwischenspiel mit Bildbetrachtungen zu Paul Klee und einem Gedicht von Paul Celan (215-223) folgt unter IV. der zweite Hauptteil, der in perfekter Symmetrie den Weg "Vom Tod zum Leben" zurückführt (225-374). Die vier Beispieltexte sind Ps 88: der vergängliche Mensch, Stichwort: Diesseits und Jenseits; Ps 30: der lobpreisende Mensch, Stichwort: Dankbarkeit; Ps 16: der begnadete Mensch, Stichwort: Unvergänglichkeit; Ps 22: der Mensch Gottes, Stichwort: Psalmengebet. Die Textauslegungen sind vom Umfang auffällig ebenmäßig ausgearbeitet - wie auch die zehn Exkurse, die jeweils exakt eine Druckseite umfassen: das biblische Weltbild (27), der ganze Mensch (44), Licht und Finsternis (67), das Rätsel des Bösen (112), konnektive Gerechtigkeit (138), die Welt des Kranken (191), Leben und Tod (253), der schöne Tag (292), Gottesnähe (326), Ecce homo (357). Man spürt, wie sorgfältig hier am Text gefeilt wurde. Dennoch sind merkwürdige Dubletten stehen geblieben, z. B. eine umfangreiche Wiedergabe von Jan Assmann: 138.297 f., die Auslegung von Ps 22: 76ff. 348 ff., oder Luthers Vorrede zum Psalter: 369 f.375 f. Auch die zahlreichen Abbildungen und Diagramme (vgl. das Verzeichnis 377) sind liebevoll ausgewählt und anschaulich erläutert. Das knappe Nachwort (375 f.) setzt Luthers Vorrede zum Psalter wirkungsvoll als Schlussakkord. Abgeschlossen wird der Band mit einer ausgezeichneten Bibliographie sowie knappen Bibelstellen- und Sachregistern.

Bei der Würdigung des Buches muss man m. E. zwischen der Einzelexegese und dem übergeordneten systematischen Anspruch differenzieren. Die Exegesen sind handwerklich sehr elaboriert, etwas formalistisch zwar mit einem leicht verwirrenden Netz von Selbstzitaten und Querverweisen, aber wie immer bei J. sehr gekonnt und breit belesen. Ganz besonders gewinnbringend zu lesen sind die lexikonartigen Ausführungen zu den anthropologischen "Stichworten", d. h. Zentralbegriffen, sowie die Exkurse. Hier macht die Lektüre Freude und hier liegt m. E. die besondere Stärke des Werkes. Aus Stichworten und Exkursen formt sich ein gutes Stück Theologie des Alten Testaments. Der Rezensent kann hier nur zum Lesen ermuntern. Freilich sind die gebotenen Darstellungen in keiner Weise neu. Man freut sich, die alten Einsichten etwa von H. Gunkel, H. W. Wolff und W. H. Schmidt (der erstaunlich wenig zitiert wird) in frischer Sprache wieder zu lesen und neu zu vergewissern.

Einschränkend muss man die Konzentration auf gewisse Lieblingsthemen, die für J. typisch sind, erwähnen: etwa auf Tempeltheologie, Königsvorstellungen, Solarisierung des Jahweglaubens, besonders des Rechts in der mittleren Königszeit, konnektive Gerechtigkeit, Opfer oder Rettung am Morgen. Aber das macht eben den persönlichen Charakter einer solchen Darstellung des Gebets aus. Auch die enge Anbindung an die ägyptischen Parallelen unter breiter Rezeption von J. Assmann lassen bisweilen den konkreten Bezug zu alttestamentlichen Vorstellungen vermissen.

Kritische Anfragen und vielfältigen Diskussionsbedarf muss man aber im Blick auf den systematischen Anspruch anmelden. Ich greife drei Punkte heraus: 1. Die Verheißung des Titels, der vom Praktischen Theologen Othmar Fuchs entlehnt ist, "Konfliktgespräche mit Gott", wird wenig erfüllt (vgl. dazu den Schlusssatz der Habilitationsschrift von O. Fuchs, Die Klage als Gebet. Eine theologische Besinnung am Beispiel des Psalms 22, München 1982, 359 [vgl. 39, Anm. 161]: "Eine Gottesbeziehung, in der keine Konfliktgespräche möglich sind, ist seicht und lebensfern: Klageabstinenz bedeutet Beziehungs- und Lebensverlust!"). Die atemberaubende Dynamik der Klage, die sich darin artikuliert, dass der Beter Gott kritisiert, wird kaum herausgearbeitet. Der Klage wird so ihre Spitze abgebrochen und ihre Provokation genommen (84). Die Wut gegen Gott, das Schreien über das Versagen Gottes, der Zorn über die Untätigkeit Gottes angesichts empörender Ungerechtigkeiten in der Welt tritt kaum hervor. Klage und Lob werden m. E. nicht in ein angemessenes Verhältnis gerückt. Die Klage verblasst vielmehr immer im Licht des Stimmungsumschwungs. Besonders deutlich wird dies in der Auseinandersetzung mit Bultmanns Deutung des Kreuzeswortes Jesu nach Mk 15,34 (361 f.).

2. Ein zweiter Punkt, der zu Anfragen nötigt, ist das Programm der historischen Anthropologie. Zum einen wird nicht deutlich, warum sich die Darstellung nur auf Klage- und Lobpsalmen des Einzelnen beschränkt. Wäre bei einer historischen Anthropologie nicht das besondere Verhältnis des Einzelnen zur Volksgemeinschaft und ihrer Geschichte zu bedenken (Ps 105/106)? Wie verhält sich das Klagen zum Denken? Es gibt im Psalter auch sehr starke sapientiale, geradezu philosophische Traditionen, die für das Menschenbild der Psalmen nicht ausgeblendet werden dürfen (Ps 1; 49, 73; 90). Vor allem aber wird die Verheißung einer historischen Anthropologie überhaupt nicht erfüllt. Weder werden diachrone Unterschiede in der Sicht des Menschen noch im Weltbild ausgeführt. Eine Geschichte der Klage (und des Lobes) fehlt ebenso. Schon die Gliederung des Stoffes "Vom Leben zum Tod" und "Vom Tod zum Leben" entspricht eher einer philosophischen Konstruktion, nicht dem Aufbau des Psalters. Bedenklich ist auch, dass man nahezu alle Textbeispiele austauschen könnte; so könnte Ps 22 genauso am Anfang stehen wie am Schluss, ebenso Ps 13 usw. Ist das Programm der historischen Anthropologie eher als Apologie durch Historisierung gemeint? Sollen die Härten des Betens damit "entschuldigt" werden, dass damals eben alles anders gewesen sei? Eine historische Anthropologie ist durch das Buch jedenfalls aufgegeben, nicht vorgelegt.

3. Wird der programmatische Ansatz logisch konsequent durchgehalten? Die existentiale Interpretation, welche die philosophische Anthropologie mit der Theorie von Strukturanalogien zwischen damals und jetzt zum wichtigen Hilfsmittel gemacht hatte, um den Gehalt der biblischen Texte in die Gegenwart zu vermitteln, wird implizit und zum Teil explizit scharf abgelehnt (z. B. 2-4). Andererseits aber wird wiederholt Luthers Vorrede zum Psalter zitiert, die aber ein Zeugnis, ja das Manifest eben jener existentialen Interpretation ist. Wie lassen sich Betonung der historischen Einmaligkeit und die Betonung, dass der Psalter den modernen Leser zur rechten Selbsterkenntnis anleitet (370), logisch miteinander vermitteln? M. E. ist es ein Glück, dass J. sein Programm nicht wirklich durchführt, denn sonst wären die Psalmen ganz und gar ins Museum geraten!

Doch gerade, weil es in zentralen Bereichen kritische Debatten auslöst und zu weiterer Arbeit anregt, sollte dieses gewichtige Buch starke Beachtung finden. Das Programm der historischen Anthropologie wird der alttestamentlichen Wissenschaft auch in den theologischen Schwester- sowie den philosophisch-philologischen Nachbardisziplinen Bedeutung verschaffen, wofür man J. nur danken kann.