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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

739–741

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Baumann, Martin

Titel/Untertitel:

Alte Götter in neuer Heimat. Religionswissenschaftliche Analyse zur Diaspora am Beispiel von Hindus auf Trinidad.

Verlag:

Marburg: Diagonal-Verlag 2003. 359 S. m. Abb. u. Tab. 8 = Religionswissenschaftliche Reihe, 18. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-927165-83-2

Rezensent:

Friedrich Huber

Die hier angezeigte Abhandlung verbindet zwei Anliegen. Sie bietet zum einen eine knappe, aber vorzügliche Übersicht über die weltweite hinduistische Diaspora (Kapitel III) und eine eingehende Darstellung der hinduistischen Gemeinschaft auf Trinidad, einschließlich der Wandlungen, die diese Gemeinschaft seit ihrer Gründung im Jahr 1845 durchmachte (Kapitel IV). Zum andern aber - und darin liegt das Hauptanliegen der Arbeit - wird die Vorstellung der Diaspora so ausgearbeitet, dass sie als "Analyseinstrument" (44 u. ö.) für religiöse Gemeinschaften in fremder Kultur dienen kann.

Die Arbeit zeichnet sich durch ein sehr sorgfältiges und wohl durchdachtes methodisches Vorgehen aus. Als wichtigstes Kennzeichen von Diaspora stellt der Vf. den "identifikatorischen Rückbezug auf ein fiktives oder real existierendes, geographisch entfernt liegendes Land und dessen kuturell-religiöse Traditionen" heraus (279 u. ö.). Damit schließt er sich zum Teil den Ergebnissen von Untersuchungen in anderen Forschungsbereichen zum Thema "Diaspora" an. Im Unterschied zu ihnen unterstreicht er jedoch die Bedeutung des religiösen Faktors, der in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen vernachlässigt wird. Der Vf. vermutet dahinter das unreflektierte Vorurteil, dass Religion obsolet (30) und mit der Moderne unvereinbar (280) sei.

Der Vf. überprüft sein Verständnis von Diaspora zunächst an zwei Beispielen aus der Vergangenheit: der jüdischen Diaspora zur Zeit des Zweiten Tempels und den in der ersten Hälfte des 1. Jt.s v. Chr. gebildeten griechischen Kolonien. Wenn sich auch nicht alle Aspekte dieser Fallbeispiele verallgemeinern lassen (vgl. z. B. das soteriologische Diaspora-Verständnis im Judentum), so treten doch die Bedeutung der Religion und der dreipolige Charakter "diasporischer" Beziehungen hervor, nämlich der Beziehungen zwischen "Residenzgesellschaft, Diaspora-Gruppe und Herkunftskultur" (70 u. ö.), wobei zu Letzterer wesentlich auch die Religion gehört.

Dass dieses dreipolige Beziehungsgeflecht sich in sehr vielfältiger Weise entwickeln kann, wird dann an der hinduistischen Diaspora in Trinidad veranschaulicht. In eindrücklicher Weise zeigt der Vf. auf, wie die anfängliche scharfe Abgrenzung gegen die Residenzgesellschaft und die ausschließliche Orientierung an Herkunftskultur und -religion im 20. Jh. einer schrittweisen Öffnung zur trinidadischen Gesellschaft und Kultur wichen, ohne dass die identifikatorische Rückbeziehung zur indischen Kultur und zu indischen Formen hinduistischer Frömmigkeitspraxis aufgegeben worden wäre. In diesem Zusammenhang bietet der Vf. eine große Fülle von Beobachtungen, die hier nicht wiedergegeben werden kann. Es sei lediglich auf einige besonders interessante Gesichtspunkte hingewiesen. Als in den 50er Jahren des 20. Jh.s in Trinidad hinduistische Schulen gegründet wurden, führte dies nicht - wie von manchen befürchtet - zu einer Absonderung der Schüler und Schülerinnen von der trinidadischen Gesellschaft, sondern im Gegenteil zu einer stärkeren Integration. Der Unterricht ermöglichte es den Kindern, gut bezahlte Berufe zu ergreifen und so in die Gesellschaft hineinzuwachsen. In religionskundlicher Hinsicht besonders aufschlussreich sind die Ausführungen darüber, wie sich der Hinduismus im Kontext Trinidads entwickelt hat (Kapitel V). Der identifikatorische Rückbezug nach Indien wurde zwar beibehalten. Trotzdem kam es durch die diasporische Situation auch zu Modifikationen des Hinduismus und seiner Praxis. Während in Indien der Tempelkult in der Regel keine Angelegenheit der Gemeinschaft ist, werden in Trinidad gemeinsame kultische Veranstaltungen am Sonntagvormittag gehalten mit Liedern und einer Ansprache. Dem entspricht die Herausbildung einer trinidadischen Tempelform, die den traditionellen Tempel und eine Versammlungshalle verbindet. Im Versammlungsraum stehen die Statuen der Gottheiten auf erhöhten Plattformen, während die Kultteilnehmer auf Bänken sitzen. Die Rolle des Priesters hat sich der eines christlichen Priesters oder Pfarrers angenähert. In Anlehnung an christliche Glaubensbekenntnisse hat die Sanatan Dharma Maha Sabha auch ein hinduistisches Glaubensbekenntnis ("Our Creed") formuliert, in dem in sieben Abschnitten zentrale Glaubensinhalte des Hinduismus festgehalten werden (264-266). Der Vf. beschreibt diesen Vorgang als "Essentialisierung" (290). Zudem wird der Hinduismus nicht mehr als die alle Bereiche des Lebens bestimmende Größe betrachtet, sondern als gesonderter religiöser Bereich verstanden ("Kompartmentalisierung", 293-299).

Aus den Untersuchungen der jüdischen, der griechischen und der hinduistischen Diaspora gewinnt der Vf. Gesichtspunkte, die bei der Erforschung von religiösen Gemeinschaften in fremder kultureller Umgebung leitend sein können. Damit entwickelt er die Diaspora-Vorstellung zu einem "Analyseinstrument". Dies geschieht in dreifacher Weise. Erstens werden die in dem dreipoligen Beziehungsgeflecht von Herkunftsland, Diaspora-Gruppe und Aufnahmegesellschaft angelegten verschiedenen Beziehungsmöglichkeiten entfaltet (228-248). Zweitens werden mögliche "Forschungsfelder" benannt (285-292). Und drittens wird ein in sechs Phasen gegliedertes Verlaufsschema der Entwicklung von Diaspora-Gemeinschaften vorgestellt (299-306). Dabei ist sich der Vf. bewusst, dass dieses Schema nicht als starres Gesetz verstanden werden darf, sondern dass mit Überlappungen und ganz unterschiedlichen zeitlichen Abläufen gerechnet werden muss.

Die Arbeit bietet ein gut fundiertes, in Gespräch und Auseinandersetzung mit Nachbardisziplinen entwickeltes und an einigen Beispielen erprobtes Modell der Analyse von religiösen Gemeinschaften in fremder kultureller Umgebung. Die Fülle der vom Vf. dargestellten und zu einem Modell der Erforschung religiöser Gemeinschaften in kulturell fremder Umgebung verdichteten Aspekte dürfte für alle künftigen entsprechenden Untersuchungen eine unverzichtbare Hilfe sein. Ob sich das Modell in allen Fällen bewähren wird, wird sich zeigen müssen. Möglicherweise erfordern neue Phänomene auch eine Erweiterung und Modifizierung des Analyse-Modells, wofür dieses auch offen ist. Dem Vf. kommt jedenfalls das Verdienst zu, eine unentbehrliche methodische Grundlage geschaffen zu haben.