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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

654–656

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lehnert, Volker A.

Titel/Untertitel:

Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion von Jes 6,9-10 bei Markus und Lukas. Ein textpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. XI, 338 S. 8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, 25. Kart. Euro 34,00. ISBN 3-7887-1744-0.

Rezensent:

Hans Hübner

Über die Rezeption von Jes 6,9-10 im Neuen Testament ist schon viel geschrieben worden. Dennoch ist die bei Klaus Haacker angefertigte Dissertation von V. A. Lehnert eine Bereicherung, mehr noch, eine Studie, die die Forschung in methodologischer Weise entscheidend weiterführt. Darauf verweist auch der ein wenig umständlich formulierte Untertitel, der die wesentlichen Intentionen der Arbeit nennt: Textpragmatik, Rezeptionsästhetik und Lesetheorie. Doch zunächst der Überblick über das Ganze der Dissertation:

Nach Vorwort und Einleitung: A. Grundlegende Arbeiten zum Problem der Verstockung. B. Exegetische Einzelprobleme der Texte und ihre Behandlung in der Literatur. C. Methodologische Zwischenreflexion. D. Paradoxe Kommunikation am Beispiel der Jonaerzählung. E. Pragmatische Lektüre von Jes 6,9-10. F. Pragmatische Lektüre von Mk 4,10-13. G. Das lukanische Doppelwerk. Am Ende der Arbeit: Gesamtergebnis und Ertrag.

Auf einzelne exegetische Darlegungen und Ergebnisse gehe ich nur am Rande, soweit erforderlich, ein und widme mich hauptsächlich den methodologischen Fragen. Zu A) sei nur gesagt, dass L. die wichtigen Publikationen zum Verstockungsproblem kennt. In B) thematisiert er das neutestamentliche Zitat Jes 6, 9f., die Parabeltheorie Mk 4,10 ff. und für das lukanische Doppelwerk Lk 8,9 f. und Apg 28,25 ff.

Als das Spezifische dieser Dissertation behandelt L. in C) unter dem Gesichtspunkt einer methodologischen Zwischenreflexion Aspekte aus der neueren Textpragmatik (Kursiva auch im Folgenden so bei L.) und die terminologische Klärung der Begriffe Fiktionalität, Sinn und Textebenen. Zur Textpragmatik: L. geht von Stengers Definition eines Textes als einer zusammenhängenden, strukturierten sprachlichen Äußerung aus, die eine bestimmte Wirkung intendiert. So fragt er (49): "Wer schreibt eigentlich was mit welchem Ziel an wen?" Pragmatik versteht er als "funktionale Betrachtungsweise [..., die] nach dem durch eine Sprechhandlung konstituierten Kommunikationsprozeß zwischen Autor, Text und Leser" fragt (50).

Zu den Bedingungen sprachlichen Handelns und zur Sprechsituation: Zutreffend sieht er mit vielen hermeneutisch denkenden Exegeten den hermeneutischen Zirkelschluss als ein Problem der pragmatischen Analyse biblischer Texte: Oft muss die Situation aus dem Text erschlossen, der Text aber von der aus dem Text erschlossenen Situation her interpretiert werden. Von dort aus kommt er zur Erörterung der Sprechakttheorie (Searle und Austin). Mit Hardmeier sieht er in einem Erzähltext zuerst ein Datum seiner Erzeugungssituation und erst dann in davon abgeleiteter Linie den Zeugen der in diesem Text verhandelten Sachverhalte.

Bisher hat L. die Thematik, die im Rahmen einer Rezension nur äußerst gekürzt wiedergeben werden kann, gut und angemessen referiert. Doch ein Gravamen muss genannt werden (54). Er bezieht sich auf die antike Rhetorik, zunächst auf ihren Begriff der narratio. Auch später will er sie mehrfach auswerten. Aber sein hier erfolgter Hinweis ist typisch dafür, wie er auch hernach noch mit ihr umgeht. In der gesamten Dissertation werden dem Leser grundlegende Informationen zur antiken Rhetorik vorenthalten, obwohl L. sie in sein methodologisches Repertoire einbaut; wichtige bibliographische Angaben über Publikationen, in denen das Neue Testament rhetorisch untersucht wird, unterbleiben (z. B. H. D. Betz, im Grunde der Initiator dieser Methode, dazu H. Hübner, ThLZ 109 [1984], 250-272; seitens der Klassischen Philologe vor allem C. J. Classen).

Das Ergebnis von L.s Überlegungen zur Textpragmatik (69): "Fragt die historische Kritik primär nach der Referenz eines Textes in Bezug auf die hinter der erzählten Welt liegende Geschichte, so die pragmatische Analyse nach dem durch Textrepertoire und -strategie produzierten Geschehen im Akt des Lesens." Mit L.: Historische Kritik und pragmatische Analyse sind komplementär zu handhaben.

Aufschlussreich und fördernd ist, was L. zur Fiktionalität - auch im Kapitel über die methodologische Zwischenreflexion - sagt. Er unterscheidet zwischen Fiktionalität als erfundener immanenter Irrealität und als transzendenter, aus der Sicht des Glaubens interpretierter Realität. Dabei beruft er sich, mit Recht, weithin auf Oeming, z. B. auf dessen Resümee (75): "Wahrheit ist nicht mit historischer Faktizität identisch." Und mit Weder hält er fest, dass Sprache auch neue Wirklichkeit schafft (76).

In D. behandelt er unter der Überschrift "Paradoxe Kommunikation" am Beispiel der Jona-Erzählung u. a. Ironie, Parodie und Satire. Der fliehende Prophet Jona ist die Parodie eines Propheten. Er zitiert Wolff (94): "So wird Jona der Lächerlichkeit preisgegeben. Aber eben mit der beißenden Aufdeckung des Widerspruchs von Wort und Tat wird der lächelnde Leser aus solchem Verhalten herausgelockt."

Jes 6,9 f., der im Titel des Buches genannte Text aus dem Alten Testament, steht erstaunlicherweise mitten zwischen Jona und Mk 4. L.s Ergebnis (121): Der Imperativ Jes 6,10 ist rhetorisch paradox, nämlich Umkehrung traditioneller Prophetenbeauftragung: "Das Ziel, den Zustand des Nicht-Hörens und -Verstehens geradezu hervorzubringen, anstatt ihn zu beseitigen, läßt sich als Paradoxe Intervention ... auf der Leserebene ... verstehen." Ich verzichte auf das Referat der weiteren Kapitel, weil m. E. im bisher Gesagten das Wichtigste schon hervorgehoben worden ist. Lediglich zu Apg 28 erlaube ich mir zu sagen, dass ich L.s Urteil, dass Lukas implizit die Restitution des "Reiches für Israel" voraussetze, nicht teilen kann (291).

Im zusammenfassenden Schlusskapitel "Gesamtergebnis und Ertrag" skizziert L. diesen Ertrag, indem er die einzelnen "Dimensionen" noch einmal auflistet: die exegetische, die aktuelle, die methodische, die theologische und die homiletische Dimension (299 f.). Dazu nur wenige Anmerkungen.

Zur exegetischen Dimension: Gerade in diesen wenigen Sätzen wird L.s Intention besonders deutlich. Hier wird erneut erkennbar, dass es ihm nicht nur, wie der Untertitel "Ein textpragmatischer Versuch ..." sagt, um eine methodologische Studie geht, sondern um eine solche um seiner energischen theologischen Absicht willen. Mit Recht legt er wieder den Zeigefinger darauf, dass neben der Semantik die pragmatische Dimension des zu Bewirkenden - die pragmatische Dimension ist also konstitutiv für die exegetische Dimension - eine eigenständige Fragestellung zu bearbeiten hat. Ich bin mit ihm auch einer Meinung, dass in der neutestamentlichen Wissenschaft die Methodologie im Dienste der Herausarbeitung der betreffenden Theologie ihren eigentlichen Sinn hat. Allerdings würde ich nicht von einem "neutestamentlichen Antijudaismus" sprechen, auch nicht in der Abschwächung mit "sogenannt". Ich hätte Bedenken, vom Neuen Testament als "größtenteils judenchristlichem Buch" zu sprechen. Diese Charakteristik deckt nur einen bestimmten Aspekt ab und ist keinesfalls mit allen dominanten neutestamentlich-theologischen Intentionen identisch.

War es L.s Höflichkeit, dass er immerhin teilweise die theologische Intention meiner "Biblischen Theologie des Neuen Testaments I" positiv bedachte (seine Kritik, die sich auf Stuhlmacher stützt, hätte er aber besser unterlassen; denn dieser hat mich zunächst nicht verstanden, hat aber später seine Kritik an mir relativiert), jedoch die nicht geringen inhaltlichen Differenzen zwischen seiner und meiner in Band II und III geäußerten Israel-Sicht nicht thematisierte? Mir geht es aber in dieser Rezension nicht darum, diese Differenzen herauszustellen, sondern, was nun einmal die Hauptaufgabe eines Rezensenten ist, zu zeigen, wie ein Autor in wichtigen Fragen einen Schritt nach vorn gegangen ist.

Dass L., was die theologische Dimension angeht, Gottes Wirken durch sein performatives Wort so stark betont, kann ich nur begrüßen. Ich frage mich allerdings, ob nicht schon im Begriff der exegetischen Dimension die theologische Dimension als deren Mitte eingeschlossen ist. Exegese des Neuen Testaments ohne Verstehen der Theologie des Neuen Testaments ist keine Ex-egese. Und so hat ja auch L. selbst unter der Überschrift "die exegetische Dimension" schon das gesagt, was für ihn theologisch wesentlich ist. Dass er mit dem Hinweis auf die homiletische Dimension der Verkündigungsaufgabe hohen theologischen Wert beimisst, ist erfreulich. So kann ich am Ende dieser Rezension - über theologische Differenzen hinweg - nur sagen: L. hat gezeigt, dass Methode in der neutestamentlichen Wissenschaft der Theologie dient. Und Besseres kann man ja als Theologe wohl kaum zur unverzichtbaren Mühe mit der methodischen Arbeit sagen!