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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

480 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Löning, Karl

Titel/Untertitel:

Das Geschichtswerk des Lukas. Bd. 1: Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 261 S. kl.8 = Urban Taschenbücher, 455. Kart. DM 34,-. ISBN 3-17-013121-4.

Rezensent:

Walter Schmithals

Anzuzeigen ist der erste Band einer auf drei Bände im Taschenbuchformat angelegten Interpretation des lukanischen Doppelwerkes. Angesichts der nach wie vor herrschenden Unsitte, in unseren Kommentarreihen die Behandlung des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte verschiedenen Bearbeitern anzuvertrauen, ist Lönings Unterfangen vorbehaltlos zu begrüßen.

Freilich legt L. keinen Kommentar im üblichen Sinn vor. Er ist nicht nur der Überzeugung, daß wir in dem lukanischen Doppelwerk einer erzählerischen Einheit begegnen, sondern er geht auch davon aus, daß diese Einheit im ganzen wie im einzelnen nur als Erzählung verstanden werden kann. "Erzählung ist keine beliebige Verpackung für theologische Inhalte, ... die aber auch außerhalb der Erzählung unabhängig von den erzählten und erinnerten Ereignissen ausgesagt werden könnten" (11). Darum will er den Leser in den Gang der erzählten Handlung hineinnehmen, ohne ihn mit den Problemen der Entstehung des vorliegenden Textes zu belasten, zumal ja auch die ursprünglichen Leser die Redaktion von Quellen nicht wahrgenommen haben. Dies Prinzip wird freilich nicht konsequent durchgehalten. Zwar wird die Feldrede - L. nennt sie ,Rede am Berg’ -, die den Schüler Jesu die Klugheit lehrt, "die ihn in der eschatologischen Krise zu ethischem Handeln befähigt" (206), ohne Vergleich mit der zu erschließenden Q-Fassung der einzelnen Logien interpretiert. Die lukanischen Besonderheiten des von Markus übernommenen Erzählgutes werden dagegen nicht selten durch den synoptischen Vergleich erschlossen, und es ist ja auch nicht einzusehen, warum der Ausleger ein exegetisches Wissen, das ihm in jedem Fall zur Verfügung steht, verdrängen sollte oder auch nur könnte. Und ob eine so sehr mit deutenden Reden durchsetzte und auf überkommenem Erzählgut aufbauende Darstellung wie die des lukanischen Doppelwerkes wirklich nur als Erzählung verstanden werden kann, scheint mir so zweifelsfrei nicht zu sein. Auch L. interpretiert nicht von ungefähr einzelne Erzählungen, wenn er z. B. zu den beiden Wundererzählungen in Lk 7,1-17 vermerkt, daß sie "als rettendes Handeln im strikt soteriologischen Sinn" zu verstehen sind. "Rettung bedeutet im Verständnis der lukanischen Soteriologie die Rettung des Lebens aus dem Tod. Dieser Aspekt der lukanischen Theologie kommt hier erstmals zur erzählerischen Ausführung" (216).

Sein Ansatz bei der erzählerischen Gesamtstruktur des lukanischen Doppelwerkes erlaubt L. nicht nur, auf Einzelerklärungen zu verzichten, sondern auch, in keine explizite Diskussion mit anderen Auslegern einzutreten. Zwar ist dem Band ein kurzes Literaturverzeichnis angehängt, doch bleibt dem Leser der Zugriff darauf verschlossen; Forschernamen und Forschungsergebnisse begegnen ihm nicht. Nur indirekt bemerkt der Kundige, wo sich L. von andernorts vertretenen Meinungen absetzt. Dies Verfahren erschwert einigermaßen den Zugang zu dem von L. intendierten Verständnis des lukanischen Doppelwerkes, weil man klarstellende Abgrenzungen im allgemeinen vermißt.

Der vorliegende Band enthält die Auslegung von Lk 1,1 bis 9,50. Dieser Kommentierung ist außer dem Vorwort zunächst eine Einführung vorangestellt, die das methodische Instrumentarium darlegt, mit der die Erzählungen als Erzählungen erschlossen werden sollen. Dazu gehört die Unterscheidung verschiedener Textebenen (fortlaufende Handlung; wörtliche Rede; Schriftzitate usw.), sowie der Aufweis des Spannungsgefüges der einzelnen Erzählungen, die zwischen einem Disäquilibrium in der Exposition und dem Äquilibrium am Erzählziel eingespannt sind. Besonderen Wert legt L. auf die Unterscheidung der Sequenzen, aus denen jede Szene aufgebaut ist. Bei der inhaltlichen Erschließung der erzählenden Texte geht er stets von der sequentiellen Struktur der Handlung aus, die er oft zunächst optisch sichtbar macht. "Das Verstehen der Sequenzen einer erzählten Handlung gehört nämlich zu den schöpferischen Leistungen, die ein Text seinen Lesern abverlangt", und der nicht geringe Aufwand, mit dem L. die entsprechende Struktur der Erzählungen erhellt, scheint ihm "deswegen notwendig zu sein, weil das Lesen biblischer Texte, vor allem der Evangelien, mit der beschriebenen Methode in seiner ursprünglichen Dynamik überhaupt erst wieder rekonstruiert werden muß" (17). Der Leser wird auf diesem Wege freilich nicht nur zum Verstehen ermutigt, sondern nicht selten auch durch die umständliche Nacherzählung ermüdet.

Dem Proömium Lk 1,1-4 entnimmt L. sodann, daß die Geschichtsschreibung für Lukas "das Instrument des Gedenkens und der Vergegenwärtigung des Ursprungs" ist, "ohne den die Kirche seiner Gegenwart weder sich selbst verstehen noch sich anderen verständlich machen kann" (22 f.). Bevor er daraufhin mit der fortlaufenden Auslegung beginnt, zieht er die Erklärung von Lk 23,50-24,53 vor, weil der Osterzyklus am besten Aufschluß über das thematische Gesamtkonzept des lukanischen Doppelwerkes geben kann und folglich einen Schlüssel zu dessen Verständnis anbietet. Und zwar will Lukas seinem Leser begreiflich machen, "daß die Gewißheit seines christlichen Wissens auf der Bewahrheitung der messianischen Hoffnung des jüdischen Volkes basiert" (38). Das gesamte Werk des Lukas ist Ausdruck der Überzeugung, "daß die christlichen Gemeinden in der Gegenwart des Lukas, besonders die heidenchristlichen, ihren eigenen Ort in der Geschichte Gottes mit seinem Volk nicht plausibel machen können ohne ein geklärtes positives Verhältnis zum Judentum, zu seiner religiösen Kultur und zu seinem besonderen Hoffnungswissen. Es geht dabei um das eigene Selbstverständnis angesichts der Trümmer des Jüdischen Krieges, der eine Katastrophe auch für die Urchristenheit war" (195).

Erst die Fortführung und Vollendung des vorliegenden Buches wird erweisen können, ob L. damit den Schlüssel zum Gesamtverständnis des lukanischen Doppelwerkes gefunden hat. Zweifellos ist Lukas durchgehend mit dem Problem des Verhältnisses von ,Kirche’ und ,Synagoge’ befaßt. L. beobachtet mit gutem Grund, wie sehr Jesus sich - vergeblich - darum bemüht, "die Repräsentanten der Institutionen der religiösen Kultur des Judentums, Tempelpriesterschaft und Gesetzeslehrer, für die messianische Aufgabe der Sammlung Israels zu gewinnen" (204), und er zeigt z. B. sehr schön, wie Johannes der Täufer in der Darstellung des Lukas die Kontinuität von Jüdischem und Christlichem repräsentiert. Handelt es sich dabei aber um die einzige Intention des lukanischen Geschichtswerkes? Und ist für Lukas das ,Israelproblem’ wirklich das Problem seines heidenchristlichen Gottesvolkes insofern, als dies "sich knapp eine Generation nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels seiner eigenen kulturellen Identität vergewissern muß" (10)? Diese Auskunft muß jedenfalls noch exegetisch und historisch stärker abgesichert werden, soll sie nicht dem Verdacht erliegen, moderne theologische Erfahrungen in die frühchristliche Zeit zurückzutragen.