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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

684–686

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Garff, Joakim

Titel/Untertitel:

Sören Kierkegaard. Biographie.

Verlag:

Aus dem Dänischen v. H. Zeichner u. H. Schmid. München-Wien: Hanser 2004. 958 S. m. Abb. 8. Geb. Euro 45,00. ISBN 3-446-20479-2.

Rezensent:

Hermann Fischer

Joakim Garff, als Mitherausgeber von Kierkegaards (= K.) Schriften intim vertraut mit den publizierten wie den handschriftlichen Materialien, hat ein ebenso erstaunliches wie merkwürdiges Buch vorgelegt. Auf den mehr als 900 Seiten dieser Biographie erfährt man zu K.s Leben und den näheren Umständen seines Wirkens so gut wie alles, zur interpretatorischen Erschließung des philosophisch-theologischen Gehalts seiner Werke aber so gut wie nichts. Wohl werden der Entstehungshintergrund seiner Publikationen und deren unmittelbare Wirkung geschildert, von Fall zu Fall wird auch ihr Inhalt referiert, aber eine systematische Analyse der Konzeption der jeweils behandelten Schrift sucht man vergebens. So paart sich mit dem Dank für den Reichtum der vermittelten Details die Enttäuschung über den Ausfall einer soliden Werkinterpretation. In der "Einleitung" seines Buches schreibt G., jahrzehntelang habe "man geradezu eine systematische Vertreibung des Mannes aus seinem Werk betrieben" (16). Das ist eine arg verzerrende Einschätzung der bisherigen Kierkegaard-Forschung, erklärt aber vielleicht den Pendelausschlag nach der entgegengesetzten Seite.

Das Buch folgt strikt der Chronologie der Jahre, die auch als Hauptüberschriften für die einzelnen Kapitel fungieren. Es gliedert sich in fünf große Teile, deren zeitliche Abgrenzung nicht immer einleuchtet. So umfasst der I. Teil die Jahre von 1813 bis 1839, also die Zeit von der Geburt nicht bis zum Abschluss des Studiums, sondern nur bis zu den Vorbereitungen darauf (23- 204). Hier hätte sich mit der folgenreichen Verlobungsgeschichte und dem Abschluss des Studiums mit der Magisterarbeit 1841 m. E. eine sinnvollere Zäsur nahe gelegt. G. gliedert anders und weist dem II. Teil die Jahre von 1840 bis 1845 zu, setzt also mit der Verlobungsgeschichte K.s ein und verfolgt den Weg von der Magisterarbeit "Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates" bis zu den "Stadien auf des Lebens Weg" (207-429). K.s Streit mit dem "Corsaren", einem witzig-polemischen Wochenblatt, hatte für sein Leben in Kopenhagen und seine schriftstellerische Existenz gravierende Folgen; insofern überzeugt der Einsatz des III. Teils mit dem Jahr 1846, während die Abgrenzung nach hinten mit dem Jahr 1847 wieder eher zufällig wirkt (433-598). Analoges gilt dann für den Einsatzpunkt des IV. Teils, der die Jahre von 1848-1853 behandelt (601-812), während der abschließende V. Teil dem Streit K.s mit der dänischen Staatskirche 1854/1855 gewidmet ist (815-911).

Die Darstellung imponiert durch die stupende und geradezu erdrückende Quellenkenntnis G.s, die in den Anmerkungen dokumentiert wird (nach der deutschen Ausgabe der Gesammelten Werke K.s, übersetzt von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans [1959-1969] und der Tagebücher K.s, übersetzt von. H. Gerdes [1962-1974]). Souverän bewegt sich G. im Schrifttum K.s und in dem seiner Zeitgenossen. Er zeichnet die Umwelt nicht nur mit den Augen K.s, sondern lässt sich umgekehrt auch von deren Blick auf K. leiten. Zeitzeugen kommen mit Briefen und Schilderungen ausgiebig zu Wort, so dass der Leser am Originalton der damaligen und auch späterer Dokumente, in denen Erinnerungen an K. aufbewahrt werden, partizipieren kann. G. weiß ein facettenreiches Panorama über das Leben in Kopenhagen im zweiten Drittel des 19. Jh.s, die Gewohnheiten seiner Mitbürger, die Mode, das geschäftliche Leben und die sozialen Verhältnisse, die finanzielle Situation K.s mit seinem zeitweise horrenden Finanzbedarf (137), kurzum über alles, was irgendwie zur Erhellung der Atmosphäre beiträgt, in der K. gelebt und sich bewegt hat, vor dem Leser auszubreiten. Die minutiöse und durch viele Tagebuchaufzeichnungen untermauerte Schilderung des Charakters K.s sensibilisiert für die Besonderheit seines schriftstellerischen Wirkens. So zitiert G. z. B. für die Magisterarbeit "Über den Begriff der Ironie" einige für das geistige Fluidum der Schrift aufschlussreiche (spätere) Tagebuchaufzeichnungen K.s: "Seit meiner frühesten Kindheit hat ein Pfeil des Kummers in meinem Herzen gesessen. Solange er dort sitzt, bin ich ironisch - wird er herausgezogen, so sterbe ich" (230). Oder: "Eine wünschende, hoffende, strebende Individualität kann niemals ironisch sein. Ironie liegt (soweit sie eine ganze Existenz ausmacht) in dem gerade Umgekehrten, darin, dass man seinen Schmerz eben da hat, wo andere den Wunsch haben. Die Geliebte nicht bekommen können, das wird niemals Ironie. Aber sie nur allzu leicht bekommen können, so dass sie selbst fleht und darum bittet, die Geliebte zu werden, und sie dann doch nicht bekommen zu können: das wird Ironie" (230). Mit ähnlichen Tagebuchnotizen gelingt es G., den Blick für wesentliche Züge der Existenz K.s und für Eigentümlichkeiten seines Werkes zu schärfen. In dieser Hinsicht bietet die Biographie schier unerschöpfliches Anschauungsmaterial.

Aber dieses Werk selbst bleibt trotz der extensiven lebensgeschichtlichen Einbettung eigenartig blass. Es fehlt der beherzte interpretatorische Zugriff. Für die Behandlung der Magisterschrift begnügt sich G. mit der Information darüber, dass der I. Teil der Abhandlung der weltgeschichtlichen Bedeutung des Sokrates und seiner Bedeutung für die Geschichte der Subjektivität gilt, der II. Teil von der romantischen Ironie handelt (233f.). Aber die thematisierten Problemkomplexe, die erörterten Theorien über die Ironie und K.s Auseinandersetzung mit ihnen kommen nicht zur Sprache, stattdessen aber ausführlich die einzelnen Schritte der Begutachtung dieser akademischen Qualifikationsschrift (234-236). Manche Publikationen tauchen überhaupt nur am Rande auf. Das berühmte und für K.s Christologie, seine Geschichtstheologie und -philosophie gleichermaßen grundlegende Werk "Philosophische Brocken" erfährt ebenso wenig eine eigenständige und gründliche Analyse wie die gedanklich daran anknüpfende, in der dänischen Originalausgabe fast 500 Seiten umfassende Monographie "Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken". Und wie sich die hier vertretene christologische Anschauung zu derjenigen in der "Einübung im Christentum" verhält, scheint im entsprechenden Diskussionszusammenhang (740-750) - trotz einer Vielzahl ausführlicher Zitate - nicht einmal als Problem bewusst zu sein. Die Referate, die für manche Schriften geboten werden, können eine Werkinterpretation nicht ersetzen. Auch in dieser Hinsicht weiß G. mit Überraschungen aufzuwarten. So widmet er der kleinen Schrift "Die Wiederholung" eine ausführliche Nacherzählung. Ihr sind mehr Seiten gewidmet (274-295) als dem - nach der Magisterschrift- großen zweibändigen Erstlingswerk "Entweder-Oder" mit über 800 Seiten in der dänischen Originalausgabe (255- 269). Lediglich "Das Tagebuch des Verführers", ein Teilstück aus dem I. Band von "Entweder-Oder", wird mehrfach erwähnt und besprochen.

Die biographische Schwerpunktsetzung unter weitgehender Ausblendung einer systematischen Rekonstruktion der Philosophie und Theologie K.s erklärt wohl auch, dass die Kierkegaard-Rezeption und Kierkegaard-Forschung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus der Darstellung herausfallen, die dänische ebenso wie die außerdänische. G. verliert kein Wort über seinen Landsmann und Kierkegaard-Forscher Eduard Geismar, erwähnt ihn aber wenigstens im Literaturverzeichnis. Torsten Bohlin mit seiner großen Monographie über "Kierkegaards dogmatische Anschauung" (deutsch 1927) oder Emanuel Hirsch mit seinen "Kierkegaard-Studien" (1930-1933) finden sich nicht einmal dort, von anderen für die Kierkegaard-Forschung einschlägigen Werken zu schweigen.

Es charakterisiert die Biographie von G., dass er sich auf diesen über 900 Seiten ganz auf das dänische Umfeld konzentriert und beschränkt. Hier wird ein geradezu überbordender Reichtum von Quellen, authentischen Zeugnissen und Milieuschilderungen geboten, unterstützt durch viele schöne Bilder. Wer über das Leben K.s hinaus aber tiefere Einblicke in sein Werk gewinnen will, darf sich von diesem Buch keine Hilfestellung erwarten, sondern bleibt auf andere Darstellungen angewiesen.