Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | Mai/1998 |
Spalte: | 478–480 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Kremer, Jacob |
Titel/Untertitel: | Der Erste Brief an die Korinther. Übers. u. erkl. |
Verlag: | Regensburg: Pustet 1997. 428 S. gr.8 = Regensburger Neues Testament. Lw. DM 78,-. ISBN 3-7917-1519-4. |
Rezensent: | Christian Wolff |
1940 hatte Otto Kuss als Mitbegründer des Regensburger Neuen Testaments den ersten Korintherbrief (zusammen mit dem Zweiten in einem Band) in dieser Reihe ausgelegt. Nun liegt eine völlig neue Kommentierung dieses Paulusbriefes vor, in der die enorme Entwicklung der deutschsprachigen katholischen Exegese innerhalb der letzten 50 Jahre eindrucksvoll dokumentiert ist.
Jacob Kremer betont von vornherein die dienende Funktion der Exegese: "Ihre Aufgabe liegt nicht darin, dem Leser fertige Antworten vorzulegen, sondern ihn zu befähigen und zu ermutigen, selbst immer wieder neu den Text zu lesen und sich durch ihn von Gott ansprechen zu lassen" (6). Dieser nicht an Selbstdarstellung, sondern ausschließlich am Kommentarleser interessierten Orientierung entspricht die Gestaltung des Buches.
Der Einleitungsteil informiert knapp und präzis über Textgestalt, Adressaten, Abfassungssituation und Gliederung des 1Kor. Gegenüber Teilungshypothesen und der Annahme gnostischer oder vorgnostischer Einflüsse auf korinthische Gemeindeglieder äußert sich der Vf. hier wie auch im Zusammenhang der fortlaufenden Kommentierung zurückhaltend. Insgesamt favorisiert er die Einheitlichkeit des 1Kor und verweist auf die chronologischen und interpretatorischen Probleme des Phänomens "Gnosis". Die Grundhaltung einflußreicher Korinther charakterisiert er im folgenden als pneumatisch-enthusiastisch.
Im Kommentarteil werden die einzelnen Textabschnitte des 1Kor jeweils in vierfacher Weise und sehr übersichtlich behandelt: Zunächst werden Gedankengang und Struktur der Perikope erörtert. Dann folgt eine in Sinnzeilen und -einheiten gedruckte Übersetzung, die in Wortwahl und Wortstellung dem Urtext entsprechen soll. In der Versexegese werden die jeweils behandelten Textelemente in Kursivdruck wiedergegeben. Abschließend wird ausführlich die theologische Bedeutung des Abschnittes für den heutigen Leser aufgezeigt. - Exkurse fehlen, aber auf die Herrenmahlsüberlieferung wird, u. a. mit einer Synopse, extensiv eingegangen (246-248). Ein Verzeichnis repräsentativ ausgewählter internationaler Literatur (jeweils auch zu den einzelnen Perikopen) und ein ausführliches Stichwortverzeichnis schließen den Band ab.
Der Vf. berücksichtigt zu relevanten Stellen eingehend Probleme der griechischen Grammatik und der Textkritik; vor allem sei auf die philologischen Überlegungen zu 15,2 und zur Auferstehungsterminologie (324) hingewiesen. Des öfteren wird die Exegese der Kirchenväter herangezogen. Von besonderer theologischer Tiefe sind - erwartungsgemäß! - seine Überlegungen zur Auferstehung Jesu, speziell zu deren Ereignischarakter (325-328). Aus der feministischen Exegese werden Anregungen positiv aufgenommen, indem z. B. in die Bruderanrede durchweg auch Frauen einbezogen werden und die wichtige Rolle von Frauen in der Urkirche wiederholt betont wird. In den aktualisierenden Überlegungen werden ausgewogene Orientierungsanregungen vermittelt, die des öfteren kirchliche Verfügungen und Praktiken kritisch anfragen (z. B. wird ein triumphalistisches Selbstverständnis der Kirche als Entsprechung zum korinthischen Enthusiasmus aufgezeigt), zugleich aber auch wiederholt zur Meditation anleiten (etwa 82, 151, 223). Positionen aus der Psychologie werden ebenso zur Geltung gebracht wie Texte aus der Gegenwartsliteratur und Beispiele aus der Kirchenmusik.
Auf folgende Punkte in der Kommentierung sei eigens hingewiesen: Der Vf. teilt die Sicht, wonach in 1,10-4,21 und 12,1-14,40 das Schema einer antiken Rede zu bemerken sei. Rhetorisch könnte seiner Meinung nach auch die Erwähnung des Kephas und Christi in 1,12 sein, da alles auf "die Auseinandersetzung um die Lehren bzw. Lehrweisen des Paulus und des Apollos" (32) konzentriert sei (vgl. freilich 3,22 f.!). - In der eindringlichen Exegese von 2,6-16 werden vor allem Texte der frühjüdischen Weisheitsliteratur und der Apokalyptik berücksichtigt. - 7,21b wird als Aufruf zum Sklave-Bleiben interpretiert; für 7,36-38 wird die Deutung auf einen Vater bzw. Vormund bevorzugt. - Hinsichtlich der Herrenmahlsüberlieferung neigt der Vf. dazu, "im eschatologischen Ausblick von Mk 14,25 parr das einzige mit Sicherheit zu eruierende ureigene Wort Jesu beim letzten Mahl vor seinem Tod" (246) zu sehen. - 14,33b-36 wird als integraler Bestandteil des 1Kor verstanden und auf "ungeordnete, den Gottesdienst störende Reden" (312) bezogen.
Gelegentlich erwartet man - gerade im Hinblick auf den Leserkreis des Regensburger Neuen Testaments - detaillierte Auskünfte. Zum Beispiel wird zu 5,5 das Verhältnis der Aussagen dieses schwierigen Verses zueinander kaum bedacht. Zu 15,5 wäre die Nennung des Zwölferkreises trotz Fehlens des Judas zu erörtern. Der Gebrauch des Ausdrucks "Fehlgeburt" in 15,8 wird nicht erläutert.
Wiederholt wird die Mitgliederzahl der korinthischen Christen auf hundert bis zweihundert (16 u. 306) bzw. auf "einige hundert" (94) geschätzt. Die Versammlung der Glaubenden an einem einzigen Ort (11,20; 14,23; vgl. auch Röm 16,23) legt jedoch, entsprechend der Größe damaliger Wohnhäuser, eine niedrigere Anzahl (ca. 50) nahe.
Im gesamten Kommentar sind philologische Akribie, theologische Reflexion und hermeneutisches Engagement harmonisch miteinander verbunden. Überall ist die Hand eines erfahrenen Exegeten zu spüren. Das in Neubearbeitung befindliche Regensburger Neue Testament wurde um einen gehaltvollen Band bereichert.