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Ausgabe: | Juni/2005 |
Spalte: | 686–688 |
Kategorie: | Philosophie, Religionsphilosophie |
Autor/Hrsg.: | Kneer, Markus |
Titel/Untertitel: | Die dunkle Spur im Denken. Rationalität und Antijudaismus. |
Verlag: | Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2003. 204 S. gr.8 = Paderborner Theologische Studien, 34. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-506-76285-0. |
Rezensent: | Johann Maier |
Nach Vorwort und Einleitung behandelt diese Paderborner theologische Dissertation im ersten Teil "Rationalität und Realitätsverankerung rationalistischer Judenfeindschaft". In Kap.1 (25-53) wird der Forschungsstand nach historischen und psychologisch-philosophischen Studien skizziert, in Kapitel 2 (54-67) die modern-orthodoxe Interpretation des Judentums des Philosophen Emanuel Levinas beschrieben. Sie dient dem Vf. im Weiteren als Richtschnur für ein Judentumsbild, das er absolut setzt und (68-77) sozusagen als "Judaismus" dem "Antijudaismus" gegenüberstellt. Der zweite Teil beschreibt den "rational begründeten Antijudaismus in der Neuzeit", setzt in Kapitel 1 (81-119) mit Spinoza und dessen Einfluss auf den englischen Deismus und auf Voltaire ein und behandelt dann in Kapitel 2 (120-171) Hegel, Feuerbach, Bruno Bauer und Karl Marx. Der dritte Teil steht unter dem Titel "Die verborgene Erkenntnis des rationalistischen Antijudaismus". Kapitel 1 (175-183) spürt einen philosophischen Totalitätsanspruch auf, der sich auf die Sicht des Judentums ausgewirkt habe. Kapitel 2 (184-192) analysiert unter dem Titel "Jenseits des Systems" in vier Paragraphen "Erkenntnis und Anerkennung", "Krieg als Anerkennung", "Transhistorizität des Judentums" und "Transmoralität des Judentums". Der letzte Paragraph, "Der Andere außerhalb des Systems" (189 ff.), hat das "antijudaistische Subjekt als Stellvertreter des Judentums" zum Gegenstand und fährt fort mit Ausführungen zu "Vorursprünglichkeit der Schöpfung- Eschatologie des Friedens" und "Andersheit Israels und Andersheit Gottes", womit wieder an Emanuel Levinas angeknüpft wird. Ein Abkürzungsverzeichnis, ein Literaturverzeichnis (194-200), ein Personen- und ein Sachregister schließen den Band ab.
Auf S. 192 gibt der Vf. die für ihn erkenntnisleitenden Definitionen an: "Die Rationalität kann für antijudaistische Zwecke instrumentalisiert werden. Das geschieht in allen Formen der Judenfeindschaft. Im rationalistischen Antijudaismus ist ein totalitärer Vernunftbegriff das Mittel, um das Judentum seiner Daseinsberechtigung zu berauben. Die judenfeindliche Ausrichtung findet sich jedoch nicht im Vernunftbegriff selbst, sondern in dem vorrationalen Kampf um absolute Geltungsansprüche. Im Judentum tritt dem Rationalismus ein irreduzibler Widerstand entgegen, dessen Bekämpfung die Gestalt des Antijudaismus annimmt ...". "Im Judentum selbst liegt der Grund, der Antijudaismus hervorruft. Israel lebt aus seinem Transzendenzbezug; es ist das Volk, das Zeugnis für den transzendenten Gott ablegt. Diese Transzendenz abzubauen, bezeichnet das Ziel des rationalistischen Antijudaismus: Die Erwählung Israels soll zum Systemelement reduziert werden. Israel selbst steht jedoch auch stellvertretend für den Anachronismus alles Menschlichen. In der Auflehnung des Antijudaismus gegen diesen Anachronismus zeigt sich, dass jener letztlich den Hass auf den anderen Menschen symbolisiert. Die je spezifische Andersheit ist es, die auch in anderen Formen des Hasses das Moment bezeichnet, welches die Feindschaft auslöst."
Der Vf. referiert innerhalb der einzelnen Kapitel frühere Forschungsbeiträge korrekt und auch die Beschreibung der behandelten Autoren ist weithin informativ. Einem judaistisch ausgebildeten Leser bereitet die Lektüre dieser Arbeit allerdings einiges Unbehagen. Der erste Abschnitt des Vorworts demonstriert eine in einer spezifisch deutschen Diskussionslage wurzelnde Motivierung und Zielsetzung der Arbeit: der Absicht nach durchaus löblich, aber eben auch mit den problematischen Eigenheiten der modischen Anti-Antisemitismusliteratur belastet - also gut gemeint, aber für das Verständnis des Judentums kaum hilfreich. Dazu kommt hier eine religionsgeschichtlich gesehen ahistorisch-dogmatisch vereinfachende und religionswissenschaftlich-theologisch gesehen verabsolutierende Definition des Judentums.
Zunächst verschafft der Vf. dem Leser Klarheit hinsichtlich der in vielen Publikationen allzu oft als austauschbar verwendeten Termini "Antisemitismus" und "Antijudaismus", was ihn dennoch dazu verführt, "antijudaistisch" (erfreulicherweise nicht auch "antisemitistisch" und "antichristianistisch") zu verwenden. Was der "Semitismus" bzw. "Judaismus" vor dem "Anti" darstellt, bleibt allerdings im Dunkeln, denn mit einem derart à la Levinas abstrahierten und verabsolutierten Judentumsbild kann sich kein Leser ein zutreffendes Bild vom Judentum der behandelten Zeit machen.
Das wiegt schwerer als eine gewisse philosophiegeschichtliche Engführung, die vollständige Ausblendung des historischen Judentums verblüfft schon sehr, kommt doch abgesehen vom "abtrünnigen" Spinoza als dem viel gescholtenen Ahnherrn der postulierten Fehlentwicklung kein einziger jüdischer Autor aus der behandelten Periode zu Wort. Die Ursache liegt in der Annahme des Vf.s, dass eine abstrahierende, modern-orthodoxe Judentumsdefinition à la Emanuel Levinas ausreicht, um die jüdische Seite in der behandelten Periode abzudecken. Sie deckt aber nicht einmal die tatsächliche, konkrete jüdische Religiosität von Levinas selbst ab, sie droht bei einer Ignorierung dieser konkreten Religiosität vielmehr zu beflissen hochgejubelten, aber inhaltsleeren Gemeinplätzen über "den Anderen" und "das Andere" zu versanden, sagt über "das Judentum" nicht mehr aus als eine im selben Maß abstrahierte Definition des Christentums oder des Islam.
Auf der Basis einer solchen Abstraktion des Judentums konnte der Rationalismus natürlich nur als eine kritische bis feindselige Gegenposition ins Blickfeld kommen, in krassem Gegensatz zum religionsgeschichtlichen Befund. Es verwundert angesichts der reichen Quellenlage schon sehr, dass überhaupt nicht zur Sprache kommt, welche positive Bedeutung das auf der Aufklärung fußende Judentum dem Rationalismus bis zur NS-Zeit und teilweise auch noch darüber hinaus für sich selbst zugemessen hat. Von den jüdischen Aufklärern über das Reformjudentum, das Konservative Judentum bis hin zur westlich-modernen Orthodoxie wurde nämlich das Christentum als dogmatisch verhaftet und als irrational gewertet und das ("richtig" verstandene) Judentum demonstrativ und stolz als rationalistische Religion präsentiert, als Repräsentation der allgemeinmenschlichen, ethisch akzentuierten Vernunftreligion und insofern auch "Weltreligion". In der Apologetik und Polemik gegenüber dem Christentum hat diese Haltung zudem eine lange Vorgeschichte, die in der Theologie aus der Geschichte der Bibelexegese ja bekannt ist. In der Auseinandersetzung mit dem Christentum haben nämlich jüdische Apologeten in Mittelalter und Neuzeit ihre Bibelexegese, obwohl sie intern sehr wohl verschiedene Schriftsinne voraussetzten, ganz und gar auf den Wortsinn ausgerichtet und damit von christlicher Seite den Vorwurf des Rationalismus auf sich gezogen. Die Verfechter der Aufklärung und des Rationalismus haben daraus einige Argumente für ihre Religionskritik bezogen und diese zielte keineswegs vorrangig auf philosophisch-theologische Aspekte der jüdischen Religion ab.
Als sich im 19. Jh. S. L. Steinheim (und später F. Rosenzweig) der vorherrschenden rationalistischen Selbstdarstellung des Judentums entgegenstellte, erntete er noch weithin Hohn und Spott. Die konservativen christlichen Theologen und nationalkonservativen Autoren des 19./20. Jh.s haben vor allem gegen den von vielen Juden vertretenen "zersetzenden Rationalismus" gewettert und diesen Begriff zu einem verbreiteten Schimpfwort gemacht, während die "fortschrittlichen" Judentumskritiker gegen Rückständigkeit und Traditionsgebundenheit der jüdischen Orthodoxie zu Felde zogen. Dabei wurden übrigens weit mehr Argumente aus der Mottenkiste der christlichen Apologetik angeführt als konkrete Phänomene am Judentum der Zeit rational in Frage gestellt.
Der Vf. hätte bei voller Berücksichtigung der jüdischen Seite mit ihrer Vielfalt und ihren Widersprüchlichkeiten einen sehr nützlichen Beitrag leisten können. Doch unter den beschriebenen Voraussetzungen wird trotz allen anerkennenswerten Bemühens der Leser über das Judentum nur unzureichend und in entscheidenden Punkten sogar irreführend informiert. Aber damit steht der Vf. nicht allein, denn auch der Großteil der anti-antisemitischen Literaturflut von heute trägt in Folge mangelhafter Berücksichtigung der jüdischen Seite kaum etwas zu einem besseren Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden bei, wirkt sich streckenweise sogar kontraproduktiv aus, vor allem in Fällen innerchristlich-polemischer oder politisch-demagogischer Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs.