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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

694–696

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Leonhardt, Rochus

Titel/Untertitel:

Skeptizismus und Protestantismus. Der philosophische Ansatz Odo Marquards als Herausforderung an die evangelische Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. VIII, 352 S. gr.8 = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 44. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-147864-9.

Rezensent:

Markus Buntfuß

"Man muss von Zeit zu Zeit skeptische Perioden durchleben, wenn anders man ein Recht haben will sich eine wissenschaftliche Persönlichkeit zu nennen" (F. Nietzsche, KSA 8, 417). Dass und in welchem Sinn auch der wissenschaftliche Protestantismus gut beraten ist, sich nicht nur sporadisch, sondern methodisch durch die philosophische Skepsis in Frage stellen zu lassen, ist das Ziel der im Wintersemester 2000/2001 von der Theologischen Fakultät der Universität Rostock angenommenen Habilitationsschrift. Für die damit anstehende Verhältnisbestimmung von philosophischer Skepsis und protestantischer Theologie hat L. einen skeptischen Zeitgenossen als Gesprächspartner gewählt: Odo Marquard, den sich selbst so bezeichnenden Transzendentalbelletristen und begehrten Tagungsredner ("... ich habe gar keinen Ansatz, oder richtiger: Ich habe zwar einen Ansatz, nämlich einen Bauchansatz; aber der ist nur für Überreflektierte eine philosophische Position ..."). Insofern Marquards Denken als der Versuch zu verstehen sei, "das Ataraxie-Ideal antiker Skepsis im Kontext moderner Welterfahrung zu rehabilitieren" (32, im Anschluss an W. Dietz), vertrete er auf anspruchsvolle Weise die alte Tradition der pyrrhonischen Skepsis, mit der sich der Protestantismus zum eigenen Gewinn kritisch wie konstruktiv zu befassen habe.

Im Einleitungsteil schreibt L. deshalb vor allem gegen zwei apologetische Strategien an, sich den Skeptizismus protestantischerseits vom Leibe zu halten: die fideistische Instrumentalisierung des skeptischen Erkenntnisvorbehalts zu Gunsten eines umso gewisseren Glaubens (B. Pascal) und die Reduzierung der Skepsis auf eine zu Angst und Verzweiflung führende Blindheit für das, was uns unbedingt angeht (P. Tillich). L. schärft ein, dass die Tradition der pyrrhonischen Skepsis gerade nicht durch einen letzten Wahrheitswillen getrieben, sondern durch einen bewussten Wahrheitsverzicht gekennzeichnet sei. Jede theologische Taktik, sich im Interesse an religiöser Heilsvergewisserung den Wahrheitsmangel der Skepsis zu Nutze zu machen, unterschreite deren Problemniveau. In diesem Punkt wagt sich L. auch deutlich über bereits vorliegende Bearbeitungen des Skeptizismus seitens der Theologie hinaus.

Und L. leistet ein Zweites. Im Zuge seiner Beschäftigung mit Odo Marquard (Kapitel 2) bereitet er einer protestantisch-theologischen Rezeption der Schule Joachim Ritters den Weg, die bisher - in expliziter Weise - nur sehr vereinzelt stattgefunden hat, zum Nachteil der theologischen Zeitgenossenschaft. Denn insbesondere Marquards Werk hält eine Fülle von Problem- und Fragestellungen für die Theologie bereit. Seine weit reichende Kritik an einer den Menschen überfordernden Geschichtsphilosophie, seine Studien zur Anthropologie und Ästhetik als denjenigen Disziplinen, in denen sich seit der zweiten Hälfte des 18.Jh.s die Kompensation der gescheiterten Theodizee in Gestalt einer Philosophie der Endlichkeit vollzieht, sowie seine Kritik am Monotheismus, die er - 20 Jahre vor Jan Assmanns Kritik an der mosaischen Unterscheidung - mit einem provokativen Plädoyer für eine auf Gewaltenteilung beruhende narrative Polymythie verbindet, bieten dem Theologen reichlich Anlass zu apologetischen Bemühungen oder notwendigen Abschieden. - Was die Wahl von Thema und Gesprächspartner betrifft, unterscheidet sich die Studie also auf wohltuende Weise von der wieder verstärkt zu beobachtenden Tendenz zu einer um den Erhalt ihrer Sondergruppensemantik besorgten Theologentheologie.

Von den genannten Herausforderungen beschränkt sich L. freilich auf Marquards polymythischen Appell und konfrontiert ihn mit dem auf Einsinnigkeit und Eindeutigkeit abhebenden protestantischen Schriftprinzip. Ihren systematischen Grund hat diese Entscheidung in dem Gegensatz zwischen skeptischer epoche und protestantischer assertio, ihr geschichtliches Vorbild in dem Streit Luthers mit Erasmus, der dann auch eingehend referiert wird. Daran schließt sich eine Kurzgeschichte der lutherischen Schriftlehre an, die mit der Krise des Schriftprinzips (W. Pannenberg) und dem Verlust einer mit dem biblischen Textbestand gegebenen Klarheit und Einsinnigkeit endet. Eine kritische Diskussion ausgewählter Verarbeitungsgestalten dieser Krise seitens der gegenwärtigen protestantischen Schriftlehre liefert schließlich die Kriterien für eine dem historisch- kritischen Verlust an Eindeutigkeit sowie der skeptischen Forderung nach Vieldeutigkeit entsprechende pluralismusfähige Bibelhermeneutik.

Im Schlussteil versucht L. diesem Programm unter dem Motto einer skeptischen assertio skizzenhaft Kontur zu geben. Abgesehen von der griffigen Formel bleibt dieser Teil jedoch eher vage und unausgeführt. So plädiert L. zwar völlig zu Recht dafür, auf die apologetische Unterscheidung zwischen literarisch-ästhetischer und religiöser Bibellektüre zu verzichten, weil auch die ästhetisch motivierte Annäherung an den Text zu einem neuen religiösen Interesse führen kann (L. bezieht sich hier mit U. H. J. Körtner vor allem auf H. Blumenbergs Matthäuspassion). Mit diesem Appell bleibt L. jedoch hinter dem mittlerweile erreichten Diskussionsstand zur literarisch-ästhetischen Bibelhermeneutik zurück. Auch das Referat zum Satz der Bedeutsamkeit (E. Rothacker) vermag den Fund nicht wirklich auszumünzen. Und wenn abschließend die mangelnde "Authentizitätsfähigkeit des Skeptizismus" (320) beklagt wird, droht die irenische Formel der skeptischen assertio doch auf eine jener theologischen Skepsisentschärfungen hinauszulaufen, die L. andernorts scharfsinnig kritisiert und zurückgewiesen hat. So berechtigt und zustimmungsfähig L.s Plädoyer für hermeneutische Pluralität und eine undogmatische protestantische Schriftlehre ist, so unbestimmt bleibt seine eigene Durchführung. Aber hierin liegt auch nicht sein Ziel. Zunächst geht es L. darum, in der protestantischen Schriftlehre die prinzipielle Bereitschaft zum Abschied vom Prinzipiellen zu wecken und den dogmatischen Verlustängsten einen unerschöpflichen Gewinn an Bedeutsamkeit gegenüberzustellen.