Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

727–740

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Schneider-Flume, Gunda

Titel/Untertitel:

Der Realismus der Barmherzigkeit in der Gesellschaft1

Überlegungen zur theologischen Debatte um die Bioethik

"Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte." In dieser alttestamentlichen Gnadenformel kommt zum Ausdruck, dass die Bibel nicht von einem unbestimmten Gott, sondern konkret von dem Gott des Erbarmens spricht. Wolf Krötke hat in seinem die Wahrheit, die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Rede von Gott bedenkenden Werk über "Gottes Klarheiten" den Sprachraum umschrieben, den die Rede von den Eigenschaften des in Jesus Christus Mensch gewordenen Gottes eröffnet.2 Eigenschaften sind "als Konkretionen seiner Wirklichkeit im Zuge einer Bewegung Gottes auf die Menschen zu" zu verstehen.3 In der hier unter dem Titel "Realismus der Barmherzigkeit" angesprochenen Thematik geht es um die sich im Sprachraum Gottes eröffnende Wirklichkeit in der Welt.

Das Reden von Gott und seinen Eigenschaften erschließt mit der einen Sprachraum schaffenden Bewegung Gottes auf die Menschen zu die Geschichte Gottes mit den Menschen, die Weltlichkeit Gottes und zugleich neue Weltwirklichkeit. In der Bewegung und in der in den vielen Geschichten der biblischen Tradition erzählten Geschichte Gottes kommt Gott konkret zur Sprache, indem von Weltwirklichkeit gesprochen wird. Die Eigenschaften Gottes werden von Krötke interpretiert als "Pointen der jeweils erfahrenen Anrede Gottes"4 oder mit Ingolf Dalferth als "Kurzfassungen der Geschichte ... die mit Gott in der Erfahrung seiner Anrede ... erlebt wurde."5 Kurzgeschichten lassen Gotteswirklichkeit und durch Gott erschlossene Weltwirklichkeit aufscheinen. Die während des staatlich verordneten Atheismus geübte Religionskritik an einem höchsten, verursachenden Wesen, das letztlich nur lächerlich gemacht werden konnte, kann so überholt und aktualisiert werden durch den Streit um Wirklichkeit. Wo von Gott geredet wird, wird um Wirklichkeit gestritten, denn Wirklichkeit ist nicht selbstverständlich, und die Wirklichkeit, die mit dem Titel "Realismus der Barmherzigkeit" angesprochen ist, schon gar nicht.

Während der metaphysische Gottesbegriff als allumfassender Begriff und damit gleichsam als leerer Sprachraum gedacht werden kann, der erst gefüllt werden muss, sind mit den Eigenschaften Gottes konkrete Gotteswirklichkeit und konkrete Lebensmöglichkeit angesprochen. Erbarmen beschreibt die Bewegung der Geschichte Gottes. Erbarmen ist die freiwillige Selbstzurücknahme, um Leben Raum zu geben, so wie die Mutter vor dem weisen Salomo sich zurücknahm, um ihrem Kind Lebensraum zu geben und es nicht vom Schwert zerteilen zu lassen, "denn ihr mütterliches Herz entbrannte in Liebe" (1Kön 3,26).

Im Folgenden soll dieser Bewegung des Erbarmens nachgegangen werden. In einem ersten Abschnitt wird Erbarmen als Eigenschaft Gottes und Bewegung der Geschichte Gottes in der biblischen Tradition verfolgt. Dabei geht es auch um die Frage nach der Einheit der Schrift trotz des Pluralismus der biblischen Geschichten und um die Frage nach der Spannung zwischen den vielen Gottesvorstellungen und der Wirklichkeit des einen biblischen Gottes. Pluralismus als innerbiblisches und innertheologisches Problem der Schriftauslegung und der Gotteslehre steht dabei ebenso im Zentrum wie die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit.

In einem zweiten Abschnitt soll der Realismus des Erbarmens an einem gesellschaftlichen Problem, der gegenwärtigen Debatte um die Bioethik, entfaltet werden. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie die Geschichte des Erbarmens Gottes Wirklichkeit gestaltend auf die durch die neueren Entwicklungen medizinischer und medizintechnischer Forschungen und Fortschritte entstandenen Probleme einzuwirken und gesellschaftliche Urteile zu bestimmen vermag. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen die "Großbegriffe" der bioethischen Diskussion: Subjektstellung des Menschen, Autonomie, Leben und die Frage nach dem gestuften Lebensschutz oder: ob es einen Sprung vom "etwas" zum "jemand" gibt.

Abschließend soll kurz das Verhältnis von Glaube und Ethik und die Frage nach der Aufgabe kirchlicher Verlautbarungen angesprochen werden. Auch dabei steht wieder das Thema des Pluralismus im Vordergrund.

1. Die Wirklichkeit des Erbarmens
in den biblischen Schriften


Die Weltsicht der biblischen Bücher lässt sich nicht auf eine einheitliche Wirklichkeit reduzieren, ebenso wie nicht von einem biblischen Gottesbild oder einem Menschenbild gesprochen werden kann. Ganz im Gegenteil ist von einer Pluralität der Gottesbilder und -erfahrungen und von einer Pluralität der Menschenbilder in der biblischen Theologie bzw. Anthropologie zu sprechen. Freilich bedeutet die Vielfalt der Gottes- und Menschenbilder ebenso wie die Vielfalt der Wirklichkeitssichten keinen beliebigen Pluralismus, vielmehr kann man im Blick auf die biblische Tradition von einem Pluralismus der Beziehung, einer aufeinander bezogenen Pluralität sprechen. Mit dem Begriff "Realismus des Erbarmens" ist das Beziehungsgefüge angedeutet, durch das die biblischen Welt-, Menschen- und Gottesbilder inhaltlich aufeinander bezogen sind.

Die reformatorische Theologie hat die Pluralität der Beziehung in ihrem Schriftverständnis durch die Annahme von Christus als Mitte der Schrift zum Ausdruck gebracht. Diese Annahme kann auch heute noch die hermeneutische Einsicht zur Sprache bringen, dass Christen die biblischen Bücher auf Christus hin und von Christus her lesen. Dementsprechend wird das reformatorische Verständnis heute festgehalten, allerdings vornehmlich unter ausdrücklicher Betonung der Externität der Mitte. Ingolf Dalferth stellt fest, mit Jesus Christus als Mitte der Schrift werde nichts gesagt "über die semantische oder thematische Mitte der biblischen Texte ... [b]eantwortet wird keine exegetische, hermeneutische, historische, literarische Frage, sondern ... eine theologische Frage, die es mit Gottes Gegenwart und Wirken in unserer gegenwärtigen Welt zu tun hat."6 Demgegenüber ist zu fragen, ob die Annahme der ausschließlichen Externität der Mitte der Schrift nicht eine Tendenz ins Doketische hat. Christen lesen die Schriften Alten und Neuen Testaments von der Erfahrung des Glaubens an Jesus Christus her und insofern auch neu im Vergleich zu nichtchristlichen Lesern. Dennoch verfolgt diese Lektüre die Bewegung der Geschichte Gottes in den biblischen Texten und erfährt insofern auch den Gott Jesu Christi aufs Engste verwoben in die Geschichten der biblischen Schriften. Mit der Berufung auf die göttliche Bewegung des Erbarmens soll hier eine schriftinterne Spur des Verstehens von Gott und Weltwirklichkeit angedeutet werden, die in Jesus Christus konkret geworden ist.

In einem Aufsatz "Barmherzig und gnädig ist der Herr ..." hat Hermann Spieckermann die von ihm so genannte Gnadenformel als Zentrum des Alten Testaments herausgestellt.7 In der Formulierung von Ps 103,8 nach Luthers Übersetzung lautet diese Formel: "Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte." Diese Formel führt wie eine Spur durch die Jahrhunderte und durch die Traditionen der biblischen Bücher des Alten Testaments und markiert in Umrissen die Gottes- und die Menschenwirklichkeit, die auch für die neutestamentlichen Schriften konstitutiv sind.

Spieckermann zeigt, dass die späte Formulierung in Ps 103 eine lange Tradition hat in einer Vorgeschichte, in der "Jahwe sich in seiner Bestimmung zur Gnade den kanaanäischen Götter- und Menschenvater El zum Vorbild genommen hat."8 Freilich muss sich die Gnadenformel durchsetzen gegen den erheblichen Widerstand des theologisch begründeten Tun-Ergehen- Zusammenhangs. Spieckermann interpretiert in diesem Kontext die Barmherzigkeitszusage Ps 103,9-14 als verdeckte Auseinandersetzung mit der doppelten Vergeltungslehre von Ex 34,7.9

Dramatisch anschauliches Beispiel für die Auseinandersetzung um den Realismus des Erbarmens ist das Buch Jona mit des Propheten geradezu tragikkomischem Gram gegenüber der Barmherzigkeit Gottes. Eine narrative Parallele dazu ist in der Jesustradition die Frage am Ende des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg: "Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?" (Mt 20,15). Gottesreichswirklichkeit manifestiert sich als unverhältnismäßiger Überschuss von Güte und Erbarmen. Das widerspricht üblichen Erwartungen der Entsprechung von Lohn und Leistung und verblüfft.

Von Jesus wird Erbarmen erzählt mit dem Verbum splachnizesthai. "Es jammerte ihn", übersetzt Luther und beschreibt damit die Durchbrechung einer als normal angenommenen Wirklichkeit, dadurch dass Jesus Not an sich herankommen lässt. Gottesreichswirklichkeit ist überraschende Durchbrechung des Normalen durch Erbarmen.

Von der Erfahrung, dass Not Erbarmen provoziert und Gott als Bewegung des Erbarmens erfahren wird, berichten insbesondere die alttestamentlichen Klagepsalmen. Geklagte Not verhallt nicht im Leeren, vielmehr erfährt der klagende Beter, dass sich Gott in die Not verwickeln lässt. In den Klagepsalmen - exemplarisch steht dafür Ps 22 - geht es zwischen geklagter Not und neuem Vertrauen in der so genannten Wende (V. 22) um einen dreifachen Bruch: in der Wirklichkeit, in der Erfahrung des Beters und in Gott selbst.

Die Nähe Gottes lässt die Wirklichkeit aufbrechen. Wirklichkeit ist nicht zementiert als Faktizität oder Realität, vielmehr enthält sie den offenen Spalt, der auf Möglichkeit gründet und auf Hoffnung weist, weil Gott mit im Spiel ist.10 Angesichts Gottes wird Wirklichkeit unerwartet neu. Gottes Erbarmen wirkt einen Überschuss an Möglichkeit in der Wirklichkeit.

Beim Beter wird die Klage unterbrochen, das Lobgelübde bricht buchstäblich ein in die Angst. Dem geängsteten Beter tut sich Freude auf, die im Lob laut wird. Er versteht sich nicht mehr von der Härte der Faktizität her, sondern bestimmt von dem Realismus des Erbarmens.

Die Umkehrung aller Verhältnisse ereignet sich auch in der Gotteserfahrung. Die Erfahrung, dass kein Helfer sei, wird - die Erinnerung an den Gott der Väter überbietend - zum Vorgriff auf Verheißung. Der Gott, der in der Höhe erinnert wird, erweist sich in der Todesbedrohung, in der ausweglosen Tiefe, als sich erbarmend, Wirklichkeit neu schaffend.

Dieser dreifache Bruch in der Wirklichkeit, in der Erfahrung des Beters und in Gott selbst, der Grund des Glaubens, das Wunder der Wende, ist in der Geschichte Gottes in Jesus Christus konkret geworden. Die ersten Christen konnten das Ereignis von Golgatha mit Ps 22 deuten, weil sie das Kreuz als Ort des Unheils und der Aussichtslosigkeit - gottverlassen - wussten, als Ort, an dem Gott dennoch aus dem Nichts heraus Leben schafft. So ereignet sich Erbarmen.

Deutlich ist die Dynamisierung, die sich durch die Bewegung des Erbarmens ereignet. Die Wirklichkeit erhält durch die Perspektive des Erbarmens einen Überschuss an Möglichkeit, Gott gerät als ereignishaft Menschen begegnend in den Blick, und Menschen erscheinen nicht als fixiert auf Wesen und Kontinuität, auf Subjektstellung und Autonomie, sondern als des Erbarmens bedürftig und offen für Neuschöpfung. Die biblische Anthropologie bekommt im Kontext des Pluralismus der Beziehung auf das immer neue Geschehen des schöpferischen Erbarmens Gottes eine modern anmutende Flexibilität.

Mir scheint die immer wieder aufbrechende Bewegung des Erbarmens so etwas wie eine Orientierungslinie zu bieten durch die vielfältigen biblischen Traditionen. Diese Spur erlaubt es dem Glauben, auch heute von Gotteswirklichkeit in der Welt zu reden. Im Folgenden ist nach der Bedeutung des Realismus des Erbarmens für die gegenwärtige Debatte um die Bioethik zu fragen.



2. Die Großbegriffe der bioethischen Debatte
im Lichte der Bewegung des Erbarmens


Es ist nicht erst eine Frage des 21. Jahrhunderts, ob, und wenn ja, auf welche Weise Inhalte und Anregungen aus der biblischen Tradition für jeweils zeitgemäße und heute moderne oder postmoderne Fragestellungen fruchtbar gemacht werden können. Die Frage, wie aus den alten Traditionsbeständen und Geschichten die Wahrheit des christlichen Glaubens und seine Lebensweisung für heute erschlossen werden können, ist das hermeneutische Problem theologischer Auslegung. Kennzeichen der Moderne ist dabei lediglich, dass sie die Veränderungen ihrer Zeit für tiefgreifender hält als diejenigen aller vorherigen Epochen. Es ist allerdings nicht ausgemacht, dass die Umwälzungen durch die Entdeckung des Kopernikus als geringfügiger einzuschätzen sind als die gegenwärtigen durch die Embryonenforschung und die Gentechnik verursachten.

Das Verfahren, das zur hermeneutischen Bewältigung der Vermittlungsaufgabe zwischen biblischer Tradition und modernem Wirklichkeitsverständnis häufig verwandt wird, ist ein doppeltes Reduktionsverfahren: Die Vielfalt der biblischen Tradition ebenso wie die Vielfalt der veränderlichen Welt wird durch einen metaphysischen Gottesbegriff wie eine prima causa oder ein Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit auf eine griffige Einheitsformel gebracht, innerhalb derer nur wenige Großbegriffe noch zu nennen sind, die den traditionellen Themenbestand der Theologie andeuten und zugleich für die wissenschaftliche Debatte anschlussfähig machen sollen.

Dieses Vorgehen steht in eigenartiger Spannung zu den Erfahrungen theologischer Vermittlung, die sich der Tatsache gegenüber sieht, dass die theologisch-dogmatischen Großbegriffe wie etwa Rechtfertigung, Schöpfung und Sünde als Begriffe weitgehend unverständlich geworden sind. Dennoch wird nun mit neuen, vermeintlich geläufigen Großbegriffen gearbeitet: Da die Rede von Geschöpf und Rechtfertigung nicht mehr verstanden wird, spricht man von der Subjektstellung des Menschen; auf Grund der Annahme, dass die Rede von Schöpfung vormodern sei, spricht man lediglich von gesetzter Autonomie, statt vom Schöpfungsauftrag spricht man allgemein von Verantwortung. Ebenso wie bei der Benutzung des metaphysischen Gottesbegriffes begibt sich dieses Abstraktionsverfahren der Chance, mit Hilfe der vielen, freilich vormodernen Geschichten der biblischen Tradition und ihrer metaphorischen Sprache das Mehr an Wirklichkeit und Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, das die biblischen Welt-, Menschen- und Gottesperspektiven umschreiben.

Es kommt bei dem beschriebenen Verfahren häufig zu einer fragwürdigen Aufteilung, nach der die biblische Tradition nur für den Glauben zuständig ist, die Fragen von Welt- und Menschenbild ebenso wie die Fragen der Ethik aber gegenüber dem Glauben etwa im Range der Adiaphora zur Disposition stehen, über die eine autonome Vernunft verfügt. Demgegenüber muss festgehalten werden, dass der christliche Glaube eine auf die biblische Tradition begründete Gottes-, Menschen- und Weltperspektive eröffnet, die nicht vom Glauben zu isolieren ist. Glauben an sich gibt es genauso wenig wie Gott an sich.

In der Debatte um die Bioethik heute sind als Großbegriffe in Gebrauch die Subjektstellung des Menschen und die Autonomie. Sie haben in der Diskussion eine analoge Funktion wie der metaphysische Gottesbegriff: Sie sollen vermitteln durch Abstraktion. Der Begriff des Lebens, der sowohl im Zusammenhang mit der Subjektstellung und der Autonomie des Menschen wie mit der Verantwortung in der Ethik Bedeutung hat, nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er durch die Entwicklung der modernen Biologie und der neuen technischen Möglichkeiten ins Zentrum der Diskussion gerückt ist. Nicht immer wird dabei bedacht, dass auch die Biologie und ihr Lebensverständnis lediglich eine Perspektive menschlichen Lebens zur Sprache bringen. Es stellt sich die Frage, wie der biologische Lebensbegriff mit dem Lebensverständnis des Realismus der Barmherzigkeit ins Gespräch gebracht werden kann.

2.1 Subjektstellung und Autonomie

Trutz Rendtorff bezieht sich in der Einleitung zu dem von Reiner Anselm und Ulrich Körtner 2003 herausgegebenen Band "Streitfall Biomedizin"11 auf den anthropologischen locus classicus Ps 8,5 f.: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt." In diesem Zusammenhang stellt Rendtorff fest: "Direkter und unverblümter lässt sich die Subjektstellung des Menschen im Gegenüber zur natürlichen Welt, weil in der Gottesbeziehung begründet, in religiöser Sprache kaum ausdrücken. Die eigentliche theologische und darin eben anthropologische ... Pointe dieser Aussage liegt in der Unhintergehbarkeit der Subjektstellung des Menschen; sie ist, wenn irgendetwas, ihm nicht verfügbar, so dass er von ihr auch nicht ablassen, auf sie, etwa aus Gründen der unabsehbaren Folgen, verzichten, sie negieren könnte."12 Zweifellos hat Rendtorff mit der "Subjektstellung" etwas dem Psalm Entsprechendes auf den Begriff gebracht, ausgeblendet wird aber bei dem alleinigen Rekurs auf den Großbegriff "Subjektstellung", dass diese Stellung nicht abstrakt gegeben, sondern konkret begründet ist in dem Beziehungsgeschehen, das durch das Verbum des Gedenkens angesprochen ist. Es geht nicht um das Subjekt an sich und seine Stellung, sondern um die staunende Entdeckung des Beters, dass der Gott, der Himmel und Erde gemacht hat und dessen machtvolles Wirken sich durchsetzt, indem sogar "Kinder und Säuglinge" als Bollwerk gegen feindliche Mächte eingesetzt werden,13 dass dieser Gott sogar des Menschen gedenkt.

Die Subjektstellung des Menschen ist nach Ps 8 nicht lediglich anfänglich gesetzt, sondern sie ist kontinuierlich über die Zeit hin begründet im Gedenken Gottes. Deshalb muss sie auch durch den Bezug auf das Gedenken Gottes inhaltlich bestimmt und konkretisiert werden.

Entsprechendes gilt es im Blick auf die Autonomie als Großbegriff und Begründungskategorie im Bioethikdiskurs zu sagen. Friedrich Wilhelm Graf hat versucht, mit diesem Begriff die gesamten, s. E. vormodernen schöpfungstheologischen Aussagen der biblischen und dogmatischen Tradition zu erfassen.14 Aber Autonomie ist zu wenig, um als einziger Leitbegriff biblischer Schöpfungstheologie dienen zu können. Die Konstitution der Wirklichkeit in den erzählten Schöpfungsgeschichten muss ebenso etwa mit dem Begriff der Partizipation zur Sprache gebracht werden. Das einzigartige göttliche Schaffen, so wird in den alten Geschichten erzählt, schafft eine Fülle von Beziehungen, in denen Menschen leben können.

"Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?" Mit dem Verbum des Gedenkens beschreibt der Psalmbeter die Erfahrung des Schöpfungsglaubens, die verlässlichen, lebensschöpferischen Beziehungen, die er im staunenden Nachdenken über Gott, Welt und Menschen wahrnimmt. Gedenken bezeichnet eine kognitive und emotionale Beziehung, durch die Menschen, Gott und Welt verbunden sind und aneinander Anteil gewinnen. Das Gedenken widerlegt den Solipsismus und die Monadenlehre. Wo kein Gedenken ist, ist kein Leben, und wo Gedenken entzogen und ausgelöscht wird, da wird Leben vernichtet. Damit ist eine elementare Erfahrung angesprochen: Dass ein Mensch ist, das hängt davon ab, dass jemand seiner gedenkt; und was ein Mensch ist, das hängt davon ab, wer seiner gedenkt und wie sich jemand seiner annimmt. Von der Qualität des Gedenkens hängt die Qualität des Lebens ab. Hier kann eine theologisch verantwortete Rede von der Menschenwürde ansetzen.

Wenn die alten Schöpfungsmythen lediglich als verschlüsselte Theorien freier Subjektivität gelesen werden, so erinnert das an das Reduktionsverfahren, das Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm bestimmte. Die Reduktion der Mythen auf das Dass des Gesetztseins der Autonomie schließt alle Probleme, aber auch alle Inhalte aus dem Schöpfungsglauben aus. So immunisiert man sein Denken gegen den Erfahrungsreichtum des Schöpfungsglaubens in den alten Geschichten. Der Schöpfungsglaube behält eine Bedeutung lediglich als Verursachung einer ganz und gar unbestimmten Freiheit. Die biblische Tradition lässt demgegenüber in der Erzählung der alten Geschichten erfahrene Schöpfungswirklichkeit erkennen, die in den Beziehungen gründet, die der Schöpfer stiftet und erhält. Sie sind gekennzeichnet durch Gerechtigkeit und Erbarmen.

2.2 Leben

Die Betonung von Subjektstellung und Autonomie wird im theologischen Sinne abstrakt, wenn die Verankerung im Verständnis des Lebens als Schöpfung nicht mehr deutlich wird. Nach biblischem Verständnis ist Leben Gabe, Geschenk, der Mensch ist sich gegeben, und diese primäre Passivität menschlichen Lebens ist nicht Fluch, sondern Segen (Dtn 30,19). Leben ist der Güter höchstes. Als Gabe ist es Partizipation, Teilnahme und Teilgabe an der Geschichte Gottes, insofern ist Leben niemals nur eigenes, individuelles, vielmehr ist es von Anfang an auch Leben in Beziehung zum Geber und zu den Mitlebenden, ja zu allem Mitlebenden, theologisch gesprochen: zum Schöpfer, zu den Mitgeschöpfen und zur gesamten Kreatur.

Als Gabe hat menschliches Leben seinen unbedingten Wert, also das, was streng genommen den Begriff Wert sprengt, weshalb man von Würde spricht, von Anfang an vom Geber her, nicht erst unter der Voraussetzung von Entwicklung. Die einseitige Betonung der Subjektstellung des Menschen oder gar die Annahme der Autonomie als angemessene Übersetzung des Schöpfungsglaubens führen zu der für die Bioethikdebatte folgenreichen Verkürzung des Lebensverständnisses: Leben gerät in den Blick als Entwicklungsbedingung für das Subjekt oder als Material für die Autonomie. Mit der Absolutsetzung der menschlichen Autonomie geht die Relativierung des Lebensschutzes Hand in Hand.

Dagegen wird allerdings angeführt, die theologischen Begriffe Würde, Gottebenbildlichkeit und Rechtfertigung gelten nur von geborenen, ansprechbaren und zur Verantwortung fähigen Menschen.15 Von politischer Seite wird das etwa unterstützt durch die medienwirksame Demonstration einer Petrischale und den darauf bezogenen Hinweis, man sehe doch, dass es sich hier nicht um einen Menschen handle. Gleichwohl ist theologisch zu sagen, dass dieser im wahrsten Sinne des Wortes erbärmliche Anfangszustand - ein biologisch geschultes Auge wird das möglicherweise ganz anders sehen - nicht außerhalb der Geschichte Gottes zu denken ist. Es geht dabei, wie Wolfgang Huber gesagt hat, nicht um "verfügbare Biomasse", sondern um "ein frühes Zeichen für das Wunder des menschlichen Lebens".16

Für das biologische und medizinische Wissen vor zwei- bis dreitausend Jahren war die Geburt der absolute Anfangspunkt menschlichen Lebens. Biblische Theologen zu jener Zeit sind diesem Wissen gefolgt und haben es, vage verbunden mit Ahnungen vom Leben im Mutterleib, mit dem Schöpfungsglauben zusammenerzählt. Von solchen Aussagen der alttestamentlichen Schriften aber abzuleiten, dass heute der Schutz menschlichen Lebens vor der Geburt mit Hilfe der Unterscheidung von menschlichem Leben und Mensch relativiert werden könne, wie das in dem zur Diskussion stehenden Band zur Bioethik wiederholt geschieht, ist hermeneutisch nicht überzeugend. Darüber hinaus ist zu fragen, nach welchen theologischen Kriterien die Preisgabe des unbedingten Schutzes menschlichen Lebens zu welchem Zeitpunkt auch immer zu rechtfertigen ist. Der Realismus des Erbarmens, dessen Wirklichkeitsperspektive metaphorisch etwa in dem Prophetenwort zur Sprache kommt: "Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen" (Jes 42,3), kennt jedenfalls keine Grenze des Schutzes, weder am Anfang noch am Ende menschlichen Lebens.

Das Verständnis der Geburt als Lebensbeginn in der biblischen Tradition kann die Relativierung des Lebensschutzes im 21. Jahrhundert nicht begründen. Man muss nicht von der Gottebenbildlichkeit des Embryos oder von seiner Menschenwürde sprechen, es lässt sich jedoch kein biologisches Entwicklungsstadium des Menschen aus der theologischen Perspektive auf den Menschen ausschließen.17 Das Bekenntnis zur geschöpflichen Gottebenbildlichkeit des Menschen und insbesondere des Menschen Jesus Christus im Kontext der Geschichte Gottes umfasst den ganzen Menschen und entzieht ihn durch die Gottesbeziehung der Eigenverfügung und der Verfügung anderer. Insofern ist die in Gen 1,26 als Verantwortlichkeit vor Gott zur Fürsorge für die Welt umschriebene Gottebenbildlichkeit nicht aus dem Kontext der biblischen Menschensicht des der Barmherzigkeit und des Eintretens Gottes bedürftigen Menschen zu isolieren und ganz bestimmt nicht an einen bestimmten Entwicklungsstand des Menschen gebunden, also auch nicht an eine bestimmte Verantwortungsfähigkeit, die wir übrigens bei Säuglingen auch nicht voraussetzen. Im biblischen Kontext verweist die Einzeichnung schon des Säuglings in die Geschichte des erbarmenden Gedenkens Gottes wie etwa in Ps 8 auf die ganzheitliche Perspektive der Theologie auf das menschliche Leben. Es gibt keinen Zeitpunkt vom Anfang bis zum Ende, an dem menschliches Leben aus Gottes Geschichte zu abstrahieren wäre. Nach dem Kenntnisstand heutiger Biologie und Medizin ist aber der Anfang menschlichen Lebens die Verschmelzung von Ei und Samenzelle.18

Dem widersprechen theologische Ethiker, die die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens erst zu einem späteren Zeitpunkt einsetzen lassen, indem sie zwischen menschlichem Leben und dem Menschen unterscheiden. Johannes Fischer hat das Konzept eines gestuften Lebensschutzes entwickelt.19 Er diskutiert die Frage nach einer spezifisch christlichen Perspektive auf das menschliche Leben von einem streng konsequenzialistischen Verständnis des Ethos aus. Nach Fischers Verständnis ist die christliche Liebe in Luthers Freiheitstraktat nach dem Woraufhin ihrer Ausrichtung zu beurteilen, analog versteht er auch die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens als durch das "Woraufhin" der christlichen Existenz gegeben. "Der Status des menschlichen Lebens bestimmt sich in dieser Perspektive von dem Bezugsobjekt her, demgegenüber Liebe geboten ist."20 "Das heißt nun aber in der Konsequenz: Menschliches Leben ist nicht an sich und um seiner selbst willen schutzwürdig, sondern um des Menschen willen, dessen Leben es ist."21

Aus der Sicht des Realismus der Barmherzigkeit ergibt sich ein anderes Verständnis sowohl im Blick auf die Liebe in Luthers Freiheitstraktat als auch hinsichtlich der Entwicklung der menschlichen Person. Die christliche Liebe hat ihren Grund nicht in dem Ziel, sondern in dem zuvorkommenden Übermaß der Liebe, aus der Menschen leben, sogar, wenn andere ihnen die Liebe streitig machen. Ebenso hat der Lebensschutz seinen unbedingten Grund nicht im Entwicklungsziel des sich entwickelnden Menschen, sondern in dem Leben schenkenden Erbarmen Gottes. Dieses aber ist nicht abhängig von einer gelingenden Entwicklung. Es gibt keine biologische Einschränkung der sich schenkenden Schöpfungsgnade. Deshalb, nur deshalb gibt es aus theologischer Perspektive beim Lebensschutz kein Quantitieren, weder am Anfang noch am Ende des Lebens.

Wer könnte im Kontext des Schöpfungsglaubens den Prozess menschlichen Lebens innerhalb seiner Entwicklung in der Weise terminieren und festlegen, dass zunächst lediglich biologisch von einem organismischen Etwas und erst von einem bestimmten Stadium an von einem sich entwickelnden Menschen die Rede sein könne, dass also die theologische Perspektive, ebenso wie übrigens die soziale, erst nachträglich zur biologischen hinzutrete.22 Nach dem Bekenntnis des Schöpfungsglaubens umfasst Gottes schöpferisches Wirken das gesamte menschliche Leben tragend und erhaltend. Eine entwicklungsmäßige Terminierung der Rede vom Geschöpf ist nach heutigem Wissenstand nicht weniger willkürlich als die zu ihrer Zeit plausible Beseelungstheorie.23 Entsprechendes gilt für den Lebensprozess am Lebensende. Obwohl eine unverantwortliche Redeweise von Menschen im unbewussten Endzustand von "dahinvegetieren" spricht, geht es auch in diesem Stadium um des Gedenkens würdige Menschen, die geborgen sind im Gedenken Gottes und derer, die sie pflegen. Die Ganzheitlichkeit menschlichen Lebens ist durch die Perspektive der Geschichte Gottes gewährt und bewahrt, die den gesamten biologischen Entwicklungsprozess eines menschlichen Lebens umfasst, wenn anders man nicht eine willkürliche Trennung zwischen biologischer und theologischer Perspektive auf den sich entwickelnden Menschen vornehmen will.

Gegen die ganzheitliche Sicht menschlichen Lebens und die enge Verschränkung der theologischen und der biologischen Perspektive wird unter Berufung auf die Biologin Christiane Nüsslein-Volhard das Argument der Umgebungsabhängigkeit des menschlichen Embryos angeführt.24 Lässt sich der Lebensschutz deshalb auf den Zeitpunkt nach der Nidation begrenzen? Ist es nicht ein biologistischer Fehlschluss, vor diesem Zeitpunkt vom menschlichen Embryo lediglich als von einem Organismus, einem "etwas" zu sprechen, das in die Perspektive der Biologie falle und deshalb auch für die Forschung zur Disposition stünde?25 Wenn man Robert Spaemanns Unterscheidung zwischen "etwas" und "jemand" gegen Spaemanns eigenes Verständnis, nach dem es heißt: "Aus etwas wird nicht jemand."26 auf den menschlichen Entwicklungsprozess anwendet, bleibt ungeklärt, wie bei dieser willkürlichen Trennung ein Übergang von einem "etwas" zu einem "jemand" denkbar ist.

Zugleich mit dem Argument der Umgebungsbedingungen wird auf den Charakter menschlichen Lebens als Beziehungswirklichkeit hingewiesen. Sollte man aber aus der Tatsache, dass menschliches Leben nur als "angenommenes" existieren kann, schließen dürfen, dass man ihm, wenn es nicht angenommen ist, den Lebensschutz entziehen darf?27 Das käme einer freizügigen Legitimation der Abtreibung und der willkürlichen Verfügung über menschliche Embryonen gleich. Bei der In-Vitro-Fertilisation werden die Umgebungs- und Annahmebedingun- gen künstlich suspendiert, folglich stünde das auf diese Weise gewonnene Embryonenmaterial frei zur Disposition, es sei denn, es erhielte eine Umgebung oder würde "angenommen". Es ist richtig, dass, wie Klaus Tanner bemerkt, die göttliche Anerkennung die Anerkennung durch die Mutter nicht ersetzen kann.28 Deswegen darf aber die unbedingte Annahme eines jeden menschlichen Wesens durch Gott nicht unterschlagen werden. Gottes unbedingte Annahme hat den Modus einer Wirklichkeit schaffenden Bitte um menschliche Annahme und bestärkt diese.

Für die Relativierung des Lebensschutzes im frühen Embryonalstadium wird als Begründung angeführt: die breite gesellschaftliche Akzeptanz nidationshemmender Mittel, die auf der Annahme beruhe, dass erst nach der Einnistung in die Gebärmutter von einem sich entwickelnden Menschen gesprochen werden könne.29 Der Schluss von der gesellschaftlichen Akzeptanz auf die ethische Urteilsbildung ist fragwürdig. Man kann im Blick auf die bioethische Debatte geradezu von einer Akzeptanzfalle sprechen: Mit früheren Entscheidungen wird heutige Praxis legitimiert.

Das Akzeptanzargument eröffnet eine Kette von Folgeschlüssen, die alle auf die Verfügbarmachung menschlichen Lebens zielen: Aus der auf Grund der Pränataldiagnostik akzeptierten Abtreibung folgt die Legitimierung der Präimplantationsdiagnostik mit der Selektion gesunder Embryonen, aus der Akzeptanz der In-Vitro-Fertilisation folgt die Legitimierung verbrauchender Embryonenforschung, weil menschliches Leben zur Disposition steht.30 Akzeptanz kann auch zum Trugschluss verführen.

3. Glaube und Ethik

In einer Vielzahl von zeitgenössischen Veröffentlichungen zur Ethik - der hier zur Diskussion stehende Band "Streitfall Biomedizin" liefert ein Beispiel dafür - schlägt sich in Analogie zu der Unterscheidung zwischen doctrina evangelii und traditiones humanae im siebten Artikel der Confessio Augustana die Meinung nieder, für den Protestantismus gelte Einheit im Glauben, aber Pluralismus in der Ethik.31 Diese Aufteilung ist zu einfach und irreführend. Einerseits ist die Einheit im Glauben, die in der Beziehung auf das Evangelium in Jesus Christus und die Rechtfertigung allein aus Glauben begründet ist, wenn es sich um lebendig gelebten Glauben handelt, nur in der Vielfalt von Glaubenserfahrungen zu finden, birgt also in sich schon die belebende Spannung eines Pluralismus der Beziehung auf Jesus Christus hin, andererseits ist christliche Ethik, so pluralistisch sie sich gibt, nur dann als Orientierungswissen des christlichen Glaubens kenntlich, wenn sie sich nicht einem beliebigen Pluralismus verschreibt. Der christliche Glaube diktiert keine überzeitlich gültigen Normen, aber er bringt eine Gottes-, Welt- und Menschenperspektive mit sich, die Lebensräume eröffnet. Mit dem Begriff Realismus der Barmherzigkeit wird die Qualität dieser Lebensräume umschrieben.

Subjektstellung und Autonomie sind als abstrakte Leitbegriffe der Willkür und Beliebigkeit ausgesetzt. Im 20. Jahrhundert hat vor allem Paul Tillich gesehen, dass Autonomie als Leitbegriff für die christliche Ethik und die gesellschaftliche Orientierung defizitär ist. Er hat deshalb der Autonomie ebenso wie der Heteronomie die sie begründende Theonomie gegenübergestellt. Da es sich beim christlichen Gott nicht um einen unbekannten Gott handelt, wird hier von der in der Bewegung des Erbarmens begründeten Autonomie gesprochen.

Das hat für die Ethik und insbesondere für die Bioethik Konsequenzen. Es stellt sich die Frage, ob das Kantsche Autonomie- und Freiheitsverständnis ebenso wie Kants Personbegriff eine der biblischen Tradition verpflichtete Menschen- und Weltsicht nicht insofern verkürzt, als die einseitige Bestärkung der Autonomie kein umfassendes Verständnis des Lebens und des Lebensschutzes zulässt. Micha Brumlik hat darauf hingewiesen, dass Kants positive Teleologie im Blick auf die Anthropologie ihre Grenzen am Kriterium des bewussten Denkens habe, "der Gedanke einer Würde auch solcher Menschen, die dieser Personalität nicht zugänglich sind, war in diesem System nicht mehr möglich."32 Weder Kants Freiheitsbegriff noch sein Verständnis von Würde vermögen einen umfassenden Lebensschutz des sich entwickelnden Menschen zu begründen.

Klaus Tanners Plädoyer für die verbrauchende Embryonenforschung trägt den Titel "Vom Mysterium des Menschen".33 Vom Menschen wird festgestellt, das Menschsein entziehe sich offensichtlich jedem abschließenden definitorischen Zugriff.34 Dem ist zuzustimmen, wenn damit nicht die Übertragung der alten Formel "deus definiri nequit" auf den Menschen angedeutet sein soll. Nach biblischem Verständnis sind in Gottes Geschichte durch Jesus Christus sowohl Gott wie auch der Mensch insoweit definiert, als der Mensch als das Beziehungswesen erscheint, das der Barmherzigkeit Gottes bedürftig ist, und Gott als der, der für den Menschen eintritt. Insofern ist der Mensch eine offene Geschichte, und er ist sich selbst zu seinem eigenen Heil entzogen. Mit dieser Sicht des Menschen ist es nicht vereinbar, dass dem Menschen das alte Prädikat der metaphysischen Gotteslehre, die Zulassung, permissio, übertragen wird: Der Mensch ist nicht der, der Leben zulässt oder Leben selektiert. Die in der menschlichen Freiheit begründete Freiheit der Forschung ist nicht unbegrenzt.35

Mit dem Vertrauen auf die Geschichte des Erbarmens eröffnet der Glaube einen Raum, in dem es keinen Verbrauch menschlichen Lebens gibt. Die Vertreter von Forschungsfreiheit und Autonomie machen dagegen das Argument der Liebe stark, die es gebiete, alle Möglichkeiten der Forschung, insbesondere auch der verbrauchenden Embryonenforschung, auszuschöpfen auf dem Weg zu einer möglichen Heilung schwerer Krankheit.36 Unterstützt wird diese Meinung häufig von dem, was eine mutige, von multipler Sklerose betroffene Theologin, Ina Praetorius, das "Trumpf-Argument" genannt hat, die Behauptung nämlich, dass die von Krankheit Betroffenen selbst sich den uneingeschränkten Einsatz der Gentechnik im Dienste der Heilung ihrer Krankheit wünschten. Praetorius beurteilt es als Taktik, auf diese Weise "die Betroffenen ungefragt zu einer einheitlichen Interessengruppe zusammenzufassen und für die Politik der Betreiber des medizintechnischen Fortschritts zu instrumentalisieren".37

Das Argument der Liebe38 erscheint innerhalb der bioethischen Debatte in der Regel als taktisches Argument zur Legitimation der verbrauchenden Embryonenforschung oder des therapeutischen Klonens, wenn auch mit völlig ungeklärten Heilungschancen.39

Die wissenschaftliche Ethik betont mit Nachdruck, in der Forschung gebe es kein Zurück, und sie fordert zugleich in der
Bioethikdebatte einen europäischen Konsens um jeden Preis. Ist es demgegenüber nicht Aufgabe von Theologie und Kirche, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage die Spuren des Realismus der Barmherzigkeit geltend zu machen und um Einverständnis dafür zu werben, dass menschliches Leben kostbar ist und unverfügbar?

Summary

The Bible does not offer instructions, how to "derive" judgements on bioethical problems from statements in the Bible. Nevertheless, the so called formula of mercy in Ps 103,8 hints to a trace, which may help to realize, how in the Old Testament the perceptions of God, man and reality are linked to each other. The formula of mercy is equally key for understanding the message of the New Testament. It opens a perspective of what can be called the "realism of mercy". As a consequence, contributing to the discussion on bioethics, this paper pleads for understanding human life as a gift and for the unconditional protection of human life, against the idea of using human embryos for research purposes.

Fussnoten:

1) Vortrag auf dem Symposion "Sprachräume für Gott - Lebensräume für Menschen" für Wolf Krötke in Berlin am 22. Februar 2004.

2) W. Krötke, Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes Eigenschaften, Tübingen 2001.

3) Krötke, a. a. O., 13.

4) Krötke, a. a. O., 30.

5) Krötke, a. a. O., 30 f., unter Verweis auf I. U. Dalferth, Religiöse Rede von Gott, München 1981 (BevTh, 87), 676.

6) I. U. Dalferth, Die Mitte ist außen. Anmerkungen zum Wirklichkeitsbezug evangelischer Schriftauslegung, in: C. Landmesser/H.-J. Eckstein/H. Lichtenberger (Hrsg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, Berlin-New York 1997 (BZNW, 86), 173-198, hier 187.

7) H. Spieckermann, "Barmherzig und gnädig ist der Herr...", in: Ders., Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments, Tübingen 2001 (FAT, 33), 3-19.

8) Spieckermann, a. a. O., 5.

9) Vgl. Spieckermann, a. a. O., 13.

10) Wichtigstes Kennzeichen der neuen Situation sind die erneuerten sozialen Beziehungen, die sich im gemeinsamen Lob äußern. Überwundene Not, Rettung muss mitgeteilt und kundgetan werden, das verleiht ihr den manifesten Wirklichkeitscharakter. Kennzeichen der neuen Wirklichkeit ist die Überwindung von Isolation und Aggression und zwar sowohl aus der Perspektive des leidenden Beters, dem die Welt feindlich entgegen- stand, wie aus der Perspektive der ehemaligen Feinde. Feinde und Feindbilder werden entmachtet, wo Wirklichkeit im Lichte der Nähe Gottes erscheint.

11) T. Rendtorff, Evangelische Ethik im Disput um die Biomedizin. Eine Einführung, in: R. Anselm/U. H. J. Körtner (Hrsg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, 11-24 (vgl. Rezension in ThLZ 129, [2004], 1346 f.).

12) Rendtorff, a. a. O. (s. Anm. 11), 19.

13) Zur Auslegung vgl. O. H. Steck, Beobachtungen zu Psalm 8, BN 14 (1981), 54-64; H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen 1989 (FRLANT, 148), 227-239; E. Zenger, Psalm 8. Von der Menschenwürde, in: F.-L. Hossfeld/E. Zenger, Die Psalmen, Bd. 1: Psalm 1-50, Würzburg 1993 (NEB.AT, 29), 77-80; G. Schneider-Flume, Glaubenserfahrung in den Psalmen. Leben in der Geschichte mit Gott, Göttingen 1998 (Biblisch-theologische Schwerpunkte, 15), 39-53.

14) Vgl. F. W. Graf, Die Würde Gottes scheint antastbar. Vom ethischen Mißbrauch der Glaubenssprache, FAZ, 2. Januar 2002, Nr. 1, 42.

15) Vgl. J. Fischer, Die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens in christlicher Sicht, in: Anselm/Körtner (Hrsg.), Streitfall Biomedizin (s. Anm. 11), 27-45, hier 34 f.; R. Anselm, Die Kunst des Unterscheidens. Theologische Ethik und kirchliche Stellungnahme, in: Anselm/Körtner (Hrsg.), Streitfall Biomedizin (s. Anm. 11), 47-69, hier 56. Klaus Tanner weist in Diskussionen immer wieder darauf hin, dass auch jüdische Theologen die Gottebenbildlichkeit erst mit der Geburt ansetzen.

16) W. Huber, Der gemachte Mensch. Christlicher Glaube und Bioethik, Berlin 2002, 45.

17) Gegen Klaus Tanner muss festgehalten werden, dass das Sprachspiel Gottebenbildlichkeit weder legitimiert noch außer Kraft gesetzt wird durch zwei einander widersprechende Auslegungen (vgl. K. Tanner, Vom Mysterium des Menschen. Ethische Urteilsbildung im Schnittfeld von Biologie, Rechtswissenschaft und Theologie, in: Anselm/Körtner [Hrsg.], Streitfall Biomedizin [s. Anm. 11], 135-155, hier 147).

18) An dieser Stelle stimmt die vorliegende theologische Argumentation mit der juristischen überein, die Eduard Picker gegen eine Aufweichung des Menschenwürdeverständnisses und für eine unlösbare Verknüpfung von unbedingtem Lebensschutz und Menschenwürde entwickelt (E. Picker, Menschenwürde und Menschenleben. Das Auseinanderdriften zweier fundamentaler Werte als Ausdruck der wachsenden Relativierung des Menschen. Mit einem Vorwort von R. Spaemann, Stuttgart 2002). Schon 1971 haben Eberhard Jüngel, Ernst Käsemann, Jürgen Moltmann und Dietrich Rössler, damals im Zusammenhang mit der Regelung der Abtreibung bei der Neufassung des 218 formuliert: "Im Besonderen ist zu der durch 218 aufgeworfenen Problematik geltend zu machen, 1. daß der Schutz des noch nicht geborenen menschlichen Lebens sich durch die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens nicht relativieren läßt ... Von dem menschlichen Akt der Zeugung (Empfängnis) an ist werdendes Leben menschliches Leben und gehört sein Werden zur Menschlichkeit seines Seins. Es widerspricht diesem Sachverhalt nicht, wenn man erst von einem bestimmten - allerdings umstrittenen - Zeitpunkt an den werdenden Menschen einen Menschen nennt; denn diese Bezeichnung benennt das dem Benennungszeitpunkt vorangehende Werden immer schon mit." (E. Jüngel/E. Käsemann/J. Moltmann/D. Rössler, Abtreibung oder Annahme des Kindes. Thesen zur Diskussion um 218, EK 4 [1971], 452-454, hier 453)

19) Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 27-45. Richard Schröder schließt sich dem Konzept des "gestaffelten" Lebensschutzes an (vgl. R. Schröder, Die Forschung an embryonalen Stammzellen. Argumentationstypen und ihre Voraussetzungen, BThZ 10 [2002], 280-306, hier 291).

20) Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 29.

21) Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 31.

22) Vgl. Eilert Herms, der feststellt, dass die Frage nach dem "moralischen Status des Embryos" nur Sinn mache unter der irrigen Voraussetzung, "daß das Sein des Menschen nicht die Einheit seines Werdens ist, sondern ein innerhalb dieses Werdens gewordenes Resultat" (E. Herms, Leben. Wahrnehmen, Verstehen, Gestalten, in: Ethik und Recht, Marburg 2002 [MJTh, XIV], 93-119, hier 117). Selbst wenn man Sein und Werden nicht gleichsetzt, so ist doch darauf zu verweisen, dass Sein und Werden nur auf Kosten des konkreten Lebens getrennt werden können. Auch das Leben in Gottes Geschichte ist als ein extern zugesprochenes, ein Beziehungsgeflecht, in dem Sein und Werden aufs Engste verwoben sind.

23) Danach erfolgt die Beseelung beim männlichen Embryo am 40. Tag, beim weiblichen am 90.

24) Vgl. Schröder, a. a. O. (s. Anm. 19), 287.

25) Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 33.

26) R. Spaemann, Personen. Versuch über den Unterschied zwischen etwas und jemand, Stuttgart 1996, 261.

27) Eberhard Jüngel, Ernst Käsemann, Jürgen Moltmann und Dietrich Rössler haben 1971 formuliert: "Menschliches Leben ist nur dann menschliches Leben, wenn und sofern es angenommenes Leben ist. Ein ethisch qualifizierter Schutz des Lebens muß deshalb unter Einschluß der Bedingungen, die in diesem Sinne menschliches Leben ermöglichen, formuliert werden ... Annahme und Anerkennung gehören lebensnotwendig zum Leben eines Menschen, besonders eines Kindes, wie der Atem, die Ernährung oder die Durchblutung." (Jüngel/Käsemann/Moltmann/Rössler, a. a. O. [s. Anm. 18], 453) Klaus Tanner zitiert diese Passage, ohne allerdings die auf derselben Seite abgedruckten grundlegenden Ausführungen zum unbedingten, umfassenden Lebensschutz (zitiert oben, s. Anm. 18) zu erwähnen (Tanner, a. a. O. [s. Anm. 17], 143).

28) Tanner, a. a. O. (s. Anm. 17), 149.

29) Vgl. Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 38.

30) Vgl. H. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus. Wertedebatte - Ethik der Medizin - Nachhaltigkeit, Hannover 1999, 109.

31) Vgl. dazu D. Rössler, Die Moral des Pluralismus, in: Anselm/Körtner (Hrsg.), Streitfall Biomedizin (s. Anm. 11), 179-193.

32) M. Brumlik, Über die Unbegründbarkeit der Menschenwürde aus dem Geist der Diskursethik - Wider den hermeneutischen Kompromiß in der Euthanasiedebatte!, Ethik und Sozialwissenschaften 2 (1991), 377- 380, hier 379.

33) Tanner, a. a. O. (s. Anm. 17).

34) Tanner, a. a. O. (s. Anm. 17), 152.

35) Vgl. dagegen K. Tanner, ebd.: "Das naturwissenschaftliche Arbeiten ist eine Folge und Konkretion der Freiheit des Menschen und setzt damit diese voraus."

36) Vgl. Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 41; ähnlich argumentiert Richard Schröder, wenn er behauptet, dass der Verzicht auf die Erforschung therapeutischer Möglichkeiten dem Geist des Evangeliums widerspreche (vgl. Schröder, a. a. O. [s. Anm. 19], 291).

37) I. Praetorius, Das Trumpf-Argument - und seine Widerlegung, in: Menschenwürde und biotechnischer Fortschritt im Horizont theologischer und sozialethischer Erwägungen, Gütersloh 2001 (EvTh.S, 2001), 56-60, hier 58.

38) Praetorius erkennt einen Grund für die Anerkennung der Konstruktion eines angeblich einheitlichen Interesses der Kranken "in der Tradition des christlichen Paternalismus, demgemäß die Starken zwar verpflichtet sind, die Schwachen zu schützen und zu lieben, nicht aber sie als gleichberechtigte und je eigenständige GesprächspartnerInnen ernstzunehmen" (ebd.).

39) Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 41; Starre Fronten überwinden. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung, in: Anselm/Körtner (Hrsg.), Streitfall Biomedizin (s. Anm. 11), 197-208, hier 204.