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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

482–484

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Longenecker, Richard N. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Patterns of Discipleship in the New Testament.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 1996. XI, 308 S. 8 = McMaster New Testament Studies. ISBN 0-8028-4169-4.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Mit diesem ersten Band einer geplanten neuen Publikationenreihe, der McMaster New Testament Studies, stellt sich ein anspruchsvolles Projekt vor. Unter der Leitung von Richard N. Longenecker und der Trägerschaft des McMaster Divinity College, Hamilton, Ontario, Kanada sollen alljährlich bibelwissenschaftliche Symposien veranstaltet werden, deren anschließend publizierte Erträge sich an eine weitere kirchliche Öffentlichkeit wenden. Das erklärte Ziel ist es, Ergebnisse fachexegetischer Studien in allgemeinverständlicher Form zu vermitteln und sie zugleich in den Horizont pastoraler Praxis und gemeindlichen Lebens zu stellen. Nicht nur Theologiestudierende und Pastoren, auch Leser und Leserinnen, die über keine akademische Bildung verfügen, sollen angesprochen werden. Die Notwendigkeit eines solchen Vorhabens liegt angesichts der immer stärkeren Spezialisierung der Bibelwissenschaft und der damit Hand in Hand gehenden Distanzierung von der kirchlichen Basis auf der Hand. Die Schwierigkeit seiner Realisierung ist jedoch nicht zu unterschätzen, wie bereits der vorliegende Band zeigt.

Der in der Titelangabe erscheinende Begriff "Discipleship" teilt mit seinen beiden deutschen Äquivalenten "Jüngerschaft" und "Nachfolge" das Geschick der Nivellierung zu einer inhaltsleer gewordenen Vokabel kirchlicher Erbaulichkeitssprache. Demgegenüber wollen die hier vereinigten neutestamentlichen Beiträge zu einem vertieften Verständnis helfen. Das kann nun freilich nicht auf dem Wege bloßer Begriffsanalysen geschehen. Denn bekanntlich sind (wie der Herausgeber bereits in seinem einleitenden linguistischen Bemerkungen betont) die Vorkommen der Termini "Jünger" und "nachfolgen" neutestamentlich im wesentlichen auf die Evangelien und die Apostelgeschichte beschränkt. Die Aufgabe erweitert sich also. Gefragt werden muß nach dem Gesamtbereich dessen, worauf heutiges Reden von "Jüngerschaft" bzw. "Nachfolge" - sofern man es beim Wort nimmt - intentional verweist, nämlich nach authentischer christlicher Existenz. So ergibt sich die alle Beiträge des Bandes verbindende Leitfrage: Welche Faktoren sind nach dem Zeugnis der neutestamentlichen Schriften für christliches Leben konstitutiv, und welches Bild des Christen zeichnen sie?

Weil die Antworten darauf je nach den theologischen Voraussetzungen und den geschichtlichen Rahmenbedingungen der neutestamentlichen Schriften bzw. Schriftengruppen recht unterschiedlich ausfallen, können sie nur auf dem Wege historisch-exegetischer Einzelstudien erhoben werden. Demgemäß präsentiert sich der Band als eine Addition thematisch zentrierter Kurzdarstellungen der verschiedenen neutestamentlichen Theologien. Sehr schnell wird erkennbar, daß deren Verfasser sich in ihren methodischen Ansätzen nicht unerheblich voneinander unterscheiden. Das macht die Lektüre für den mit der Materie Vertrauten reizvoll. Er erhält hier gleichsam praktischen Anschauungsunterricht über die Effizienz und Reichweite verschiedener Methoden. Aber ob das auch dem intendierten Leserkreis von Nicht-Fachleuten dienlich ist, erscheint mir fraglich. Wird durch diese Variationsbreite im Methodischen der Zugang zu der an sich schon verwirrenden Vielfalt der Einzelbefunde nicht eher erschwert?

So ist der den Band eröffnende Beitrag über Jüngerschaft und Nachfolge bei Markus (L. W. Hurtado) redaktionsgeschichtlich orientiert. Sein Ergebnis faßt einen bekannten Sachverhalt gut zusammen: Die Jünger erscheinen bei Mk gerade in ihrer Schwäche und ihrem Versagen als Urbilder der Gemeinde; nicht sie, sondern Jesus selbst ist Gegenstand und Paradigma von Nachfolge. Matthäus wird in einer der Erzähltheorie von A. J. Greimas verpflichteten narrative Analyse (T. L. Donaldson) behandelt, die trotz beträchtlichen Aufwands recht eindimensional ist. Wesentliche Bezüge der mt Jüngerdarstellung bleiben unberücksichtigt, weil das angewandte Instrumentarium für ihre Erfassung nicht ausreicht.

Ein positives Gegenbeispiel dazu ist der Beitrag des Herausgebers R. N. Longenecker zum lukanischen Doppelwerk. In fruchtbarer Verbindung von Quellenkritik und Redaktionsgeschichte gelingt es hier, wesentliche Aspekte des lk Verständnisses von Jüngerschaft zu erfassen und differenziert auszuwerten. Dabei wird in vorbildlicher Weise die Intention des Gesamtprojekts, komplexe wissenschaftliche Sachverhalte in einer auch für Laien durchsichtigen Weise darzustellen, realisiert. In der Darstellung der johanneischen Problematik (M. R. Hillmer) dominiert die entwicklungsgeschichtliche Sichtweise: Die Christozentrik des joh. Jüngerbildes wird als Ergebnis von spezifischen Erfahrungen der joh. Gruppe und deren internen Konstellationen erklärt, wobei der Vf. der Versuchung nicht widerstehen kann, nahezu die gesamte neuere Johannesforschung in konzentrierter Form mit einzubringen. Die Beiträge zu Paulus thematisieren einige Motive, an denen sich modellhaft zeigen läßt, wie der Apostel Wesen und Voraussetzungen christlicher Existenz theologisch deutet. In drei Beiträgen zu diesem Bereich dominiert die Einzelauslegung zentraler Schlüsselstellen. So konzentriert sich J. A. D. Weima auf das Motiv der Heiligkeit in 1Thess 4,1-12. L. L. Belleville geht dem Motiv der doppelten Imitatio in der Korintherkorrespondenz (der Apostel als "Nachahmer Christi" - die Gemeinde als "Nachahmerin" des Apostels - anhand einer Auslegung von 1Kor 4,16; 11,1; 2Kor 1,24; 4,5; 5,14; 8,9; 10,1; 8,1-5) nach, und G. F. Hawthorne behandelt den Philipperbrief unter der gleichen Fragestellung, wobei naturgemäß der Hymnus Phil 2,5-11 im Mittelpunkt steht. Die Studie von L. A. Jervis zum Römerbrief zum Thema "Becoming like God through Christ" räumt dem religionsgeschichtlichen Vergleich breiten Raum ein, indem sie zeigt, wie Paulus das in der hellenistisch-römischen Antike wie auch im hellenistischen Judentum vorgegebene Motiv des Strebens nach Gottgleichheit von seiner Christologie und Rechtfertigungslehre her charakteristisch abwandelt.

Aus dem Bereich der Deuteropaulinen kommt lediglich der Kolosserbrief zu Wort in Gestalt einer (allzu) dichten, um die Erfassung der wissenschaftlichen Diskussion bemühten Gesamtauslegung (M. P. Knowles). Instruktive Überblicksdarstellungen sind den Ansätzen der Ethik des Hebräerbriefes (W. L. Lane) und des Jakobusbriefes (P. H. Davids) gewidmet. Einen methodisch ganz eigenen Weg beschreitet J. R. Michaels bei seinem nicht unproblematischen Versuch, das Unterwegssein zur himmlischen Heimat als zentrales Motiv christlichen Selbstverständnisses im 1Petrusbrief darzustellen. Er orientiert sich nämlich an der Wirkungsgeschichte, indem er John Bunyan’s "Pilgrim’s Progress" als Deutungsschlüssel wählt. Der den Band beschließende Beitrag zur Johannesoffenbarung (D. E. Aune) konzentriert sich naheliegenderweise auf die Aussage über die "dem Lamm" Nachfolgenden 144 000 in Offb 14,1-5. In einer eindringenden Exegese wird der rigoristische Grundzug des hier vorliegenden Nachfolge-Verständnisses herausgestellt: Christliche Existenz erscheint als Nachvollzug des Weges Jesu zum Kreuz und damit als grundsätzliche Bereitschaft, Leiden und Tod als Konsequenz der Treue zu Gott und dem "Lamm" auf sich zu nehmen.

Eine abschließende Sichtung und Auswertung der Ergebnisse fehlt. Das ist angesichts der Zielsetzung des Bandes wie des Gesamtprojektes ein gravierender Mangel. Zusammenschau der Ergebnisse und Transfer auf die heutige Situation von Christen und Kirchen bleiben dem Leser überlassen. Die von einzelnen (keineswegs von sämtlichen!) Beiträgen gebotenen Schlußzusammenfassungen bieten keinen Ersatz, zumal sie fast durchweg blaß und formelhaft sind. Den angestrebten Nachweis von Relevanz und Aktualität von Exegese bleibt der Band am Ende so leider doch schuldig.