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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

692–694

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Barth, Ulrich

Titel/Untertitel:

Aufgeklärter Protestantismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. X, 423 S. 8. Kart. Euro 34,00. ISBN 3-16-148321-9.

Rezensent:

J. Christine Janowski

Nach seiner Aufsatzsammlung "Religion in der Moderne" (Mohr Siebeck 2003), die dem - systematischen, problemgeschichtlichen sowie zeitdiagnostisch orientierten - Thema Religion im Verhältnis zu Sinn, Moderne, Subjektivität, Autonomie und Naturwissenschaft gewidmet ist und die Religion als Grundform humaner Deutungskultur versteht, lässt der Hallenser Dogmatiker und Religionsphilosoph B. mit diesem neuen Sammelband von z. T. unveröffentlichten Studien theologiegeschichtliche Ergänzungen (VII) folgen, die dem theoretischen Ansatz nach mehr als nur im engeren Sinne theologiegeschichtliche Ergänzungen sind. Der erste Aufsatzband enthält u. a. einen glänzenden Beitrag zur Christentumstheorie F. Wagners und zu deren an Aporien sich hart abarbeitenden Verschiebungen (a. a. O., 167-199). Der neue Band ist Wagner so gewidmet, dass B. wiederum seine eigenen Wege in der relativ gleichen, nämlich neuprotestantischen, der "Aufklärung des Protestantismus" (VIII) gewidmeten Spur geht. Zu diesem eigenen Weg gehört ein - jedenfalls im Allgemeinen - unpolemischer Stil sowie die B. von seiner ersten Veröffentlichung an wesentlich bestimmende Orientierung an Schleiermacher und zugleich an einer spezifischen Schleiermacherauslegung, die für den Begriff von Religion als humaner Deutungskultur offen ist (383, Anm. 62, vgl. Religion in der Moderne, 456 ff.) und zugleich Schleiermacher und die Reformation sowie deren kritische Umbildung in der Folgezeit unter dem Begriff des aufgeklärten Protestantismus näher aneinander rückt als gewöhnlich.

Dies dokumentiert sich schon im Vorwort (VII f.), sofern die Mentalitätsmerkmale "Freiheit, Subjektivität, Kritik" des aufgeklärten Protestantismus, verstanden als "weniger eine Konfession denn vielmehr eine Denkungsart", Aufklärung und Reformation so übergreifen sollen, dass mit diesen für die kulturelle Identität der Neuzeit insgesamt verbindlich gewordenen Merkmalen zugleich eine Relativierung der gängigen Unterscheidung zwischen Altprotestantismus und Neuprotestantismus signalisiert wird, ohne doch deren Wahrheitsmoment preisgeben zu wollen.

Dem entspricht der einleitende programmatische Beitrag zum Thema "Aufgeklärter Protestantismus und Erinnerungskultur" (3-23). Denn er stellt die gegensätzlichen Luther- bzw. Reformationsdeutungen unter das Zeichen der neueren Logik des kulturellen Gedächtnisses mit seiner legitimatorischen usw. Funktion für die jeweilige Gegenwartskultur, um sie - der Absicht nach entideologisiert (vgl. 3) - auf Einsichten des klassischen Historismus und speziell der Lutherdeutungen des theologischen Historismus mit ihrer Betonung der Sinnambivalenz historischen Erinnerns, insbesondere der Ambivalenz bis Janusköpfigkeit Luthers im Blick auf Mittelalterliches und Neuzeitliches, zurückzubeziehen.

Verdankt sich nach dieser Voraussetzung jede methodisch kontrollierte Form der Erinnerungskultur einem reflektierten Zusammenspiel von (nur?) Konstruktion und Kritik (7), so vollzieht sich protestantische Erinnerungskultur in der Differenz von Protestantismus als "Prinzip" mit strittigem Identitätskriterium und Protestantismus als "Erscheinung" (8). Aufgeklärter Protestantismus, gekennzeichnet durch ein entkrampftes Verhältnis zur Moderne, ist samt seiner immerhin vorausgesetzten Selbsthistorisierung in der Spannungseinheit von Kontinuität und Diskontinuität im Blick auf die reformatorischen Ursprünge (9) mit einer entsprechenden "Minderung von Herkunftsvergessenheit" (22) zu verbinden. Dies schließt eine neuzeittheoretisch reflektierte Reformationsdeutung, die um ihre Differenz zur Reformation selbst weiß, so ein, dass sich aufgeklärter Protestantismus im methodischen Sinne und im materialen Sinne wechselseitig fordern, wenn es um die Gegenwartsbedeutung der Reformation geht (23).

Die folgenden gelehrten, zugleich argumentativ hochkonzentrierten und trotzdem gut lesbaren Aufsätze folgen im Sinne eines produktiven und zugleich z. T. lokal situierten (vgl. Halle) Zusammenhangs diesem Programm mit subtilen, manchmal etwas weiträumigen Textinterpretationen und (besonders neuprotestantischen) Forschungsbezügen.

Der 1. Teil (27-146) ist dem frühen Luther gewidmet: seiner "Entdeckung der Subjektivität des Glaubens" (Buß-, Schrift- und Gnadenverständnis), der "Geburt religiöser Autonomie" (Ablassthesen von 1517), der "Dialektik des Offenbarungsgedankens" (Theologia crucis), die "den Aspekt der Kritik in den[?] Offenbarungsgedanken selbst" aufnimmt und damit der kritischen Dimension dessen, was hier als aufgeklärter Protestantismus bezeichnet wird, "die stärkste Begründung" geben soll, "die sich theologisch überhaupt denken lässt" (122), um mit Bemerkungen zur Lutherdeutung A. Ritschls das "gebrochene Verhältnis zur Reformation" des aufgeklärten Protestantismus auf Grund der genannten Ambivalenz bzw. Janusköpfigkeit zu schließen.

Der 2. Teil (147-256) ist den Stationen der Umformung des "kirchlichen Protestantismus" gewidmet und untergliedert sich in: "Pietismus als religiöse Kulturidee" (Speners und Franckes Ethos der Bekehrung) und insofern als Vorgänger eines Kulturprotestantismus (165), "Hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips" (Francke, Baumgarten und Semler), "Mündige Religion - Selbstdenkendes Christentum" (Deismus und Neologie in wissenssoziologischer Perspektive, die zu ihrer Aufwertung führt), "Ästhetisierung der Religion - Sakralisierung der Kunst" (Wackenroder) als Kompensationsvorgang zur Aufklärungstheologie und ihres Moralismus, aber auch als Reformulierung eines Religionsbegriff, der Religion als "eine Sinnperspektive bestimmt ..., die um den Deutungscharakter ihrer Weltsicht selber weiß" (254).

Der 3. Teil (257-385) ist (einem - vgl. o. - entkirchlichten) Schleiermacher gewidmet: der Religionstheorie der Reden als seines theologischen Modernisierungsprogramms, dem Individualitätskonzept der Monologen als ethischem Beitrag zur Romantik, den subjektivitätstheoretischen Prämissen der Glaubenslehre in Auseinandersetzung mit K. Cramers wirkungsmächtiger kantianischer Schleiermacherstudie und dem Letztbegründungsausgang der Dialektik bzw. mit Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens.

Es folgen als Schluss (397-396) "Gedanken zur Zukunft des Protestantismus" in Gestalt einer Universitätspredigt, die folgendermaßen endet:

"Die Zukunft des Protestantismus liegt nicht in Uniformierung, Schulterschluss und Gemeinschaftsduseleien, sondern in der religiösen Stärkung des Individuums von innen her. Genau darin haben auch kirchliche Institutionen ihren letzten Zweck. ... Niemand weiß, was künftige Zeiten bringen werden. Aber eines weiß ich gewiß, daß jene Grundeinsichten Luthers bis heute nichts von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt haben und bezüglich ihrer Realisierung nach wie vor unabgegolten im Raum stehen: Erstens die Idee einer spirituellen Verbundenheit jenseits von Kirchenmauern und Institutionenschranken, zweitens die Idee einer religiösen Kommunikation jenseits von Bevormundung und Einschüchterung, drittens die Idee eines unendlichen Wertes jedes Individuums jenseits von Selbstverwirklichungsüberforderungen und Rollenzwängen." Protestantismus - dieser aufgeklärte Protestantismus - "das ist der Traum einer Religion für freie Geister".

Es ist gut, dass hier in sehr einfachen und nun doch zum Teil deutlich polemischen Worten, ohne jeden theoretischen Unter- oder auch Überbau, die lebenspraktische Quintessenz des "aufgeklärten Protestantismus" ebenso festgehalten ist wie das, was in dessen Perspektive von Luther an "Ideen" bleibt. Aber diese Quintessenz ist doch theologisch - auch ekklesiologisch und ethisch - so dünn bis leer, dass sie mit so mancherlei kompatibel ist, obwohl im Blick auf Luther festgehalten wurde, dass die Subjektivität des Glaubens bei Luther in seiner "spezifischen", nämlich christologischen "Inhaltsbestimmtheit", gründet (47), die also noch einer anderen "Erinnerungskultur" als Ergänzung bzw. Fundierung bedürfte. - So darf man gespannt sein auf die aufgeklärte protestantische "Dogmatik" dieses Hallenser Dogmatikers und Religionsphilosophen. In jedem Falle wird sie konsequent eine auf "Glaubenswissen" verzichtende nachkantianische Religionstheologie (351) sein, der bis jetzt das Problem einer Modernisierung des klassischen so genannten Schriftprinzips fraglich ist (199), also auch die Reichweite des Umformungsprogramms (vgl. 125) christlicher Identität mit Anschlussfähigkeit an die Moderne und ihre präferierten Wissenschaften. Damit bleibt zugleich der nicht zuletzt theologische Kritikbegriff mit Folgen auch für die theologische Enzyklopädie fraglich.