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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

747–749

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lindner, Helgo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

"Ich bin ein Hebräer". Gedenken an Otto Michel (1903-1993). Hrsg. in Verbindung m. d. Otto-Michel-Arbeitsgemeinschaft.

Verlag:

Gießen-Basel: Brunnen Verlag 2003. 472 S. m. zahlr. Abb. 8. Kart. Euro 24,95. ISBN 3-7655-1318-0.

Rezensent:

Werner Neuer

Der viele Jahre in Tübingen wirkende Neutestamentler Otto Michel - in der wissenschaftlichen Welt vor allem bekannt geworden durch seine Kommentare zum Römer- und Hebräerbrief, durch seine zweisprachige Ausgabe von Josephus' "De bello Judaico" und durch die Begründung des Tübinger Institutum Iudaicum - hat im deutschen Protestantismus weit über seine wissenschaftlichen Arbeiten hinaus eine bislang wenig bekannte und kaum erforschte, aber gleichwohl nicht zu unterschätzende Wirkungsgeschichte entfaltet. Es ist das Verdienst des vorliegenden Sammelbandes, einen lebendigen und zugleich wissenschaftlich fundierten Gesamteindruck von der Vielseitigkeit des Lebens und Wirkens Otto Michels zu vermitteln.

Der von Michels ehemaligem Assistenten Helgo Lindner herausgegebene Band enthält Beiträge von über 30 Autoren aus dem Freundes- und Schülerkreis. Er beginnt mit Aufsätzen (von P. Beyerhaus, O. Betz, R. Braun, H. Frische, K. Sundermeier, J. M. Wischnath und C. Völkner) zu einzelnen Aspekten der Biographie Michels, die vor allem seine Wahrnehmung kirchlicher Verantwortung thematisieren (I. Lebensgang und Kampf um den Weg der Kirche: 21-136), und behandelt dann (durch Beiträge von A. Fischer, B. Klappert, E. Lubahn, T. Pola u. P. Schmidt) exemplarisch einzelne Aspekte seiner Theologie (II. Der Theologe: 137-272). Im dritten Teil kommen Schüler Michels (A. Baumann, E. L. Ehrlich, A. Finkel, W. Grimm, R. Jewett, E. Kamlah) zu Wort, die sich - wie Otto Michel - Themen und Denkweisen widmen, welche der jüdischen und der christlichen Theologie gemeinsam sind (III. Aus Otto Michels Arbeitsgebieten: 273-356). An sie schließen sich persönliche Zeugnisse an (von K. Brandt, E. Cohen, G. Gläser, I. Gesk, E. Güting, R. v. Lamezan, P. B. Müller OSB), die Michel als Freund und Wegbegleiter schildern (IV. Begegnung und Weggemeinschaft - persönliche Zeugnisse: 357-386). Der Band wird beschlossen durch einen Dokumentationsteil (mit Dokumenten von O. Michel u. E. M. Semmelroth und der Beerdigungsansprache von P. Beyerhaus) (V. Dokumentation: 387-414) und einen Anhang (VI.: 415-472), der u. a. die (von T. Pola, R. Riesner, C. Hägele und J. Krekeler) erstellte Bibliographie Michels, einen (von J. M. Wischnath verantworteten) Beitrag zur Erschließung der zahlreichen Tondokumente von Michels Vorträgen, Kurzporträts der Autoren, Bildnachweise und Personenregister enthält. Der Herausgeber kommt in dem Band fünfmal zu Wort: durch ein Vorwort (5 f.), eine Einleitung (11-19), einen biographischen Beitrag (83-99) und zwei theologische Aufsätze (234-246.262-272).

Der Sammelband gibt einen guten Eindruck von der ungewöhnlichen Vielseitigkeit, die Michels kirchliche Wirksamkeit bestimmt hat, und von dem Reichtum, der Tiefe, der biblischen Verankerung und der Gegenwartsbezogenheit seines theologischen Denkens, das sich bei allem Ernstnehmen der geschichtlichen Dimension der biblischen Offenbarung nicht vom begrenzten Horizont historisch-philologischer Fragen gefangen nehmen ließ, sondern eine beachtliche Breite systematisch-theologischer und kirchlich relevanter Fragestellungen aufzunehmen suchte. Darüber hinaus beschränkte sich Michel - wie seine Lehrer J. Schniewind und A. Schlatter - nicht auf eine rein wissenschaftliche Tätigkeit, sondern widmete sich in imponierendem Umfang der Wegbegleitung zahlreicher Studenten, Pfarrer und auch Nichttheologen. Darüber hinaus meldete er sich immer wieder sehr profiliert (und häufig gegen die herrschende Überzeugung der theologisch-kirchlichen Majorität) zu grundlegenden Kontroversen der zeitgenössischen Theologie und Kirche zu Wort.

Der Band zeigt die Unmöglichkeit auf, das an der Komplexität des Wirklichen und der biblischen Botschaft ausgerichtete Denken des Tübinger Neutestamentlers auf einfache oder auch nur die üblichen Antworten zu reduzieren: Beredt ist in dieser Hinsicht z. B. Michels schwer zu beschreibendes Verhältnis zum Rheinischen Synodenbeschluss bzgl. des Verhältnisses von Christen und Juden (vgl. dazu die Beiträge von Klappert [222-233] und Lindner [234-246]). Diese oft schwierige Darstellung der von ihm vertretenen Positionen wird nicht dadurch aufgehoben, dass Michel andererseits nach Kräften bemüht war, die in der protestantischen Theologie nicht selten anzutreffende pluralistische Beliebigkeit zu überwinden und der unverzichtbaren Bekenntnisdimension christlicher Theologie Rechnung zu tragen. Besonders eindrucksvoll sichtbar wird dies an dem wissenschaftlich wohl bedeutendsten Beitrag von Johannes Michael Wischnath (Leiter des Tübinger Universitätsarchives), der auf Grund unveröffentlichter Quellen (vor allem Briefe) minutiös Michels Stellung zu der nach dem 2. Weltkrieg in der württembergischen Kirche eskalierenden Kontroverse über Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm (48-78) nachzeichnet: Wischnaths Aufsatz macht deutlich, dass Michel sich trotz seiner von Anfang an vorhandenen Bedenken gegenüber Bultmanns Konzeption erst nach der (maßgeblich von Rückert und Ebeling formulierten und am 4. März 1952 von der Tübinger Fakultät angenommenen) "Denkschrift" zu Bultmanns Theologie schließlich (u. a. beeinflusst von Adolf Schlatters biblischer Hermeneutik) zu einer "klaren und eindeutigen Stellungnahme" (63) genötigt sah, da er in der Denkschrift trotz vieler richtiger Feststellungen "letztlich eine klare, schriftgemäße Ausrichtung" vermisste (68). Eine solche eindeutige Stellungnahme versuchte Michel - den Konflikt mit der eigenen Fakultät nicht scheuend, aber ausdrücklich ermutigt von seinem theologischen Kontrahenten Rückert (67) - durch ein "kritisches Wort" zum Fakultätsgutachten zu geben, das er 1953 im württembergischen Pfarrerblatt "Für Arbeit und Besinnung" veröffentlichte und das im vorliegenden Band im Wortlaut dokumentiert ist (392-397).

Michels Dringen auf eine biblisch fundierte und in der Sache eindeutige Ablehnung von Bultmanns Entmythologisierungsprogramm verband sich bei ihm mit einem grundsätzlichen Ja zur wissenschaftlichen Kritik und einem hohen Respekt vor der Freiheit von Forschung und Lehre als unabdingbarer Voraussetzung aller wissenschaftlichen Arbeit, die Michel durchaus auch gegen Infragestellungen durch bekennende Gruppen geltend zu machen wusste, deren Ablehnung von Bultmanns Theologie er teilte (58). Bei seinem doppelten Bemühen, sowohl der Freiheit der Wissenschaft als auch der für die christliche Theologie konstitutiven Bindung an die Heilige Schrift Rechnung zu tragen, die einer Harmonisierung unterschiedlicher Positionen definitive Grenzen setzt (396), berief sich Michel auf die Erfahrung des Kirchenkampfes und die der dogmatischen Besinnung eigene Nötigung, "nach der Wahrheit der Aussage" zu fragen, die im "normierende[n]" Bibeltext als "Voraussetzung des theologischen Denkens und des kirchlichen Handelns" gründet (393).

Michels Konflikt mit der Tübinger Fakultät in der Auseinandersetzung mit Bultmann hatte - wie Lindner in seiner Einleitung zu Recht feststellt - eine paradigmatische Bedeutung für sein "gesamtes Leben und Wirken" (13): Sein ungewöhnlich starkes Engagement für Gruppen und Institutionen, die sich - häufig in Opposition zu den herrschenden theologischen und kirchenpolitischen Mehrheiten - einer schriftgebundenen Theologie und Frömmigkeit verpflichtet wussten (z. B. die Studentenmission in Deutschland [SMD], die Ferienseminare der Pfarrergebetsbruderschaft [PGB], das Tübinger Albrecht-Bengel-Haus [ABH] oder der Theologische Konvent der Konferenz Bekennender Gemeinschaften) entsprach jener Grundentscheidung, die er in der Auseinandersetzung um Bultmanns Theologie zu fällen sich genötigt sah. Dass er in all dem eine innere Unabhängigkeit gegenüber allen theologischen und kirchlichen Richtungen zu wahren wusste, belegt die Tatsache, dass er "Menschen mit sehr unterschiedlicher und oft gegensätzlicher Einstellung unter seinen Freunden, ja unter seinen Kampfgenossen gehabt und behalten (!)" hat: "Freunde und Gegner der kritischen Forschung, Feinde und Vertreter der Judenmission, Hochkirchler, Charismatiker und Freigeister konnten sich bei ihm verstanden fühlen und mit ihm verbunden bleiben" (16).

Es ist dem Herausgeber und den Autoren zu danken, das Leben und das theologische Profil eines Exegeten verdeutlicht zu haben, der für nicht wenige Zeitgenossen und erst Recht für viele Nachgeborene zu den großen Unbekannten der Theologie des 20. Jh.s gehörte. Damit ist für weitere Forschungen ein Anfang gemacht, der hoffen lässt.