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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

672–674

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Hübner, Hans

Titel/Untertitel:

Goethes Faust und das Neue Testament.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 273 S. m. 1 Abb. 8 = Sammlung Vandenhoeck. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-525-01626-3.

Rezensent:

Frank Degler

Hans Hübner unternimmt den spannenden Versuch einer Lektüre von Goethes Faust-Drama aus der Perspektive des professionellen Theologen, wobei er insbesondere seiner Rolle als Spezialist für das Neue Testament gerecht wird, wenn er an einer Vielzahl von Textstellen aufweist, dass der intertextuelle Bezug zwischen Goethes Drama und den Evangelien überaus eng ist.

Die Untersuchung beruht auf einer Vorlesung an der Universität Göttingen im Jahr 2002, wobei für das Manuskript der mündliche Stil beibehalten wurde, was zwar für eine angenehme Lesbarkeit sorgt - wobei aber eine gründliche Überarbeitung den zum Teil anekdotischen Charakter der Auslassungen hätte mildern können. Insbesondere die Tilgung überflüssiger moralisierender Exkurse hätte dem Text gut getan, werden hier doch ideologische Kämpfe weitergeführt, die längst ausgefochten sind und die Argumentation nur stören.

H. unternimmt vor allem eine kritische Darstellung des religiösen Sachgehalts von Goethes Text, d. h. seine Untersuchung konzentriert sich (mit einigem Recht) auf diejenigen Stellen, an denen es inhaltlich zentral "um die Gottesfrage geht, um Theologie und Religion" (21). Durch diese Perspektive ergibt sich eine Textauswahl, welche den ersten Teil der Tragödie in großem Umfang, vom zweiten Teil aber im Wesentlichen Akt 2 und 5 berücksichtigt. Obwohl eine theologische Beobachtung gerade auch von nicht explizit religiösen Szenen wünschenswert sein könnte, so ist doch die getroffene Auswahl größtenteils nachvollziehbar. Obwohl er behauptet, dass seine Analyse "kein Kommentar zum Faust" (5) sein soll, geht er doch chronologisch kommentierend vor und arbeitet sich so Schritt für Schritt durch das entstandene Textcorpus.

H.s Ausgangsposition ist die eines Theologen, der sich mit einigen Gesten der Entschuldigung einem germanistischen Gegenstand widmet. Leider bleibt aber der Begriff der Intertextualität die einzige nennenswerte Übernahme eines neueren Theoriekonzeptes, welches aber leider auch nicht weiter für die Untersuchung produktiviert wird. Statt dessen benennt H. die argumentative Zielsetzung seiner Analyse folgendermaßen: "Wir wollen Goethe verstehen - verstehen ist, wie wir wissen das wohl hermeneutisch wichtigste Verb der deutschen Sprache -, indem wir uns seiner Dichtung mit geistiger und geistlicher Sympathie nähern, und zwar in der Hoffnung, daß sich uns so diese Dichtung in ihrer gewaltigen inhaltlichen Tiefe soweit wie möglich erschließt." (215)

Aber auch schon in der Einleitung macht H. deutlich, dass es ihm um die Frage geht, was uns der Dichter sagen wollte, denn nach einem Eingangszitat um den armen Tor stellt er die Gretchenfrage: "Wer spricht diese Worte? ... es sind Doktor Faustens Worte. Und es sind Worte, die Goethe ihn sprechen läßt und die daher wohl auch zum Ausdruck bringen, was der Dichter selbst sagen will." (11)

Nun aber muss H. folgende erschreckende Beobachtung machen: "Ist aber der Text erst einmal gedruckt und liegt er dann einem breiteren Leserkreise vor, so lesen ihn alle, wie sie ihn aufnehmen, wie sie ihn begreifen, und dabei oft gegen die Absicht des Autors! Der aber kann sich zumeist nicht mehr wehren. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Oft [sic!] ist es sogar [sic!] überhaupt nicht mehr [sic!] möglich, ein Buch so zu lesen, wie es sein Autor oder seine Autorin bei der Niederschrift meinte" (13).

Bei der beschwerlichen Bewältigung dieser seit Platons Phaidros bekannten Probleme kann H. aber glücklicherweise auf die Hilfe der germanistischen Forschung zählen, die er "intensiv und extensiv zu Kenntnis" (20) genommen habe, wobei er sich - wir ahnen es schon - um eine "Horizontverschmelzung von germanistischen und theologischen Überlegungen bemüht" (20 f.). Leider stimmt das nicht so ganz - denn wie es sich für einen Bibelwissenschaftler geziemt, widmet sich H. zwar ausgiebig der intensiven Lektüre, insbesondere von Albrecht Schönes und Ulrich Gaiers Faust-Kommentaren; was nicht weiter schlimm wäre, würde es nicht zu seitenlangen Paraphrasen der Zitierten führen. Insbesondere beim Walpurgisnachtskapitel ist der Eigenanteil doch äußerst dürftig, so dass an Stelle von H.s Zusammenfassungen doch eher die Lektüre von Schönes Kommentaren und Untersuchungen empfohlen sei.

Was die extensive Lektüre angeht, sei eine kleine Auszählung des Literaturverzeichnisses angeführt: Von den 25 Titeln zu Goethes Faust sind zehn Titel vor 1945 erschienen. Dies könnte noch auf eine wünschenswerte Breite der Lektüre hinweisen, wären es dagegen nicht lediglich sechs Titel, die nach 1980 erschienen sind. Zum Vergleich: Schon eine einfache Suchanfrage in der IBZ zu Goethe + Religion hat fast 100 Treffer für die letzten zehn Jahre ergeben. "Es ist deren [der Theologie] Elend, daß zuweilen angenommen wird, man könne aus einer abständigen Neutralität und in vermeintlich kommunikationsfähiger Objektivität über Gott und sein Heil so sprechen, daß jeder das Gesprochene versteht, [aber:] Es gibt außerhalb des Glaubens kein Verstehen eines theologischen Satzes, kein Verstehen einer kirchlichen Lehre." (174)

Neben dem schlichten Umstand, dass germanistische Forschung zum vorliegenden Text nicht zur Kenntnis genommen wurde, findet hier also offenbar die Hermeneutik der Horizontverschmelzung auch noch ihre natürliche Grenze. Aber nicht nur an dieser Stelle von H.s Analysen kommt eine Fundamentaldifferenz zum Ausdruck, die zwischen den Textwissenschaften Theologie und Germanistik besteht: Es mag für den Theologen ja sinnvoll sein, sich in eine Haltung des Glaubens an seinen heiligen Text, dessen Wahrheit und den Willen zur Sinnstiftung auf Senderseite zu glauben - kurz gesagt, daran, dass das wahr ist, was in der Bibel steht. Dies ändert aber nichts daran, dass die Dichter lügen. Und will sich nun ein Theologe dem germanistischen Feld annähern, so sollte doch zumindest zur Kenntnis genommen werden, dass Goethe nicht Gott ist.

Es wäre im Sinne des interdisziplinären Austausches wünschenswert, wenn zur Kenntnis genommen würde, dass man es bei der Germanistik mit einer Wissenschaft zu tun bekommt, die einige grundlegende Überlegungen zum Verständnis von (druck-)schriftlicher Kommunikation im Rahmen fiktionaler Texte formuliert hat - die zum Beispiel in den letzten Jahren auf hohem theoretischen Niveau wieder damit begonnen hat, über eine Kategorie wie Autorschaft zu reflektieren.

Das wünschenswerte Unternehmen einer wechselseitigen Beobachtung von Literatur und Religion, von Theologie und Germanistik scheitert im vorliegenden Band also leider schon auf einer grundlegenden Ebene. H. macht sich daran, in die Tiefe eines Werkes vorzudringen, wobei er sich argumentativ ganz im metaphorischen Rahmen von Schatz und Bergung befindet und- seiner Ansicht nach - gerade in dieser Hinsicht ganz der theologische Textwissenschaftler ist. Offenbar glaubt H., dass es den einen wahren Sinn des Textes gibt, und er will ihn finden. H. sagt auch, wie dies zu leisten ist, nämlich durch die Anwendung einer an Gadamer und Heidegger angelehnten hermeneutischen Methodik, die für seine Analyse ausschlaggebend ist: "Wollen wir nun Goethe interpretierend verstehen, so rufen wir uns erneut in Erinnerung, daß Interpretation die entscheidende, die hervorragende Aufgabe der Bibelwissenschaft ist. Der Bibelwissenschaftler ist als Exeget des Alten und/oder des Neuen Testaments in erster Linie Hermeneut, er ist als Theologe von seiner wesen-haften Aufgabe her Hermeneut." (215)

Wir werden also über das Wesen des Mannes als Theologen aufgeklärt: Sein Wesen ist es, Hermeneut zu sein - allzeit auf der Suche nach dem Sinn des Seins. Das könnte erfrischend altmodisch sein, würde es nicht mit einer merkwürdigen Wut (des Verstehens) vorgebracht, die sich zugleich entgegen allen anders lautenden Beteuerungen in einer Position völliger Ignoranz gegenüber der literaturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte befindet, die sich vor allem auch in einem zutiefst anti-fundamentalistischen we agree to disagree ausdrückt.

Wenn also auch das Unternehmen als interdisziplinäre Annäherung zu begrüßen ist, müsste diese Diskussion doch auf der Grundlage einer angemessenen Reflexion der jeweiligen Geschäftsgrundlagen des Fachs geschehen. Aber trotz deren bedauerlichem Fehlen kann H.s Text gerade theologischen Laien eine Vielzahl von interessanten Hinweisen geben und stellt bedenkenswerte Einzelbeobachtungen an. In diesem Sinne ist das Buch als ein theologischer Kommentar zu Goethes Faust dann eben doch mit Gewinn lesbar.