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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

752–756

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pokorny, Petr, and Jan Roskovec [Eds.]

Titel/Untertitel:

Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. X, 389 S. m. Abb. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 153. Lw. Euro 84,00. ISBN 3-16-147894-0.

Rezensent:

Hans-Christian Kammler

Der anzuzeigende Band dokumentiert jene Beiträge, die auf dem Symposium über "Philosophische Hermeneutik und biblische Exegese" vorgetragen wurden, das in Prag vom 31. Oktober bis zum 3. November 2001 an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Karlsuniversität stattfand. Der Veranstalter des Symposiums war das "Zentrum für biblische Studien der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik und der Karlsuniversität in Prag".

Der Band enthält neben einem einleitenden Aufsatz des Herausgebers Petr Pokorny insgesamt 25 Beiträge. Bei den Autoren handelt es sich sowohl um Alttestamentler und Neutestamentler als auch um Kirchengeschichtler, Systematische Theologen und Philosophen. Nicht wenige Autoren forschen und lehren in der Tschechischen bzw. in der Slowakischen Republik, andere stammen aus Ländern wie Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Ungarn, Kanada, England und Südafrika. So interdisziplinär und international die Autorenschaft ist, so thematisch breit gefächert ist auch der Inhalt des Bandes.

Am Anfang steht ein programmatischer Vortrag von Paul Ricur, der in die Gesamtthematik und in das Spannungsfeld von philosophischer Hermeneutik und biblischer Exegese einführt (7-26). Der zweite Teil umfasst mehrere Studien, die sich vorwiegend im Bereich philosophischer Hermeneutik bewegen und deren Fragen teils in problemorientierten Aufsätzen und teils in der Auseinandersetzung mit bestimmten philosophischen Positionen erörtern (29-100). Darauf folgt ein dritter Teil, in dem Arbeiten zusammengefasst sind, die das Verhältnis von Bibelwissenschaft und allgemeiner Hermeneutik im Gespräch mit gewichtigen philosophisch-hermeneutischen Konzeptionen bedenken (103-218). Im vierten Teil sind dann Aufsätze zusammenge- stellt, die grundsätzliche hermeneutische Fragen in der Beschäftigung mit einzelnen biblischen Texten diskutieren und zu beantworten suchen (221-298). Der fünfte und letzte Teil des Bandes vereinigt schließlich eine Reihe stärker historisch orientierter Arbeiten, in denen vornehmlich klassische Stationen und Positionen patristischer und mittelalterlicher Hermeneutik in den Blick gefasst werden (301-363). Beigefügt sind dem Band - der Ausstattung der "Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament" entsprechend - ein Stellenregister, ein Autorenregister und ein Namen- und Sachregister.

Da ich in dieser Rezension nur einige wenige Beiträge des Bandes vorstellen und würdigen kann, will ich wenigstens eine detaillierte Inhaltsübersicht geben, in der sämtliche Beiträge aufgelistet sind:

Petr Pokorny, Philosophische Hermeneutik und biblische Exegese. Zum Wesen des hermeneutischen Prozesses (1-4). - Erster Teil: Paul Ricur, The Canon between the Text and the Community (7-26). - Zweiter Teil: Zdenek Mathauser, Verständnis und Gültigkeit. Zu künstlerischen und biblischen Texten (29-41). Ladislav Hejdánek, Hermeneutik und die Zeit (42-48). Jaroslav Hroch, Hermeneutics and the Contemporary Anglo-American Philosophy (49-58). Martin Simsa, The Question of Understanding and its Criteria in Conservative and Critical Hermeneutics (59-67). Michael Kirwan, The Limits of Interpretation. The Gadamer - Habermas Conversation and its Implication for Philosophical Hermeneutics (68-82). Ivana Noble, Apophatic Elements in Derrida's Deconstruction (83-93). Jan Dusek, Saying "True" According to A. J. Greimas (94-100). - Dritter Teil: Oswald Bayer, Hermeneutical Theology (103- 120). Jean Grondin, Gadamer and Bultmann (121-143). Hans Hübner, Zuspruch des Seyns und Zuspruch Gottes. Die Spätphilosophie Martin Heideggers und die Hermeneutik des Neuen Testaments (144-175). Manfred Oeming, Existenzerhellung. Karl Jaspers als Ausleger des Alten Testaments (176-190). Jens Schröter, Überlegungen zum Verhältnis von Historiographie und Hermeneutik in der neutestamentlichen Wissenschaft (191-203). Bernard C. Lategan, History, Historiography and Hermeneutics (204-218). - Vierter Teil: Prosper Grech, Inner-biblical Reinterpretation and Modern Hermeneutics (221-237). Jan Sokol, Der zweifache Schöpfungsbericht als hermeneutischer Schlüssel (238-244). Petr Pokorny, Christliche Verkündigung als Modell des hermeneutischen Prozesses nach 1Kor 14,23-25 (245-251). Patrick Chatelion Counet, Paroimiai (John 16:25): A Post-Hermeneutical Model (252-269). Detlev Dormeyer, Interkulturelle Exegese. Der pragmalinguistische "Kommentar für die Praxis" für Lateinamerika und Europa (270-298). - Fünfter Teil: Jaroslav Broz, From Allegory to the Four Senses of Scripture. Hermeneutics of the Church Fathers and of the Christian Middle Ages (301-309). Lenka Karfíková, Res significare habent. Exegese der Schrift und der Wirklichkeit nach Hugo von St. Victor (310-322). Ivanova Noble, The Apophatic Way in Gregory of Nyssa (323-339). Solange Lefebvre, Hermeneutic, Biblical Texts and Interdisciplinary Dialogue. The Question of Creation and Cosmology (340-344). Ferenc Szücs, Reformed Dogmatics as a Hermeneutical Circle Between Exegesis and Preaching (345-351). Eva Kapsová, Intertextuality in Visual Interpretation of Biblical Motifs in Contemporary Slovak Fine Art (352-363).

Einen ersten Höhepunkt des Bandes stellt zweifellos der Eröffnungsvortrag des Philosophen Paul Ricur dar. Seine Überlegungen zu dem Thema "The Canon between the Text and the Community" schreiten einen denkbar weiten Horizont ab und dokumentieren in eindrücklicher Weise, wie sehr der große Gelehrte nicht nur mit den Problemen allgemeiner philosophischer Hermeneutik, sondern auch mit den spezielleren und im engeren Sinne theologischen Fragen nach der Entstehung und der Autorität des neutestamentlichen Kanons vertraut ist. Der Vortrag enthält auf wenigen Seiten eine ganze Fülle origineller und überaus anregender Gedanken. Diese betreffen nach meinem Urteil insbesondere die ekklesiologische Bedeutung der Kanonwerdung. Ricur hebt in seinem Vortrag wiederholt auf die identitätsstiftende Wirkung der neutestamentlichen Kanonbildung ab: "Becoming Canon and becoming Church go hand in hand." (16) Die Relation zwischen dem im Werden begriffenen Kanon des Neuen Testamentes einerseits und der Kirche als der auf diesen Kanon bezogenen Interpretations- und Rezeptionsgemeinschaft andererseits könne durchaus als ein "hermeneutischer Zirkel" beschrieben werden (21 f.). Von Gewicht sind sodann auch Ricurs Überlegungen zur inneren Pluralität des Kanons, die nicht nur durch das Gegenüber von Altem Testament und Neuem Testament gegeben sei, sondern auch den neutestamentlichen Kanon selbst kennzeichne: etwa durch die Viergestalt des Evangelienkanons, durch das Nebeneinander von Evangelien und Briefen und durch die inhaltlichen Divergenzen, die sich zwischen den unterschiedlichen Autoren des Neuen Testaments wahrnehmen lassen. In dieser von Ricur durchaus positiv gewerteten Pluralität zeige sich, dass es sich bei dem Kanon wie bei der Kirche um "an ipse identity rather than an idem identity" handle, "selfhood rather than sameness" (22). Die wohl umstrittenste Frage nach der Autorität des Kanons beantwortet Ricur in den Schlusssätzen seines Vortrages letztlich christologisch: "The residual enigma is certainly this: which greatness is the greatness of the master? What does it mean to recognise the superiority of the master? The Canon of the New Testament is the textual space where the question that is asked is transformed into an answer by the proclamation of the Good News." (26)

Der in Montreal lehrende Philosoph Jean Grondin, der sich vor allem mit seiner 1999 erschienenen Biographie über Hans-Georg Gadamer über die engeren Fachgrenzen hinaus einen Namen gemacht hat, widmet sich in seinem Vortrag einem Thema, zu dem es bisher nur wenige Forschungsbeiträge gibt. Zwar existiert eine ganze Fülle von Arbeiten, die sich je für sich mit den hermeneutischen Positionen von Bultmann oder Gadamer befassen, aber kaum Untersuchungen, die das menschliche und das sachliche Verhältnis der beiden Denker zueinander in den Blick fassen. Trotz einer fast freundschaftlichen Nähe beider finden sich in dem reichen uvre Gadamers auffällig wenige direkte Hinweise oder Bezugnahmen auf Bultmanns Arbeiten zur Hermeneutik. Für diesen Sachverhalt macht Grondin vor allem zwei Gründe namhaft: zum einen Gadamers "respectful distance, in regard to theology and exegesis as such" (122) und zum anderen den Umstand, dass der Philosoph "never saw in Bultmann a real predecessor on his way to hermeneutics" (139). Nach Gadamer gehört der hermeneutische Entwurf Bultmanns trotz aller Anleihen bei Heidegger letztlich noch in das Wirkungsfeld einer von Dilthey geprägten Hermeneutik (139 mit Anm. 53). Dieses Urteil wird Bultmann - wie Grondin zu zeigen vermag - schwerlich gerecht. Es bringt nicht nur die große sachliche Nähe Bultmanns zu Heideggers hermeneutischer Position, wie sie in "Sein und Zeit" entfaltet ist, nicht genügend in Anschlag ("... in many respects, most notably in the stress of authenticity, Bultmann was closer to Heidegger than Gadamer" [142]), sondern es unterschätzt darüber hinaus auch die durchaus vorhandenen Impulse, die Gadamer selbst durch Bultmanns Arbeiten empfangen hat. Die sachlichen Differenzen, die zwischen beiden Denkern bestehen, dürften letztlich darin begründet sein, dass Bultmann - im Unterschied zu Gadamer - den Denkweg Heideggers nach dessen so genannter "Kehre" nicht mehr mitgegangen ist.

Der emeritierte Göttinger Neutestamentler Hans Hübner wendet sich in seinem Aufsatz genau dieser - von Bultmann nicht mehr rezipierten - Spätphilosophie Heideggers zu. Als Quelle dienen ihm postum publizierte Werke aus der zweiten Hälfte der 30er Jahre, insbesondere die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)" (GA 65), die geradezu als das zweite philosophische Hauptwerk Heideggers nach "Sein und Zeit" bezeichnet werden können. Es geht Hübner bei seinem Vergleich zwischen Heidegger und dem Neuen Testament nicht darum, "nach inhaltlichen Parallelen zwischen dem seynsgeschichtlichen Denken Heideggers und dem theologischen Denken des Neuen Testaments Ausschau zu halten", sondern vielmehr um "die Frage nach möglichen Entsprechungen zwischen der philosophischen Denkstruktur des Philosophen und der theologischen Denkstruktur, wie sie bei den neutestamentlichen Autoren nachweisbar" ist (150). In gleichermaßen sensiblen wie minutiösen Interpretationen der überaus schwierigen, ja hermetischen Texte Heideggers gelingt es Hübner, solche Strukturanalogien aufzudecken und auf diese Weise die theologischen Implikationen der Spätphilosophie Heideggers offen zu legen.

Einem bisher noch wenig erforschten Feld widmet sich der Heidelberger Alttestamentler Manfred Oeming in seinem Beitrag "Existenzerhellung. Karl Jaspers als Ausleger des Alten Testaments". Im ersten Teil korrigiert er auf überzeugende Weise das weit verbreitete Vorverständnis von Jaspers als einem bloßen Kritiker des Alten Testaments, um dann im zweiten Teil die wichtigsten inhaltlichen Aspekte der Jasperschen Auslegung des Alten Testaments in den Blick zu nehmen. Oeming bezieht sich in seinen Ausführungen vor allem auf Jaspers 1962 erschienenes religionsphilosophisches Hauptwerk "Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung", daneben aber auch auf eine im Wintersemester 1945/46 in Heidelberg gehaltene Vorlesung mit dem Titel "Von der biblischen Religion". In dem hochinteressanten und mir selbst bisher unbekannten Text der Vorlesung entfaltet Jaspers auf wenigen Seiten mit erstaunlicher Sachkenntnis seine Sicht des Alten Testamentes. Hier wie auch in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk betont Jaspers das im Alten Testament wahrnehmbare spannungsvolle Nebeneinander von Aussagen und Vorstellungen, die auch das philosophische Wahrheitsbewusstsein sich aneignen könne, und solchen Aussagen und Vorstellungen, die philosophisch nicht rezipierbar seien. Eine nach der Gegenwartsrelevanz der biblischen Texte fragende Auslegung - Jaspers nennt sie "wesentliche Auslegung" - sei deshalb immer zugleich "Aneignen und Verwerfen" (zit. 189). Aus den Ausführungen Oemings wird allerdings nicht recht deutlich, wie das sachkritische Kriterium präzise zu bestimmen ist, an dem Jaspers die unterschiedlichen Texte und Gehalte des Alten Testamentes und den in ihnen greifbaren Wahrheitsanspruch misst.

Der in Leipzig lehrende Neutestamentler Jens Schröter entwickelt in seinem Beitrag "einige vorläufige Überlegungen zur Frage nach den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Konstruktion von Geschichte" (191). Er arbeitet zunächst im Gespräch mit Johann Gustav Droysen, dem Begründer der neuzeitlichen Historik, und in Anknüpfung an wichtige neuere historiographische Theorien und geschichtstheoretische Überlegungen den konstruktiven Charakter jeden Geschichtsentwurfes heraus. Im Anschluss daran fragt Schröter nach den Gründen dafür, warum die hermeneutische Diskussion innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft die erkenntnistheoretischen Einsichten in die Bedingungen der Konstruktion von Geschichte bislang nur wenig rezipiert hat.

Auch wenn ich in meiner Besprechung nur auf einige wenige Vorträge des Prager Symposiums eingehen konnte, so sollte doch deutlich geworden sein, wie viele wertvolle Anregungen und weiterführende Impulse die Lektüre dieses thematisch weiten und inhaltlich reichen Bandes verspricht. Nach meinem Urteil ist innerhalb der theologischen Wissenschaft gegenwärtig weniges so dringlich geboten wie eine Intensivierung des Dialogs zwischen den Disziplinen des Alten und des Neuen Testamentes einerseits und den Fächern der Systematischen Theologie und der Philosophie andererseits. Das größte Verdienst des vorgestellten Aufsatzbandes sehe ich deshalb darin, dass er einen wichtigen Beitrag zu genau diesem Dialog leistet.