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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

745 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Scharfe, Martin

Titel/Untertitel:

Über die Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2004. XII, 331 S. m. Abb. gr.8. Lw. Euro 34,90. ISBN 3-412-07504-3.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Religion wird bei uns gewöhnlich als Beziehung eines Subjekts zu Gott oder einer überirdischen höchsten Gestalt definiert. Damit ist Religion im Zusammenhang des traditionellen Christentums verstanden und mit der Frömmigkeit in eins gesetzt. Dieses Verständnis von Religion impliziert ein subjektives Verhältnis zu Gott und fordert zugleich zu einem bestimmten Verhalten der Menschen auf. Eine solche stark emotional wertende Sicht ist zweifellos nicht jedermanns Sache. Den hier möglich werdenden Einspruch gegen den eben skizzierten Religionsbegriff zu berücksichtigen, ist die Besonderheit der Untersuchung von Martin Scharfe, der als Professor für Europäische Ethnologie und Kulturwissenschaft in Marburg lehrte. Er will Religion nicht exklusiv als Relation von Gott und Mensch verstehen, sondern als Teil der von Menschen geschaffenen Kultur. Religion wird also gleichsam objektiv, von außen, also unvoreingenommen als kulturelles Werk betrachtet, als Werk der Menschen.

Damit stehen in dieser Untersuchung nicht Glaubensfragen oder spezielle theologische Probleme im Vordergrund. Vielmehr geht es um die Religion in ihrer Gestalt, wie sie im Alltag empirisch wahrgenommen werden kann. S. will dabei Religion - im deutschen Sprachraum - nicht konfessionell bezogen, sondern sowohl überkonfessionell als auch überhistorisch beschreiben. Zugleich soll hier nicht nur die Religion als kultureller Entwurf gewürdigt werden, sondern erstmals auch der Bereich ihres Gegenteils, also der Zweifel resp. die gewöhnliche Gottlosigkeit. Damit setzt S. der Praxis pietatis den Atheismus als kulturellen Gegenentwurf zur Seite. Dieses Vorhaben realisiert S. in den drei Teilen seines Werkes, deren erster sich allgemeinen Problemen und Methodenfragen zuwendet, während der zweite den Figuren, Gebärden und Szenen des Glaubens und der dritte denjenigen des Zweifels gewidmet ist.

Im Rahmen der methodischen Reflexionen (1-81) S.s ist die Feststellung wichtig, dass unsere gegenwärtige Kultur bis zur heutigen Zeit christlich geprägt ist. Daraus leitet er die wichtige Formel von der "Religionsanalyse als Königsweg der Kulturanalyse" (5) ab. Damit erscheint nur durch das Verständnis des eigenen religiösen Herkommens ein tieferes Verständnis unserer Kultur möglich. Religion wird so als kultureller Entwurf und kulturelle Objektivation begriffen - wobei die Perspektive des Alltags und nicht die der Glaubensvirtuosen im Zentrum steht.

Im zweiten Teil (82-156) stellt S. unter den Oberbegriffen von Gesetzlichkeit und Aufbruch anhand eines sehr umfangreichen Materials Grundtypen der Religiosität dar. Den ersten Typus, auch als legales Christentum bezeichnet, legt S. an religiösen Sachverhalten wie Ritus, Betonung, Gebärde, ja dem richtigen Platz in der Kirche dar. Hier geht es um die äußere, gewohnheitsmäßige Gestaltung des Christentums. Dagegen steht, als Vertreter "des wahren, des erweckten, des inneren Christentums" (102) der Pietismus - wobei S. in Folge seiner Interpretation des Bildtypus der beiden Lebenswege der Menschen, des breiten und schmalen Weges, der Nachweis gelingt, dass der Pietismus selbst durch die Festlegung bestimmten Verhaltens zum legalen Christentum mutiert.

In diesem Teil werden zudem die wichtigen Personen des Glaubens - Gott, Heilige, Fromme - in ihren kulturellen Ausprägungen typisiert und dann die verschiedenen Formen der Frömmigkeit als Vergegenwärtigung des Heiligen vorgestellt. Hier ist besonders auf die eindrucksvolle Schilderung des Mirakel- und Wunderwesens wie des Wallfahrts- und Votivwesens (141-152) hinzuweisen, aber auch auf die von S. erarbeitete Relation von Glauben und Aberglauben: "Superstition ist ... nicht irrational. Sie hat auch keine mindere Logik als die, welche unserem modernen Alltagshandeln zugrunde liegt - sie hat nur eine andere Logik, die aber derjenigen, auf welcher die Religion aufruht, vergleichbar ist" (156). Und eben dies begründet zugleich die hohe Animosität von Theologie und Kirche bei Grenzüberschreitungen.

Im dritten Teil (157-252) wird dann nach der kulturellen Bezogenheit des Zweifels gefragt. Grundsätzlich beurteilt S. "Akte der Gotteslästerung" als "Zeichen einer Auflehnung gegen die herrschende Kultur" (157) und ihre Herrscher. Doch wird hier nicht nur die Religion als Illusion entlarvt, sondern es werden zugleich die Voraussetzungen zu etwas Neuem geschaffen, und von S. folgerichtig in dem pointierten Begriff der "Blasphemie als Kultur" (158) zusammengefasst.

Die vielen historischen Belege von Blasphemie, die S. anführt, weisen jedoch immer noch auf die ungebrochene Kraft des Religiösen hin, die doch gebrochen werden sollte. Daraus zieht S. den Schluss, "dass Blasphemie und Sakrileg ernstzunehmende und höchst eigenständige, kreative religiöse Leistungen sind" (207), denn die Gottlosigkeit lässt sich nur durch den Bezug auf Gott bestimmen. Jedoch, und das wird überzeugend an Gottfried Kellers Grünem Heinrich entwickelt, entsteht aus dem gleichsam noch kindlichen Zweifel der Abschied von der Kindheit: "Am Ende des schmerzenden Prozesses aber steht dann das Offene, der Ausblick, das Neue, die Zukunft ... Der junge Zweifler ist der Mensch der neuen Kultur" (217). Hier sind die wissenschaftlich-technischen Selbstermächtigungsprozesse der Menschen angesprochen, mit denen entsprechende geistige Emanzipationsprozesse einhergehen.

Auch wenn S. am Ende seiner Betrachtungen den "Bedeutungsverlust der Kirche" (243) konstatiert, so gelangt er doch in Abwägung der Auffassungen zur Religion von Simmel, Freud und Marx zu einer gegenwärtigen Bedeutungszuschreibung an die Religion. Sie liegt aber nicht in der Lösung von Lebensnöten, wohl aber in der nicht zu unterschätzenden Möglichkeit, diese Nöte überhaupt formulieren zu können. Und eben dies ist auch für die heutige Zeit die große Aufgabe und Möglichkeit der Religion.

Dieses Buch wäre theologisch falsch betrachtet, wollte man es von einem dogmatischen Begriff der Religion bewerten. Allein schon der große Fundus an religiösen Zeugnissen aus Historie und Gegenwart, aus dem S. schöpft, macht dieses Buch zu einer bereichernden Lektüre. Der Theologie vermittelt es nicht nur wichtige Einblicke in die gegenwärtige religiöse Lage, sondern verweist zugleich mit der Möglichkeit von Religion, Lebensnöte überhaupt noch formulieren zu können, auf ihren wichtigsten gegenwärtigen Aufgabenbereich hin, der zugleich als Anknüpfungspunkt an die Wirklichkeit heutiger Menschen dienen kann.