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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

674–676

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Hundert Jahre Gedächtniskirche der Protestation zu Speyer 1904-2004. Hrsg. v. Verein für Pfälzische Kirchengeschichte.

Verlag:

Ubstadt-Weiher: Verlag Regionalkultur 2004. 496 S. m. zahlr. Abb. gr.8 = Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde, 71. Geb. Euro 35,00. ISBN 3-89735-274-5.

Rezensent:

Hartmut Mai

Groß ist die Zahl der um 1900 in Deutschland erbauten evangelischen Kirchen. Daraus ergibt sich jetzt eine dichte Folge von Hundertjahrfeiern, oft von Festschriften begleitet. Zu den Jubilarinnen gehört auch die am 31.8.1904 eingeweihte, von den Essener Architekten Julius Flügge und Carl Nordmann erbaute "Gedächtniskirche der Protestation zu Speyer". Der 71. Jahrgang der "Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde" wurde als umfangreiche Festschrift zur Würdigung dieser Kirche konzipiert. 26 Mitarbeiter kommen darin zu Wort.

Während fast alle evangelischen Kirchenbauten dieser Zeit als Gemeindekirchen, besonders für neue oder stark angewachsene Gemeinden in großen Städten, erbaut wurden, ist die Gedächtniskirche ein herausragendes Beispiel für die Realisierung der seit dem Ende der Befreiungskriege aufgekommenen Idee einer evangelischen Dom- und Denkmalskirche. Als von dem 1856 gegründeten "Retscher-Verein" initiierte Reformationsgedenkkirche in Erinnerung an die Protestation der evangelischen Stände auf dem 2. Speyerer Reichstag 1529 nimmt sie unter vergleichbaren Erinnerungsstätten eine Sonderstellung ein. Der vorliegende Band zeigt in beeindruckender Weise, welcher Rang der Gedächtniskirche nicht nur für die Pfalz, sondern darüber hinaus für den deutschen Protestantismus, ja den Weltprotestantismus zukommen sollte und auch zukam. Der Facettenreichtum, der sich aus dem Gesamtbild aller Beiträge ergibt, beweist nur, wie viele Impulse zum Nachdenken über die Kirche in ihrer Geschichte und ihrer Sendung, aber auch über ihre Manifestation in einem Kirchengebäude und seiner bildkünstlerischen Ausgestaltung ausgehen, wie es dieses "Juwel der Neugotik" (so 1998 der Kölner Dombaumeister Arnold Wolff, 38) darstellt.

Den Herausgebern (Otto Böcher, Traudel Himmighöfer, Friedhelm Hans) ist es gelungen, die Aufsätze zu übersichtlichen Komplexen zu ordnen. Sie stehen unter den Überschriften "Bauwerk und Ausstattung" (15-154) - "Theologie und Leben" (155-278) - "Kirchengeschichte und Tradition" (279- 380) - "Gottesdienste und Ereignisse" (381-495). Eine weitergehende Vereinheitlichung war nicht angestrebt. Überschneidungen und Parallelen waren den Herausgebern bewusst (496). Entstanden ist eine Aufsatzsammlung als Jahrbuch zu einem übergreifenden Thema. So bleibt es dem Leser überlassen, für sich aus allen stets gut lesbaren und informativen Beiträgen ein Fazit zu ziehen und dies mit seinem eigenen Verständnis dieser Kirche in Beziehung zu setzen. Der Rezensent nennt zusammenfassend einige ihm besonders wichtige Einsichten aus diesem Band:

1. Die Gedächtniskirche, die im Zweiten Weltkrieg keine Schäden erlitten hat und bis 2008 mit viel Einsatz restauriert wird, hat der einige Jahrzehnte währenden Abwertung des Historismus und insbesondere der Neugotik dank ihrer künstlerischen, geschichtlichen und liturgischen Qualitäten standgehalten.

2. Der "konservative" Charakter dieser neugotischen Kirche, deren 97,8 m hoher Turm zusammen mit dem romanischen Kaiserdom das Stadtbild von Speyer beherrscht, wird durch die lange Planungs- und Baugeschichte verständlich (Vereinsgründung 1856, Wettbewerb 1883, Bauausführung 1890-1904). Die liturgische Konzeption steht noch im Einklang mit dem Eisenacher Regulativ von 1861, das während der Bauzeit durch die Gegenposition des Wiesbadener Programms von 1891 in Frage gestellt wurde.

3. Das Kirchengebäude lebt vorrangig und in mehrfacher Hinsicht von dem von Anke Sommer bearbeiteten Zyklus von 36 Glasgemälden (65- 96, mit zahlreichen, teils farbigen Abbildungen), der auf Gedächtnishalle (im Turm), Schiff, Vorchor und "Kaiserchor" verteilt ist. Er zeugt vom Stiftungseifer der Protestanten im wilhelminischen Deutschland und in aller Welt. "Nur wenige protestantische Kirchen knüpfen so deutlich an eine universale protestantische Identität an" (Friedhelm Hans, 311). Der Zyklus rezipiert die Ereignisse der Reformation und ihre Wirkung im Sinne eines Vätererbes und Glaubenszeugnisses, in dessen Mitte allein Christus und das Wort Gottes stehen.

4. Das Bildprogramm der Fenster hat die im 19. Jh. ausgebildete lutherisch-reformierte "Unionsikonographie" als Ausdruck des Gesamtprotestantismus besonders konsequent durchgeführt. Die pfälzische Unionskirche war hierfür der fruchtbare Boden.

5. Für die Geschichte der Glasmalerei dokumentiert der Zyklus die Leistungsfähigkeit der auf diesem Gebiet in ganz Deutschland tätigen Firmen (65).

6. Zum Verständnis der Ikonographie dieser Denkmalskirche trägt auch das Wissen um die geistige Nähe zum 1858 geweihten Lutherdenkmal in Worms bei (Fritz Reuter, 197-210).

7. Als Begleitthema zur Bau- und Nutzungsgeschichte der Gedächtniskirche ist das kritische, aber seit den letzten Jahrzehnten zunehmend ökumenische Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche angesprochen (Hans Ammerich und Michael Schmitt, 263-278). Die benachbarte St. Josephs-Kirche von 1912/14 tritt kurz ins Blickfeld (269).

8. Welche Möglichkeiten "die Gedächtniskirche als kirchengeschichtlicher Lernort" bietet, wird von Michael Landgraf überzeugend vorgeführt (467-489).

Wer sich über die Vorgänge auf dem Reichstag von 1529 selbst kundig machen will, die ja den Ausgangspunkt für die Gedächtniskirche bildeten, der muss zu anderen Veröffentlichungen greifen, z. B. Artikel "Protestation von Speyer" in: TRE 27 (1997), 580-582 (Georg Schmidt).