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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

676–678

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Marx, Friedhelm

Titel/Untertitel:

"Ich aber sage ihnen ...". Christusfigurationen im Werk Thomas Manns.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Klostermann 2002. 364 S. gr.8 = Thomas-Mann-Studien, 25. Lw. Euro 58,00. ISBN 3-465-03172-5.

Rezensent:

Christian Albrecht

"Ich bin überzeugt, daß Sie mit jedem Wort recht haben, das Sie über Jesus und seine dogmatischen Verballhorner sagen. Wenn es nun aber nicht darauf ankäme, was einer war, sondern darauf, was aus einem gemacht worden ist? Nicht auf den historischen Jesus also, sondern auf das historische Christentum? Ich frage nur." Nach der Lektüre der eindrucksvollen Monographie von Friedhelm Marx wird man dieser Frage aus einem offenen Brief, mit dem Thomas Mann am 19. März 1940 zu einer theologischen Streitschrift des Schweizer Pfarrers Kuno Fiedler Stellung nahm (der Titel der Schrift Fiedlers lautet: Glaube, Gnade und Erlösung nach dem Jesus der Synoptiker, Bern und Leipzig 1939. Thomas Manns - zuerst in "Maß und Wert" 1940 abgedruckter - offener Brief findet sich in seinen Gesammelten Werken, Frankfurt a. M. 1960, Band X, 769-771, Zitat 770 f.), den Charakter einer Selbstinterpretation Manns beimessen wollen: Eines der Leitmotive, die sich durch sein Gesamtwerk ziehen, besteht in seinem Interesse an dem, was aus der Christusfigur "gemacht worden ist" - und was sich aus ihr machen lässt. Einerseits ist das, im Blick auf die Entwicklungen in den Künsten um die Jahrhundertwende, kaum überraschend: Tendenzen zur Resakralisierung der Kunst, zur allmählichen Distanznahme von einem Paradigma der Genie-Ästhetik und die Bereitschaft, den stellvertretend leidenden Christus als Reflexionsfolie der eigenen künstlerischen Leidensgeschichte in Anspruch zu nehmen, finden sich bei zahlreichen Schriftstellern, Malern und Musikern des beginnenden 20. Jh.s. Andererseits haben vielleicht die Aufladungen in den notorischen theologischen und antitheologischen Deutungskämpfen um die Christlichkeit Thomas Manns das Ihre dazu beigetragen, dass es zu einer systematischen, materialen Durchsicht seines Gesamtwerkes im Blick auf die christologischen Motive und Zitate sowie deren Variationen bislang noch nicht gekommen ist.

Doch in der Wuppertaler Habilitationsschrift des jetzigen Bamberger Germanisten (und katholischen Theologen) M. liegt diese Gesamtschau nun vor: materialreich, klar und zugleich subtil aufgebaut, angenehm geschrieben. M. fragt nach Thomas Manns "erzählerischer Auseinandersetzung mit der Lebensform Christi" (13) und stellt fest, dass diese Auseinandersetzung sich zwar nicht auf die historische Gründungsfigur des Christentums richtet, dafür aber um so mehr auf die zahlreichen und divergenten Vermittlungen ihrer Wirkungsgeschichte. Den Blick hierfür ließ Thomas Mann sich schärfen durch die ambivalenten Deutungen Christi - vor allem bei Nietzsche, aber auch bei Schopenhauer und Wagner sowie bei Schriftstellern wie Dostojewski, Tolstoi, Hauptmann und anderen. Zahlreich sind auch die Anregungen, die Mann aus essayistischen Christus-Deutungen etwa durch Ernest Renan, Hans Blüher, Max Weber oder Alfred Jeremias bezog.

Der chronologisch aufgebaute Durchgang durch das Gesamtwerk hat seinen Schwerpunkt jedoch gerade nicht in dieser - im Falle Thomas Manns gern geübten, weil unerschöpflichen, aber genau darum wenig ergiebigen - Einflussforschung. Vielmehr zielt M.s intertextuelle Analyse der zahlreichen Christusfigurationen auf deren je werkspezifische Genealogie und poetologische Funktion, das heißt: auf die Frage, wie sich in den Christusfigurationen psychologische und mythologische Motive verschränken. Als "Christusfigurationen" gelten ihm dabei alle Fälle, in denen eine Figur auf Jesus von Nazareth anspielt, von anderen Figuren als Jesusfigur wahrgenommen wird oder vom Erzähler als solche ausgewiesen wird.

Im Ergebnis zeigen sich die Wandlungen in Thomas Manns eigenwilligem Umgang mit diesem künstlerischen Selbstdeutungstopos - und dessen im Verlauf der Werkgeschichte zunehmende Bedeutung. Im Frühwerk, etwa in Gladius Dei, richtet sich Thomas Manns Interesse vor allem auf das psychologische Profil religiöser Fanatiker. Im Zauberberg setzt sich dies - in der Figur des Assistenzarztes Dr. Krokowski - fort, zudem erscheint mit Mynheer Peeperkorn aber auch eine Figur, die die Christusfiguration durch die Verbindung mit der Dionysos-Figuration vor allzu starker Vereindeutigung bewahrt. Diese Tendenz setzt sich im Spätwerk fort: Die spielerische Verbindung der "Lebensform Christi" mit heterogenen Mythen ist vor allem in der Joseph-Tetralogie durchgeführt. Im Doktor Faustus ist diese Verbindung dann auf die Spitze getrieben und zugleich aller spielerischen Leichtigkeit beraubt durch die provozierende Verbindung christologischer und diabolischer Züge in der Hauptfigur. Mit dem Erwählten und der Betrogenen ist Thomas Mann dann zu dem verspielten mythischen Synkretismus der Joseph-Tetralogie zurückgekehrt. Jeweils im Hintergrund stehen dabei seine Inanspruchnahme des Christus-Typus zur Spiegelung der eigenen Künstlerexistenz und die Wandlungen dieses Selbstverständnisses als Künstler.

Den "beamteten Theologen", um es mit Thomas Mann zu sagen, unter den hoffentlich zahlreichen Lesern der Monographie wird vor allem die Entschlossenheit aufgehen, mit der Thomas Mann seine Christusfigurationen gegen alle "parabolische Eindeutigkeit" (327) absichert. Erst die offene und - sit venia verbo- synkretistische Konzeption der Christusfigur macht diese zugänglich für reflexive Spiegelungen individueller Existenzen: der Künstlerpersönlichkeit ebenso wie des künstlerischen Personals oder des Lesers. Das mag einerseits Assoziationen an wahlverwandte dogmatische und homiletische Konzeptionen wecken. Andererseits wird dies aber auch die theologische Skepsis auf den Plan rufen. Denn Thomas Manns Christusfigurationen lassen zwar eine tiefe Verbundenheit mit der Stifterfigur des Christentums erkennen, verweigern sich aber gerade allen ihren abschließenden dogmatischen, historischen, frömmigkeitspsychologischen und auch wirkungsgeschichtlichen Festschreibungen.

Wer daraus freilich die Aufforderung ablesen wollte, den Ketzerprozess gegen Thomas Mann neu aufzurollen, den lässt M. am Schluss seiner Monographie sanft ins Leere laufen. Er zitiert zunächst einen unverdächtigen Zeugen, nämlich den Literaturwissenschaftler Walter Muschg, der 1948 erbittert über Thomas Manns literarische, gelegentlich parodistische Rekapitulation des abendländischen Mythos klagte: "Pausenlos geschäftig verwandelt er alles, was einst heilig war, in den glitzernden Schaum seiner Romane. Sein Lieblingsvergnügen ist es, den Mythos in Psychologie zu verfälschen Š Er ergötzt eine verlorene Welt, ohne ihr die Spur einer rettenden Wahrheit in die Hand zu geben." Sechs Jahre später, an entlegenem Ort, gibt Thomas Mann darauf eine versteckte Antwort, mit deren Zitat M. seine Monographie enden lässt: "Es ist nicht anders: Man ergötzt mit Geschichten eine verlorene Welt, ohne ihr je die Spur einer rettenden Wahrheit in die Hand zu geben. ... Und man arbeitet dennoch, erzählt Geschichten, formt die Wahrheit und ergötzt damit eine bedürftige Welt in der dunklen Hoffnung, fast in der Zuversicht, daß Wahrheit und heitere Form wohl seelisch befreiend wirken und die Welt auf ein besseres, schöneres, dem Geiste gerechteres Leben vorbereiten können" (Thomas Mann: Versuch über Tschechow [1954], in: Gesammelte Werke, Frankfurt a. M. 1960, Band IX, 843-869, Zitat 869).