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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

678–680

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Falkenhayn, Katharina von

Titel/Untertitel:

Augenblick und Kairos. Zeitlichkeit im Frühwerk Martin Heideggers.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2003. 255 S. gr.8 = Philosophische Schriften, 52. Kart. Euro 68,00. ISBN 3-428-11103-6.

Rezensent:

Arno Böhler

In "Augenblick und Kairos" setzt sich Katharina von Falkenhayn mit der Konzeption des Augenblicks im Frühwerk Martin Heideggers bis zur Niederschrift der "Beiträge der Philosophie" auseinander. Das philosophische Anliegen der Arbeit besteht darin, Heideggers Daseinsanalyse als "Ontokairologie" (18) auszulegen. Wird der Augenblick als das zentrale Phänomen von Heideggers Zeitlichkeitskonzept in "Sein und Zeit" erkannt - so die zentrale These der Schrift -, dann lösen sich jene Widersprüche in Heideggers Zeitlichkeitskonzeption auf, die seiner Daseinsanalyse immer wieder den Vorwurf eingebracht haben, gescheitert zu sein. "Die Untersuchung stellt daher die These auf, dass eine zwischen Augenblick als Zeitigungsweise des Entschlusses und Augenblick als eigentliche Gegenwart differenzierende Betrachtung des Augenblicks in Sein und Zeit zu einer Neubewertung des gesamten Zeitlichkeitsmodells führt." (20) Mit dieser "Positionierung des Augenblicks als Zeitigung der Einheit der Zeitlichkeitsekstasen" würde, so die Vfn., "die ursprüngliche Absicht von Sein und Zeit, die Zeithaftigkeit des Seins zu erfragen", schließlich doch noch gelingen (172).

Um Heideggers Ansatz in "Sein und Zeit" in ein stimmiges Ganzes zu verwandeln, werden von der Vfn. folgende "Korrekturen" an seiner Daseinsanalyse vorgeschlagen: erstens die Ersetzung des dritten Existentials der Sorge, des "Verfallens", durch den neutralen Terminus des "Sein-bei" den "Dingen" und Menschen; zweitens die Einführung der dadurch ermöglichten Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichem "Sein-bei" Dingen und Mitmenschen (eigentliche/uneigentliche Gegenwart) und drittens die Unterscheidung zwischen der eigentlichen Gegenwart - in der Möglichkeiten des Selbstseinkönnens situativ auf mich zukommen - und dem Augenblick, in dem diese situativen Möglichkeiten von mir selbst augenblicklich ergriffen und im jeweiligen Entschluss aktuell gezeitigt und entschieden werden.

Ad 1. Der Grund für das "Versagen der Kehre" im Anschluss an Heideggers Analyse der Zeitlichkeit in "Sein und Zeit" liegt für die Vfn. vor allem darin, dass "Heidegger das dritte Konstitutionsmoment der Sorge in dem Verfallen verortet" (20). Die Verortung des Verfallens als Strukturmoment der Sorge ist aus Sicht der Vfn. verfehlt, "weil das Verfallen die uneigentliche Modalität des In-der-Welt-sein-könnens ist (SZ 179), und als solche Modalität nicht ein die Sorge konstituierendes Strukturmoment sein kann. Wäre das Verfallen ... ein Strukturmoment der Sorge, dann wäre das Dasein von seiner Struktur her nicht zur Eigentlichkeit fähig ..." (71), "denn eine eigentliche Weise des Verfallens wäre in sich selbst widersprüchlich" (93). Statt des ruinanten Terminus "Verfallen" schlägt die Arbeit vor, Heideggers neutralen Terminus "Sein-bei" als drittes Strukturelement der Sorge zu interpretieren, so dass das "eigentliche Sein-bei und das uneigentliche Sein-bei (als Verfallen) ... Modalitäten dieses neutralen Sein-bei" (72) sind.

Ad 2. Dieser terminologische Eingriff ermöglicht es der Vfn., im Folgenden zwischen dem Modus eines eigentlichen bzw. uneigentlichen "Sein-bei" "Dingen" und Menschen zu unterscheiden (eigentliche/uneigentliche Gegenwart). Im uneigentlichen "Sein-bei" "Dingen" und Mitmenschen hält sich der Mensch in der ziellosen Unverbindlichkeit eines zerstreuten "Sich-verlierens" an die Dinge und Mitmenschen bei ihnen auf. Ein Existenzmodus, in dem mein Dasein von außen, also "äußerlich" bestimmt und folglich von den anderen her "gelebt" und orientiert wird, so dass die eigensten Möglichkeiten meines Selbstseinkönnens, die es von mir selbst in meinem ureigensten Da-sein zu übernehmen gälte, schließlich von mir versäumt werden. "Den Entschluss, sich aus der Uneigentlichkeit bzw. Verlorenheit in das Man zu ihm selbst zurückzuholen, ist sich das Dasein [nämlich] schuldig." (106) Demgegenüber zeichnet sich ein eigentliches "Sein-bei" "Dingen" und Mitmenschen dadurch aus, dass es diese "an-sich-selbst" so entdeckt, wie sie sich von sich selbst her zeigen.

Im "Ent-fernen der Alltäglichkeit [wird] das An-sich-sein der wahren Welt entdeckt. Dabei wird das Entdecken als die Fähigkeit des Daseins verstanden, die das Seiende als solches erfasst, wie es sich zeigt" (79). Auch die eigentliche Existenz des Menschen hält sich also im "Vorlaufen in den Tod" (eigentliche Zukunft) und im "ausdrücklichen Wieder-holen eines gewesenen Erbes und der in ihm verwahrten noch ungewordenen Möglichkeiten" (eigentliche Gewesenheit) in einem besorgenden und fürsorgenden Umgang (eigentliche Gegenwart) bei den "Dingen" und Mitmenschen auf. Das heißt aber, dass sich auch die eigentliche Existenz des Daseins "als besorgendes Sein-bei und als fürsorgendes Mitsein (vgl. SZ 263)" (85) in einer eigentlichen Gegenwart hält. "Daher wird hier der Vorschlag gemacht, neben der uneigentlichen Weise (Verfallen) auch eine eigentliche Weise des Seins-bei in der Sorgekonstruktion von Sein und Zeit anzunehmen." (84)

3. Drittens wird von der Vfn. angenommen, "dass eine andere Schwachstelle des Zeitlichkeitskonzepts darin besteht, dass Heidegger terminologisch nicht konsequent zwischen Entschlossenheit und Entschluss unterscheidet" (20). Ein Versäumnis mit weit reichenden Konsequenzen. Denn die eigentliche Gegenwart bringt uns nur vor einen möglichen Entschluss (qua Entschlossenheit). Der Vollzug meines zeitlich entschlossenen Da-seins geschieht jedoch einzig nur im Akt einer aktuellen Entschließung. "Die Unterscheidung zwischen den Zeitlichkeitsekstasen der Entschlossenheit, die das Selbstseinkönnen zeitigen, und der Zeitigungsweise des Entschlusses, i. e. der Augenblick, die das jeweilige Selbstsein zeitigt, [soll] deutlich machen, dass (eigentliche) Gegenwart (als Zeitigungsweise der Möglichkeiten des Sein-bei) und Augenblick nicht gleichzusetzen sind." (128)

Als Zeitigungsweise des Entschlusses (vgl. SZ 344) ist der Augenblick das einigende Ganze, das im Vorhinein durch die ganze Zeitlichkeit hindurchgreift, sie umfasst und aktuell einholt, um das Ganze der Zeit, Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, im aktuellen Entschluss auf eine situativ besorgbare Möglichkeit hin zu zeitigen. "Der Vollzug dieser Einheit der Zeitlichkeitsekstasen der Entschlossenheit gelingt im Entschluss." (21 f.) Jeder Akt der Entschließung (aktuelle Selbstbestimmung) kommt folglich nicht aus dem Nichts (ex nihilo), sondern ist geschichtlich zu verstehen. Er zeitigt sich aus einer geschichtlich generierten Stimmung heraus, die den Akt meiner augenblicklichen Selbstbestimmung wesenhaft mitbestimmt. "Handeln ist - so verstanden - sehr viel mehr Antwort als frei begonnener Akt." (28) "Die Selbst-Zeitigung des Daseins ist folglich nicht eine Selbstherstellung, sondern ..., das In-sich-handeln-lassen des eigensten Selbst (SZ 295)" (59 f.).

"In diesem Sinne kann man den Augenblick als ekstatische Zeitigung der Einheit der Zeitlichkeitsekstasen fassen, der die Ganzheit des Daseins, das sich entschlossen in allen drei Zeitlichkeitsekstasen zugleich und gleichursprünglich als ein jeweiliges Sein zum Tode zeitigt." (144)