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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

663–665

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Radl, Walter

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Lukas. Kommentar. Erster Teil: 1,1-9,50.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2003. XVIII, 656 S. gr.8. Geb. Euro 98,00. ISBN 3-451-28129-5.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die Zeit der voluminösen Kommentare hält an. Im vorliegenden Fall hat das gute Gründe, denn W. Radl tritt mit diesem ersten Teilband an die Stelle eines anderen umfangreichen Werkes - jenes großen, leider unvollendet gebliebenen Kommentars zum Lukasevangelium von Heinz Schürmann (1969/1993). Gegenüber den 590 Seiten dort hat sich dabei die Auslegung von 1,1-9,50 auf 656 Seiten hier erweitert - doch angesichts der seit Schürmann ins uferlose angewachsenen Literatur bleibt dieses Ausmaß immer noch vertretbar. Erschöpfende Darstellungen sind ohnehin nicht mehr möglich. Sowohl in der Diskussion des Forschungsstandes als auch in der Profilierung der eigenen Auslegung gilt es, Akzente zu setzen. Dafür haben die jahrzehntelangen intensiven Lukasstudien R.s beste Voraussetzungen geschaffen.

Die Position in den Einleitungsfragen bietet jedoch gegenüber R.s bekanntem Taschenbuch (Das Lukas-Evangelium, EdF 261, Darmstadt 1988) keine Überraschungen. Vielmehr ist die ganze Einleitung des Kommentars (1-22) im Aufriss wie im Wortlaut komplett von dort übernommen - von verschiedenen Kürzungen und einer Kapitelumstellung abgesehen (im Literaturverzeichnis sucht man das Buch indessen vergeblich). Nur wenige Einzelheiten sind dabei ergänzt - so z. B. ein Satz zu der These P. Pilhofers (2002) über den Verfasser Lukas als einen àÓcÚ ÎÂÒÓ (8). Ansonsten aber bleibt vieles, was die Lukasforschung seit 1988 beschäftigt hat, unberücksichtigt. Besonders deutlich macht sich dieser Umstand hinsichtlich der Gliederung bemerkbar: Die gesamte kontroverse Debatte um den "Reisebericht/Mittelteil/the central section", die zu einem Schibbolet für die Strukturierung des Makrotextes geworden ist, kommt in dem entsprechenden Abschnitt nicht vor. Es bleibt bei den bekannten, soliden Grundinformationen.

Die Kommentierung selbst folgt einem festen Schema: An die Übersetzung der Perikope schließen sich allgemeine literarische Beobachtungen (I), eine Vers-für-Vers-Auslegung (II) sowie ein die vielfachen Vernetzungen darstellender Schlussteil (III) an, abgerundet durch weiterführende Literaturhinweise. Philologische Fragen, intertextuelle Bezüge oder sachliche Einzelheiten werden jeweils in Petit diskutiert, größere Einheiten werden durch Einführungsabschnitte vorbereitet. In kompakter, flüssiger Sprache erschließt sich die Welt jeder einzelnen Perikope, wobei Informationsdichte im Detail und der durchgängige Blick für die großen lukanischen Motivlinien in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.

Einige wenige Beispiele sollen das Profil der Auslegung sichtbar machen. Die Ausführungen zu den Geburtsgeschichten Lk 1-2 beruhen wesentlich auf R.s monographischer Untersuchung von 1996 (Der Ursprung Jesu. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen, 397 S., Herders Biblische Studien, 7). Auch hier sind ganze, lange Passagen wörtlich übernommen. Bei der Analyse der Täuferüberlieferung 3,1-20 bleibt Johannes (in konsequenter Weiterführung der Auslegung von 1-2) gegenüber Jesus stärker zurückgestuft: Das Verb euaggelizomai in 3,18 etwa wird mit dem weniger betonten "predigen" wiedergegeben.

Die Platzierung der Genealogie - oft genug als sperrig empfunden - erweist sich nach eingehender Analyse als wohlüberlegt: Die Proklamation des Gottessohnes korrespondiert mit seiner Eingliederung in die Menschheitsfamilie, seine Auszeichnung wird mit Ausgesetztsein und Gefährdung verbunden. Von der Versuchungsgeschichte aus treten dann verschiedene Bezüge auf den Kontext des gesamten Evangeliums in den Blick. Die Programmatik der Antrittspredigt in Nazaret kommt in der Sendung Jesu zum Ausdruck. Nazarettag (4,16-30) und Kafarnaumtag (4,31-43) sind eng aufeinander bezogen und lassen sich als eine Art "Diptychon" verstehen.

Für die weitere Schilderung der Wirksamkeit Jesu plädiert R. dann dafür, die Notiz von 4,44 als bewusst gesetztes Signal ernst zu nehmen: Von nun an weite sich der Radius Jesu nach der erzählerischen Intention des Lukas bereits über Galiläa hinaus aus und lasse die Anfänge schon erkennbar hinter sich. In dem schwer zu gliedernden Abschnitt 5,1-9,50 erkennt R. eine Ringkomposition. Den Charakter der Erzählung von 5,1-11 entfaltet er sowohl hinsichtlich der Rolle des lukanischen Petrus als auch hinsichtlich ihrer missionarischen Perspektive; das Fischfangwunder fungiert als metaphorisches Vorbild für den Erfolg der apostolischen Verkündigung.

Im Blick auf die Perikope von der Heilung des Gelähmten 5,17-26 lehnt R. den Einfluss exorzistisch dämonischer Vorstellungen ab. Die viel diskutierte Spannung zwischen 5,36-38 (Sorge um das Neue) und 5,39 (Lob des Alten) löst er im Sinne einer Korrelation zwischen innovativer Verkündigung einerseits und Traditionsbindung andererseits auf. In der Erzähleinheit der Konfliktgeschichten 5,17-6,11 arbeitet die Auslegung bereits die differenzierte Sicht der Pharisäer bei Lukas heraus. Das Hauptanliegen der Feldrede wird in der tätigen Liebe bestimmt. Das Thema der Feindesliebe verschränkt sich bei Lukas mit dem der Wohltätigkeit.

Sehr ausgewogen erfolgt die Analyse der Armutsthematik, die frei von Idealisierungen auf reale soziale Gegebenheiten bezogen wird: "Die Seligpreisung der Armen ist in sich zutiefst widersprüchlich und offenbart etwas von der gegenüber menschlichem Denken völlig anderen Art Gottes." (381) Zwei Exkurse gelten zentralen Aussagen der Feldrede: Sie behandeln unter "Feindesliebe in der Umwelt des Neuen Testaments" und "Widerstand-, Vergeltungs- und Rechtsverzicht in der Umwelt des Neuen Testaments" die vielfältigen Bezüge zu geprägten Vorstellungen in der altorientalischen, alttestamentlich-jüdischen und hellenistischen Tradition - wodurch die beliebte Annahme, gerade hier sei das besondere Kennzeichen des Christentums zu finden, deutlich relativiert wird. Verhaltensmuster und Handlungsaufforderung im Schlussgleichnis der Feldrede verdeutlichen die Praxisrelevanz der Evangeliumsverkündigung.

Der Abschnitt 7,1-17 fasst "Großtaten Jesu" zusammen: Mit der Epsiode des Hauptmanns von Kafarnaum bereitet Lukas schon Apg 10 vor; in der Auferweckung des Jünglings zu Nain äußert sich ein starker Zug prophetischer Tradition im christologischen Konzept des Lukas. 7,18-50 nimmt dieses letzte Moment auf und behandelt Jesus und Johannes als prophetische Gestalten. Für die Worte über den Täufer sieht R. eine aktuelle Auseinandersetzung mit Täuferkreisen zur Zeit des Lukas nicht mehr gegeben.

Für die Salbungsgeschichte, deren Facettenreichtum sorgfältig dargestellt wird, gewinnt das Glaubensmotiv zentrale Bedeutung. In 8,1-3 schließt sich R. der Auffassung an, dass Lukas hier von Nachfolgerinnen Jesu ausgeht, die er allerdings - wohl im Spiegel eigener Gemeindeerfahrungen - vor allem als Wohltäterinnen zeichnet. 8,4-21 ist dem Thema "Wort Gottes" gewidmet: Im Saatgleichnis, seiner allegorischen Auslegung und dem kurzen Apophtegma zur familia dei erfolgt damit schon eine Vorbereitung des folgenden Abschnittes. Denn 8,22-56 bietet mit der Seesturmgeschichte, dem Exorzismus in Gerasa und der Auferweckung der Jairustochter eine Trilogie, die in markanten Wundererzählungen nun die Epiphanie göttlicher Macht durch das Wort Jesu auch sichtbar abbildet. Der "Ausrüstungsregel" in der Aussendungsperikope 9,1-6 schreibt R. vor allem demonstrativen Charakter zu, ohne die Zeichenhaftigkeit des geforderten Verhaltens weiter auszuführen.

Einen letzten Höhepunkt stellt das Petrusbekenntnis dar: Die Frage nach der Identität Jesu wird durch Herodes-Umfrage und Speisung dringlich gemacht. In der beziehungsreichen Verklärungsgeschichte legt R. noch einmal "ein Evangelium im kleinen" frei. Mit den letzten Episoden 9,37-50 schließlich werden das Unvermögen und das Unverständnis der Jünger thematisiert, was den im Kontext des Petrusbekenntnisses unterdrückten Tadel in einer anderen Akzentuierung nachliefert.

An neueren Kommentaren zum Lukas-Evangelium besteht derzeit kein Mangel. Jeder Band, auch wenn er im Rahmen einer eingeführten Reihe an die Stelle seines Vorgängers tritt, muss sich in dieser Situation gegenüber dem Lesepublikum durch klar erkennbare Vorzüge behaupten.

Die Vorzüge des neuen Kommentares von R. liegen auf der Hand: In seiner breiten Anlage liefert er umfangreiche Information und Anregung zu eigenständiger Beobachtung gleichermaßen. Er meidet steile Thesen oder einseitige Positionen, profiliert sich auch nicht an Modethemen - vielmehr bleibt er stets an der Vielfalt der lukanischen Erzählung und der daraus resultierenden Bandbreite theologischer Fragen orientiert. Alle Aufmerksamkeit gilt den großen Linien, Spannungsbögen oder thematischen Verflechtungen. In diesem Kommentar gewinnt der Evangelist Lukas Gestalt als eine der tragenden Säulen neutestamentlicher Theologie. Auf die kommenden - wohl noch mindestens zwei - Bände richten sich deshalb hohe Erwartungen.