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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

680–682

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter

Titel/Untertitel:

Die Vernunft des Gottesgedankens. Religionsphilosophische Studien zur frühen Neuzeit.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2003. 409 S. gr.8 = Quaestiones, 13. Lw. Euro 78,00. ISBN 3-7728-2190-1.

Rezensent:

Andreas J. Beck

Diese überarbeitete Berliner Habilitationsschrift (Freie Universität Berlin, Sommersemester 2001) versteht sich als Beitrag zur Genese der neuzeitlichen Religionsphilosophie. Als eigenständige Disziplin hat die Religionsphilosophie bekanntlich mit Kants entsprechendem Postulat in seiner "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793) ihren Anfang genommen. Dem Melanchthonexperten Günter Frank geht es hier jedoch nicht um Wesen und Gegenstand dieser (nach-)kantischen Disziplin, sondern um deren Entstehungsbedingungen in den "Debatten jenseits des kantischen Grabens" (13). F. betritt dabei in mehrfacher Hinsicht forschungsgeschichtliches Neuland: Erstens konzentriert er sich auf bedeutende Denker des Protestantismus, von denen einige bisher kaum erforscht sind. Zweitens deutet er deren Debatten als religionsphilosophische Auseinandersetzungen, sofern sie sich um die Frage der Denkbarkeit des Gottesgedankens im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie drehen (13-24). Und drittens zeigt F. dabei überraschende Traditionslinien auf, die er - wenn auch nicht bruchlos - in die kantische Religionsphilosophie einmünden lässt.

Das erste Kapitel setzt ein mit der von Martin Luther herbeigeführten anthropologischen Wende. Luther thematisiert die Gottesfrage nicht wie die mittelalterliche Scholastik substanzontologisch im "Horizont der Seinsfrage" (sub ratione entis), sondern relationsontologisch "im Horizont der Heils- oder Unheilssituation des Menschen" (25). Damit verknüpft sei "Luthers Verwerfung der Philosophie in Fragen der Theologie", die F. als "originäre Leistung" Luthers in Gestalt einer eigenen, die Autonomie der Theologie sichernden duplex veritas-Lehre deutet. Philipp Melanchthon führt dann einerseits Luthers anthropologischen Ansatz weiter zu einer Betrachtung der Gottesfrage sub ratione mentis (74.86). Andererseits kommt er dabei zu einer "positiven Neubewertung der Philosophie" (54), indem er im Anschluss an den neuplatonischen Innatismus, und somit auf Grund der Annahme naturhafter, dem menschlichen Geist eingestifteter Erkenntnisse, eine natürliche Gotteserkenntnis garantiert sieht. Die von Luther herbeigeführte anthropologische Wende verdichtet sich damit zu einer "subjekttheoretischen Wende" (73) von einem seinsphilosophisch begründeten Gottesgedanken hin zu einem naturgegebenen Gottesgedanken, wie er ähnlich auch bei Johannes Calvin zu finden sei.

Die nächsten drei Kapitel wollen eine von Melanchthons Innatismus ausgehende Traditionslinie verfolgen, die sich allerdings mit der aristotelischen Wesensmetaphysik verbinde. Zunächst wendet sich F. dem bisher kaum erforschten Tübinger Metaphysiker Jacob Schegk (1511-1578) und dessen Kontroverse mit Simonius zu. Schegk orientierte sich zwar an der thomasisch-aristotelischen Metaphysik, erkannte jedoch zugleich, dass die Metaphysik nicht schon in ihrem Bezug auf das natürliche Seiende, sondern - ganz neuplatonisch - erst in einer Geistphilosophie ihr Ziel erreicht (Kapitel 2). Das dritte Kapitel behandelt den Altdorfer Metaphysiker Nicolaus Taurellus (1547-1606), der die Metaphysik auf das natürliche Seiende (ens) beschränkte und gleichzeitig den Gottesgedanken als seinsvermittelnde substantia absolutissima interpretierte. Dieses Metaphysikkonzept führte zu einer "Herauslösung der Gotteslehre als metaphysica particularis aus der metaphysica universalis" (167). Die Metaphysik des reformierten Gelehrten Bartholomäus Keckermann (1573- 1609) schließlich machte noch deutlicher eine eigenständige Disziplin des Gottesgedankens erforderlich (Kapitel 3). Wie in der spanischen Spätscholastik seien lediglich "die konkret-kontingenten res" Gegenstand der Metaphysik (180). Folglich musste der Gottesgedanke in einer eigenen, als religionsphilosophische Superdisziplin verstandenen Disziplin, nämlich der Theosophie, behandelt werden (180).

Eine zweite, sich zunächst noch deutlicher an den neuplatonischen Innatismus Melanchthons anlehnende Traditionslinie entfaltet F. in den folgenden drei Kapiteln. Das fünfte Kapitel beschreibt die Religionsphilosophie des englischen Platonismus im 17. Jh. Über J. H. Alsted, G. Voetius, H. Grotius und dann Herbert von Cherbury seien religionsphilosophische Überlegungen Melanchthons nach England gelangt und von den Cambridge Platonikern B. Whichcote, J. Smith und N. Culverwel weitergeführt geworden.

Ralph Cudworth (1617-1688) ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Hierin weist F. nach, dass nicht wie bisher angenommen S. von Storchenau 1772 die Disziplin der Religionsphilosophie begründet hat, sondern Ralph Cudworth in seiner Schrift A True Intellectual System of the Universe (1678). Mit der dort entwickelten Ideenmetaphysik hatte Cudworth die autoritär postulierte angeborene Gotteserkenntnis des naiven Innatismus überwunden, indem er den Gottesgedanken in den Ideen als apriorischen Bewusstseinsstrukturen verankert hat. Anders als bei Melanchthons noch subjekttheoretischem Ansatz wurde der Gottesgedanke mit dieser subjektivitätstheoretischen Begründung "selbst eine Theorie des Bewusstseins" (296). Die Einheit von Philosophie und Theologie konnte dabei nur noch über das Konzept der Philosophia perennis aufrechterhalten werden, dessen geschichtsklitternde Konstruktion einer seit der Schöpfung erfolgten translatio sapientiae schon bald als philosophiegeschichtliche Fiktion entlarvt wurde.

In der erkenntnistheoretischen Philosophiebegründung John Lockes schließlich verlor der Gottesgedanke seinen ontologischen Grund und setzte die eigentliche subjektivitätstheoretische Wende des Gottesgedankens in das Gottesbewusstsein ein (Kapitel 7). Schon Leibniz erkannte, dass der Gottesbegriff dann nur noch so gegeben ist, wie er dem Bewusstsein erscheint. Der dabei intendierte göttliche Urgrund ist dann nicht mehr begründbar. Nochmals verschärft durch Kants transzendentalphilosophische Neubestimmung der Philosophie als Analytik des Verstandes, entzieht dieses Begründungsdefizit ironischerweise der nun eigenständigen Disziplin der Religionsphilosophie ihren Gegenstand. Einen Ausweg sieht F. in Schellings Umkehr der aufklärerischen "Mythologie der Vernunft" in eine "Vernunft der Mythologie", in Cassirers "Konzept einer pluralen Vernunft" und Horkheimers Sprengung des allgemeinen Vernunftkonzepts der Aufklärung (342-347).

Die zukünftige Forschung wird zeigen müssen, ob die hier gezogenen Traditionslinien unter weitgehender Ausblendung der parallelen katholischen Diskussion und vor allem solcher Denker wie Descartes, Spinoza, Thomas Reid und Hamann kein zu einseitiges Bild ergeben. Weiterhin stellt sich die systematische Frage, unter welchen Voraussetzungen in der Entwicklung von der anthropologischen Wende über die subjekttheoretische zur subjektivitätstheoretischen Wende jeweils die Position diesseits der Wende hinfällig wird. Hier wäre eine Auseinandersetzung etwa mit N. Wolterstorffs und A. Plantingas philosophischen Einwänden gegen die Aufhebung der ontologischen Grundlegung des Gottesgedankens bei Locke und Kant hilfreich. Insgesamt freilich stellt dieser sehr ansprechend gestaltete Band einen wesentlichen Beitrag zur frühneuzeitlichen Ideengeschichte auf höchstem Niveau dar, der in keiner theologischen oder philosophischen Fachbibliothek fehlen sollte.