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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

656–658

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lips, Hermann von

Titel/Untertitel:

Der neutestamentliche Kanon. Seine Geschichte und Bedeutung.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2004. 218 S. gr.8 = Zürcher Grundrisse zur Bibel. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-290-17303-8.

Rezensent:

Theo K. Heckel

Hermann von Lips beschreibt, wie frühe christliche Schriften zum "Neuen Testament" gebündelt wurden und welche Diskussionen um die Sammlung die christliche Kirche über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart begleiten. Eine klare Disposition führt den Leser durch das Werk. Nach einer Einleitung (9-12) folgen Überblicke zur Entstehung (Teil I, 13-116) und Rezeption (Teil II, 117-193) des neutestamentlichen Kanons. Ein Anhang (194-218) bietet ein selektives Literaturverzeichnis und erschließt das Werk durch Stellen-, Autoren- und Sachregister sowie ein ausführliches Inhaltsverzeichnis (211-218). Schon das vorangestellte knappe Inhaltsverzeichnis (5 f.) führt gut überblickbar durch das Buch.

Die sehr knapp gehaltene Einleitung deutet Probleme der Kanonsgeschichtsschreibung an, die aus der dürftigen Quellenlage in der Frühzeit und dem schwer zu fassenden Begriff "Kanon" resultieren. Ist eine kanonische Schriftensammlung eher "eine Sammlung autoritativer Schriften (vgl. Theodor von Zahn) oder eine autoritative Sammlung von Schriften (vgl. Adolf von Harnack)" (10)? Von L. umreißt zutreffend die Unklarheit des anachronistischen Ausdrucks "Kanon" (vgl. 111) für das zu beschreibende Phänomen. Welche Maßstäbe von L. selbst anlegen will, bleibt in der Einleitung etwas vage. Einzelne Bausteine für eine Begriffsklärung finden sich im Buch verstreut.

So nennt er die Zulassung zur gottesdienstlichen Verlesung als einen solchen Maßstab, der für die Kanonbildung "wesentlich" (127), "ein entscheidendes Element" (182, vgl. 27) und doch nicht hinreichend (111) ist. Eine gewisse Bedeutung misst er den großen Handschriften zu, die jeweils eine bestimmte Anzahl von Schriften wiedergeben (84.105). Eine systematische Sammlung und Wertung solcher Maßstäbe hätte in der Einleitung einen guten Platz und würde der weiteren Darstellung eine klare Grundlage geben. Auch die "Bilanz" zum Schluss des Teils I (110-116) bietet eher einen Katalog divergierender Möglichkeiten, durch die der "Kanon" hervorgebracht worden sein könnte. Zu den Möglichkeiten rechnet von L. u. a. die "Macht des Faktischen" (112) und bischöfliches Eingreifen (112 f.).

Der Teil I des Buches setzt beim Schriftgebrauch der frühen Christen ein. Dabei schließt von L. von der Alphabetisierungsrate des römischen Reiches insgesamt auf eine Lesefähigkeit bei den frühen Christen, die analog auf eine kleine Oberschicht beschränkt gewesen sei (19 f.). Doch dieser Analogieschluss dürfte die letztlich auf das jüdische Erbe der frühen Christen zurückgehende hohe Schriftkultur deutlich zu gering einschätzen. Ein intensiver Umgang mit der Schrift, unserem Alten Testament, verlangt ebenso eine verbreitete Schriftkultur wie sie die medialen Innovationen der frühen Christen belegen, etwa die Paulusbriefe, die Evangelienschreibung und die rasante Durchsetzung der Codexform. An dieser Stelle fällt das Fehlen des Werkes von Harry Y. Gamble, Books and Readers in the Early Church (New Haven 1995) auf. Von L. neigt dazu, die von ihm vermutete kleine Elite der Schriftkundigen für eine Kanondurchsetzung von oben verantwortlich zu machen. Diese mehr angedeutete These (z. B. 27 f.112) bedürfte einer Absicherung, damit nicht allein aus dem Schweigen einer vermeintlich des Lesens unkundigen Masse eine übertölpelte frühe Christenheit konstruiert wird.

Sachgerecht unterscheidet von L. die Herrenwortüberlieferung (30-40) und die Sammlung der Paulusbriefe (41-46). Aus diesen beiden Strängen der christlichen Überlieferung erwächst bis zum Ende des 2. Jh.s die Vierevangeliensammlung und eine Paulusbriefsammlung aus 13 Briefen. Diese beiden Pfeiler tragen die Sammlung "Neues Testament", auch wenn um den Hebr, mehrere katholische Briefe, 1Clem und die Offb noch lange diskutiert werden wird.

Von L. sucht nach Abgrenzungen, die aus einer Fülle von Schriften bestimmte auswählen und so einen "Kanon" bedingen (vgl. 48). Vielleicht entstehen Schriftensammlungen aber auch ohne polemische Abgrenzungstendenz zum internen Gebrauch und bewähren sich dann. So könnte etwa die Vierevangeliensammlung als Zusammenstellung um einiges älter sein als deren Fixierung gegen weitere Evangelien (vgl. 181). Die Fixierung des Vierevangelienkanons setzt von L. um das Jahr 200 an (40) und er betont verschiedentlich die Bedeutung Markions für diese Festlegung (50-54.182). Soweit folgt von L. Hans von Campenhausen (Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968, 2. Aufl. 2004). Wie dieser übergeht er die sekundären Mk-Schlüsse, die wohl eine vormarkionitische Vierevangeliensammlung nahe legen (vgl. 40). Die bei von L. nicht genannte Monographie U. Schmids (Marcion und sein Apostolos, ANTF 25, Berlin 1995) widerrät, Markion allzu alleinstehend zu deuten und so zum Hauptanlass kirchlicher Entwicklungen hochzustilisieren, wie es von L. mit der älteren Forschung macht.

Lokal gegliedert und an den erhaltenen Kirchenvätern orientiert listet von L. dann auf, welche einzelnen Schriften bis ins 4.Jh. in ihrer autoritativen Bedeutung diskutiert wurden (68- 94), wobei er im 39. Osterfestbrief des Athanasius von 367, der "unsere" 27 Schriften für verbindlich erklärt, einen "Modellkanon" (89.119) sieht, der sich in den folgenden Jahrhunderten durchsetzen wird.

Der Teil II referiert die weiteren Diskussionen um einzelne Schriften, vor allem die Offb, wie auch einzelne in alten Handschriften nicht enthaltene Stellen, etwa Joh 7,53-8,11. Eindrücklich schildert von L. etwa A. Bodenstein v. Karlstadt (145-147, geb. 1486, nicht 1480) und dann auch von L.s großen Hallenser Vorgänger J. S. Semler (167-172).

Der Reihe, in der dieses Buch veröffentlicht wurde, entspricht von L. in der Darstellungsart, da er einen "Grundriss" bietet, d. h. er orientiert über die Ergebnisse von Einzelforschungen, ohne diese explizit zu besprechen oder Einzelheiten in Fußnoten nachzuweisen. Freilich nennt er öfters in Klammern Namen von Forschern, deren Thesen er referiert, manchmal stellt er auch Seitenzahlen hinzu, die dann über das Literaturverzeichnis aufgelöst werden können. Der Gang des Buches durch die Jahrhunderte fasst Bekanntes zusammen, und er schärft das Bewusstsein, wie ungewöhnlich unsere gewohnte neutestamentliche Schriftsammlung eigentlich ist.