Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

476–478

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Giesen, Heinz

Titel/Untertitel:

Die Offenbarung des Johannes. Übers. u. erkl.

Verlag:

Regensburg: Pustet 1997. 562 S. m. 1 Kte gr.8= Regensburger Neues Testament. Lw. DM 98,-. ISBN 3-7917-1520-8.

Rezensent:

Martin Karrer

Die Aktualisierung des Regensburger Neuen Testaments (RNT), das die Ergebnisse der wissenschaftlichen Exegese einer breiteren katholischen und allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich macht und seinerseits vorantreibt, schreitet derzeit rasch voran. Binnen weniger Monate erschienen bedeutsame Kommentare zum 1Kor (durch J. Kremer - vgl. ThLZ 123, 1998, 478) und zur Offbarung des Johannes.

Heinz Giesen, der letztere Aufgabe übernahm, wies sich durch viele Spezialstudien dafür aus. Er bringt seine umfangreiche Kenntnis der Literatur dankenswert ein (unnötig behindert durch die Tradition der Reihe, keine Anmerkungen zuzulassen). Zugleich stellt er sich mit dem Anliegen, den Inhalt der Offb als christliche Heilsbotschaft an die Leserinnen und Leser zu vermitteln, in die Nachfolge A. Wikenhausers, seines Vorgängers in der Kommentierung für das RNT (11). 13 Jahre nach J. Roloff (1984, ZBK) und U. B. Müller (1984, ÖTBK) ist man auf die Entfaltung dieses Akzents gespannt. Angesichts der teils heftigen Diskussion im letzten Jahrzehnt sind vorab Entscheidungen über Text und Einleitungsfragen zu treffen. Für die Textkritik bietet die Kommentarreihe wenig Raum (dabei könnte Codex A den Text in 4,3; 5,10 u. ö. modifizieren). Im wesentlichen zuzustimmen ist G.s Skepsis gegenüber den jüngst wieder zunehmenden Versuchen, die Offb in die joh Literatur einzugliedern (38 ff.). In puncto Literarkritik führt G. den Forschungsgang zu einer neuen Spitze. Er sichert ein Jahrhundert nach Spitta nicht nur die Einheit der Offb im Ganzen. Er bestreitet sogar die Benützung von Quellen in Offb 11,1 f.* und 12, die bis heute ernsthaft erwogen wird (243, 276-299). Vielleicht ist damit ein Wendepunkt erreicht, nach dem die Literarkritik wieder zunehmen wird.

In der Datierung hält G. sich an die Hauptlinie der Forschung unseres Jahrhunderts und beharrt auf der Ansetzung unter dem späten Domitian (41 f.). Dessen Bild nimmt er die kritischen Verzeichnungen, die es mit der "damnatio memoriae" erfuhr, vollzieht aber die radikalen Konsequenzen L. L.Thompson’s (The Book of Revelation, 1990) und anderer nicht mit (25 ff.). Obwohl wir nicht mehr von einer domitianischen Christenverfolgung sprechen dürfen, gilt G. die Auseinandersetzung Johannes’ als verständlich und nachvollziehbar, nicht als Ideologie (die harscheste Kritik, H. Raguse, Psychoanalyse und biblische Interpretation, 1993, übergeht er auch in der Bibliographie). Diese Entscheidungen sind tragfähig. Allerdings wäre ihre Basis in der Entwicklung des Kaiserkultes und der anderen Kulte in der Asia zu vertiefen (und ist die neue Debatte um eine Spätdatierung unter Trajan/Hadrian interessant).

Religionsgeschichtlich sieht G. die Offb gezielt vor biblisch-jüdischem Hintergrund, wobei er die Apokalyptik breit behandelt (14-24, mit manch altertümlichen Formulierungen), doch der Prophetie begründet höheren Rang gibt (24-34). Näherhin hält er Johannes für einen judenchristlichen Wanderpropheten, der Palästina infolge des jüdischen Krieges verließ und in kleinasiatischen Gemeinden solche Autorität gewann, daß er unmittelbar auf Gehör rechnen konnte und keine Amtsträger zwischenschalten mußte (32 ff. 40, 43 u. ö.). So plausibel das Bild im derzeitigen Forschungsstrom scheint, bedürfen Beschwernisse weiterer Diskussion: Johannes (zu Recht nach G. kein Pseudonym: 36) benennt seine Herkunft und etwaige Wanderexistenz nicht. Er heißt seine Schrift Prophetie, sich selbst indes nie Prophet. Die urchristliche Prophetie ist, wenn wir sie daran bemessen, ein hochkompliziertes Gebilde. Bleiben wir bei der religionsgeschichtlichen Option im Judentum, ist G.s Entscheidung, kultischen Traditionen gern einen übertragenen Sinn zu geben, sehr verständlich. Die Konsequenzen für die Auslegung sind gewichtig. So würde in 14,1-5 die Sprache des Erstlingsopfers den Schluß auf eine besondere Erstlings-Gruppe um Christus erlauben.

G.s Übertragung der Aussagen auf die Gemeinde insgesamt erledigt nicht nur die Spekulation einzelner christlicher Gruppen über die 144000, sondern auch die Vision eines zölibatären Standes über dem Kreis christlicher Gemeinden. Weiter fällt auf, daß G. den neu edierten jüdischen Sabbatliedern noch wenig Rang gibt (mit nur einer Erwähnung am Rande, 154). Die dortige Verflechtung von Hymnen und himmlischem Hof verspricht der künftigen Forschung zur Offb zusätzliche Erträge. Umgekehrt streicht G. die Distanz des Johannes zu nichtjüdisch-hellenistischer Religiosität äußerst heraus. Es gibt in der Offb keinerlei Kompromiß oder Zugeständnis an paganes kultisches Leben und Götterdenken vom allgemeinen bis zum Kaiserkult. Wieder ist diese Entscheidung grundsätzlich plausibel (und notwendig, um den Ideologieverdacht angesichts der beschriebenen Reduktion äußeren Drucks auf die Christen zu entkräften). Gewagt ist freilich die Konsistenz, mit der G. sie durchhält.

Sein Johannes partizipiert nur begrenzt an der Hellenisierung des Judentums und frühen Christentums. Pagane Götternamen oder Mythen nimmt er kaum einmal kritisch mit Gewicht auf. G. hält die Anspielung auf Apollo im Apollyon von 9,11 für unwahrscheinlich (220), die Anleihen an pagan-mythischen Vorlagen (und nicht nur Quellen) in Offb 12 für unwesentlich (295 ff.), erwägt keine griechischen Bezüge des Feuerpfuhls (20,14 u. ö.) etc. Die Skizze der Nikolaiten (Offb 2,6 u. ö.) als Gruppe, die sich "mit dem röm. Götter- und Kaiserkult zu arrangieren" sucht (100), fügt sich prägnant in seine These ein. Begeben wir uns damit zur angesprochenen Gesamtlinie, die Offb als Evangelium (Heilsbotschaft) für die Kirche zu deuten. G. stützt sie dadurch ab, daß sich die Offb trotz ihrer konkreten Adresse (s. 1,4) an die ganze Kirche wende (vgl. die Weckrufe 2,7 usw.). Der ganzen Kirche also vermittle sie ihren Entwurf der Endzeit, in dem sie die Stationen von Christi Geburt bis zum Ende ineinander verwebe (1,19 deutet G. 48 ff. 90 eindringlich nicht als eine Gliederungsangabe für die Offb, sondern als Hinweis auf ihre Erzähltechnik). Sie tue dies um der Heilszuwendung und Gnade für die Kirche willen, so sehr die Kirche auch vor falschen Wegen gewarnt werden muß. Das paßt vorzüglich zum Gefälle der Schlußkapitel und dem überwältigenden Gnadenwunsch 22,21 (den G. 498 zu Recht auch indikativisch zu verstehen erlaubt: "Die Gnade des Herrn Jesus ist mit allen"). Alle Zusage ergeht schließlich in der Gemeinde, die mit dem Maranatha 22,20 um die Gegenwart Jesu in ihrer Versammlung bittet (welch letzteres die Naherwartung entschärft; vgl. 61 ff. u. ö.).

Die Offb wird zu einem kirchlich wohlbegründet rezipierten Buch. Andererseits entfaltet die Linie wieder ihre eigene Dynamik. Die Kirche als ganze zieht die möglicherweise differenzierenden Schilderungen von Offb 7 und 14,1 ff. an sich. In Offb 7 führt das zur Ablehnung eines spezifisch jüdisch-judenchristlichen Zugangs zu vv. 4-8. Die Kirche aus allen Nationen wird "das wahre Israel ..., die Christen die eigentlichen Juden" (193). Diese schwierige Position (die die Offb in 2,9 etc. vorbereitet) müßte hermeneutisch geprüft werden. Eindrücklich wird sodann in 14,6-13 die Ankündigung des Gerichts Anrede an die Kirche und Mahnung, ihren Heilsstand nicht zu verlieren (unter einer bedeutsamen Korrektur der geläufigen Forschungsmeinung). Das bewahrt vor einem Triumphalismus nach außen. Jedoch kommen wir auch mit dieser Deutung nicht umhin, daß die Offb das "Evangelium" als Gerichtsbotschaft faßt, "der Sieg Gottes im Gericht über die gottfeindliche Welt" laut ihr "eine gute, frohmachende Botschaft" ist (328). Sie ist verständlich in einer Krisensituation, gefährlich bei einer universalen Übertragung über die Zeiten (und G.s Kommentar erlaubt Momente einer überzeitlichen Deutung: 499 u. ö.).

Alles in allem ist G. für einen bedeutenden, theologisch anregenden Kommentar zu danken. Konfessionelle Unterschiede schlagen sich, wenn ich an den Anfang zurücklenke, kaum mehr nieder (G. weist etwa die marianische Deutung von Offb 12 nicht minder ab als die beiden genannten Protestanten: 271 f.), exegetische Position sehr wohl. Die wiederholt andere Meinung des Rezensenten erwächst am Gewicht der vorgeschlagenen Deutung. Forschung und Gemeinden werden G.s Kommentar zusammen mit den Kommentaren von Roloff und Müller fruchtbar nützen können. Der Kommentar ist, wie in der Reihe üblich, sorgfältig gesetzt. Fehler sind erfreulich selten (TestIsaak 8 und 10 S. 441 kann ich nicht verifizieren). Um die Lesbarkeit und Differenzierungen in der Literaturdiskussion zu erleichtern, sollte der Verlag die Einführung von Anmerkungen dringend erwägen.