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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

665–667

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Allert, Craig D.

Titel/Untertitel:

Revelation, Truth, Canon, and Interpretation. Studies in Justin Martyr's Dialogue with Trypho.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2002. XVI, 311 S. gr.8 = Supplements to Vigiliae Christianae, 64. Geb. Euro 99,00. ISBN 90-04-12619-8.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Das Buch ist die überarbeitete Fassung einer am St. John's College, University of Nottingham, entstandenen Dissertation. Sie widmet sich der systematischen Analyse der Konzeptionen von Offenbarung, Wahrheit, Kanon und Interpretation in Justins Dialog mit dem Juden Tryphon und der Erschließung ihres inneren Zusammenhangs.

Die Gesamtanlage des Bandes wirft freilich unter historischen wie philologischen Gesichtspunkten methodische Fragen auf. Den griechischen Text des Dialogs mit Tryphon zitiert der Vf. durchgängig nach Goodspeed (1914), und zwar ohne die neue Edition von Marcovich (PTS 47; Berlin 1997) überhaupt zu beachten. Gewiss kann und muss man gegenüber der Marcovich-Edition kritisch sein, aber ohne jede Begründung auf den Goodspeed-Text zurückzugreifen, ist problematisch, zudem der Vf. an keiner Stelle den Eindruck erweckt, dass er sich mit dieser Edition auf Basis eigener textkritischer Kompetenz auseinander setzt. Die zu Rate gezogenen Übersetzungen beschränken sich auf die englischsprachigen, die neuere französische (neu überarbeitete Ausgabe von 1994) und italienische (1988) oder die älteren deutschen werden nicht zur Kenntnis genommen. Zwar weist der Vf. darauf hin, dass die in dem Buch gebotenen Übersetzungen seine eigenen sind, doch bezieht sich das, wie er S. 35 selbst sagt, nur auf die Übersetzungen des Dialogs, denn die der Apologien und der im Appendix beigegebenen Evangelienzitate und -anspielungen gehen einfach nach ANF (Roberts & Donaldson 1885 [sic!], die S. 35, Anm. 167, und S. 255, Anm. 1, genannte Ausgabe von 1994 ist nur ein Nachdruck jener Fassung von 1885). Ferner kann man an das Buch unter theologiehistorischen Aspekten die Anfrage stellen, ob eine immanente Analyse der Texte eines Denkers den Anforderungen an heutiges historisches Arbeiten gerecht wird; die Hinzuziehung nahe liegender relevanter zeitgenössischer Vergleichstexte fällt jedenfalls ausgesprochen schmal aus (z. B. finden sich nur ganz wenige Hinweise auf Philo). Wenn man sich dann aber schon entscheidet, immanent an den Ideen einer Gestalt der antiken Geistesgeschichte zu arbeiten, stellt sich sogleich die weitere Frage, ob es methodisch sinnvoll ist, wenn man sich, wie es beim Vf. geschieht, weitgehend auf einen Text beschränkt. Gerade zur Frage der Wahrheit, des Kanons, der Evangelienzitate usw. hätten doch die Apologien sehr viel hergegeben und eine konsequentere Gesamtschau hätte zweifellos einen reicheren Ertrag versprochen, als er in vorliegender Dissertation zum Tragen kommt.

In der 35 Seiten umfassenden Einleitung sowie einem größeren Vorschaltkapitel werden die Einleitungsfragen zu Leben und Werk Justins und zum Dialog sinnvollerweise knapp behandelt. Die viel diskutierte Frage nach dem Leserkreis, auf den der Dialog zielt, hätte man im Blick auf die klar hinter dem Text stehenden Traditionen des zeitgenössischen jüdischen, paganen und christlichen Schulbetriebs offener beantworten können, als der Vf. das tut, der primär Juden angesprochen sehen will (18 und 61 - der Querverweis S. 18 auf den nicht existierenden Appendix II ist offensichtlich einfach ein Fehler) und den Text deshalb als eine Art moderat formulierte Streitschrift mit missionarischem Impetus einordnet.

Sodann widmet sich der Vf. in vier großen Hauptkapiteln den vier interesseleitenden systematischen Topoi. Für die Frage nach dem Offenbarungsverständnis Justins wird die epistemologische Bedeutung der Offenbarung herausgehoben, auf welche Propheten und Apostelerinnerungen Zugriff erlauben und die sich in der Inkarnation des Logos letztgültig vollzieht. Die Struktur des Offenbarungsverständnisses Justins wird gut herausgearbeitet, allerdings hätte ein intensiverer Blick in die Apologien dazu geführt, die relativ scharfe Diastase zwischen Offenbarung und Philosophie graduell abzumindern (z. B. 1. Apol. 18.20). Was die "Erinnerungen der Apostel" angeht, ist die bis heute die Forschung mitbestimmende Arbeit gleichen Titels von L. Abramowski gar nicht berücksichtigt worden. In der Frage nach dem Wahrheitskonzept wird mit Recht hervorgehoben, dass der Wahrheitsbegriff christologisch akzentuiert ist und dass die Logostheologie dazu dient, zu definitiven Aussagen über Gott, über Gottes Willen und seinen Plan mit der Welt zu gelangen (185).

Der Vf. sieht Justin, was das Wahrheitskonzept angeht, eher in der Tradition der Texte des werdenden Neuen Testaments, weniger in der der hebräischen und griechischen (platonischen) Wahrheitskonzeptionen, wobei man fragen kann, ob die Diastase, die er hier eröffnet, wirklich so statisch zu sehen ist. Die Übergänge sind im Denken der Alten Welt m. E. wesentlich fließender. Im vierten Hauptkapitel über den werdenden neutestamentlichen Kanon identifiziert der Vf. Justins "apostolische" Referenztexte mit den synoptischen Evangelien bzw. mit einer auf ihnen basierenden Harmonie und stellt mit Recht fest, dass aus diesem Befund noch kein Urteil über mögliche Kanonisierungsvorgänge möglich ist: Die Kirche (und Justin) sahen bestimmte Texte als "Schrift" an, ohne dass damit schon ein kanonischer Status dieser Texte postuliert werden kann, der erst erheblich später vorliegt (219 f.).

Das fünfte und letzte Hauptkapitel fragt schließlich nach dem hermeneutischen Prinzip Justins und gelangt zu dem Ergebnis, dass es die historische Figur Jesu als des Christus ist, die das Verstehen der Schrift und damit das theologische Denken Justins bestimmt. Von daher erklärt sich auch das starke theologische Interesse Justins an den Lehren Jesu und am Nachfolgegedanken. Justin sucht also nicht nach einem versteckten Sinn in der Schrift, weil ihm Christus als der evidente Schlüssel zur Schrift gilt, mit dessen realem historischen Leben und Wirken bestimmte reale historische Ereignisse des Alten Testaments korrespondieren. Das alles wiederum steht unter dem einen göttlichen Plan bzw. der einen göttlichen "oikonomia" (252 f.). Es ist wohl das größte Verdienst des Buches, diese konsequent "historisch-christologische" Exegese Justins nachdrücklich unterstrichen zu haben.

Die Evangelienzitate und -anspielungen sind im Appendix übersichtlich dargeboten, wenn auch der Goodspeed-Text gemäß der alten englischen Übersetzung, die den Text ja gar nicht kannte, "übersetzt" wird. Die angehängten Indizes der antiken und modernen Autoren und der griechischen Begriffe sind ungewöhnlich karg, was an den besprochenen methodischen Defiziten der Gesamtanlage des Buches liegt. Der Index der verwendeten Justinstellen und der englischsprachige Index der verhandelten Themen sind um einiges reicher und bieten manch guten Ansatzpunkt für genauere und tiefer gehende Analysen des Denkens Justins.