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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

473–476

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fitzgerald, John T. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament World.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1996. 291 S. gr.8 = Suppl. Novum Testamentum, 82. ISBN 90-04-10454-2.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Fitzgerald hat einen Sammelband mit Vorträgen herausgegeben, die den Topoi der Freundschaft ("philia"), der Schmeichelei (ÎÔÏÎÂ) und der Offenheit ("parresia") in der hellenistisch-römischen Welt gewidmet sind. Die elf Autoren gehören der Society of Biblical Literature’s Hellenistic Moral Philosophy and Early Christian Group an, zu deren Einrichtung A. J. Malherbe im Jahre 1990 einen wichtigen Anstoß gab. Das Buch wendet sich vornehmlich an Neutestamentler, Patristiker, klassische Philologen und Philosophie- und Sozialhistoriker.

In drei Abteilungen werden folgende Gebiete beleuchtet: (1) Freundschaft usw. in der hellenistisch-römischen Welt; (2) Terminologie der Freundschaft im Philipperbrief; (3) "Parresia" im Neuen Testament.

Ein demnächst erscheinender weiterer von F. herausgegebener Sammelband: Greco-Roman Perspectives on Friendship (SBLRBS) wird das Thema in einen größeren historischen Rahmen stellen, der von der voraristotelischen griechischen Welt bis zu Cicero-Philo-Plutarch reicht und den hellenistischen Roman einschließt. Hinzuweisen ist auf ein paralleles Forschungsinteresse im Bereich des Frühjudentums: die neue Beschäftigung mit der Freundschaft im Sirachbuch (Freundschaft bei Ben Sira. Beiträge des Symposions zu Ben Sira Salzburg 1995, hrsg. v. F. V. Reiterer BZAW 244, Berlin-New York 1996). Eine Verbindung beider Blickrichtungen ist ein Desiderat. Sie würde einerseits die Frage nach der Art der Beeinflussung des Verständnisses von Freundschaft bei Sirach durch die hellenistische Kultur in Jerusalem um 200 v. Chr. einer Klärung näher bringen und andererseits die Stellung des Paulus zwischen Judentum und hellenistisch-römischer Kultur an einem wichtigen Punkt, seinem Freundschaftsverständnis, präzisieren. Schließlich könnte auf einer die großen integrativen Lexikonartikel "Freundschaft" (RAC 8, 1972, 418-434, K. Treu) und "philos ktl". (TWNT 9, 1973, 112-169, G. Stählin) differenzierenden Ebene wieder ein zusammenhängendes Bild der Semantik, der Vorstellung und der Realität von Freundschaft in der hellenistisch-römischen Antike, zu der auch frühes Judentum und Urchristentum sowie Alte Kirche gehören, erstellt werden.

Der erste Teil ist dem Thema Friends, Flatterers, and Frank Speech in the Greco-Roman World gewidmet.

1. D. Konstans Eröffnungsbeitrag: Friendship, Frankness and Flattery (7-19) hat dies Gesamtbild im Blick. Er untersucht Aufkommen und Bedeutung der Trias in der hellenistischen Moralphilosophie und verfolgt die Geschichte der Trias bis zu den Kirchenvätern und dem spätantiken paganen Rhetor Themistios (ca. 317-388 n. Chr.). Interessant und gerade im Hinblick auf Jesus Sirach wichtig für die historische Zuordnung ist Konstan’s Analyse, die thematische Trias von Freundschaft - Schmeichelei - Offenheit sei die Konstellation eines spezifischen kulturellen Augenblicks: eben (erst) des Hellenismus.

2. C. E. Glad beschäftigt sich in seinem Beitrag "Frank Speech, Flattery, and Friendship in Philodemus" (21-59) mit dem Epikureer und Epigrammatiker Philodemos aus Gadara (ca. 100-40/35 v. Chr.). Philodemos lebte seit den siebziger Jahren des 1. Jh. v. Chr. in Campanien, vorwiegend in Herculaneum, als Mitglied des Epikureerkreises um L. Calpurnius Piso und unterhielt enge Beziehungen zu der Epikureergruppe um Siro in Neapel. Philodemos’ und Siros Kreis zeichneten sich im Unterschied zu dem allgemeinen epikureischen Typus durch Interesse an literarischen und philosophischen Studien aus.

Durch den berühmten Papyrusfund von Herculaneum aus dem Jahre 1752/54 kennen wir (wahrscheinlich) die Bibliothek des Philodemos, in der sich auch zahlreiche eigene ethische Schriften des Philosophen finden (vgl. Anm. 3-5). F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, völlig neu bearbeiteten Ausgabe. Die Philosophie der Antike, hrsg. von H. Flashar, Basel 1994, 289-362 (M. Erler), gibt auf S. 295 ein alphabetisches Schriftenverzeichnis (vgl. 318 f. de adulatione, 319 f. de oeconomia, 321 f. de libertate dicendi). Mehrere Werke des Philodemos aus dieser Bibliothek behandeln den Themenzusammenhang von Freimut - Schmeichelei - Freundschaft. Glad zeigt an Texten aus den ethischen Traktaten "peri oikonomias/ peri hyperephanias/ peri parresias" (Quellenausgaben 30 Anm 40 f.) die Konstellation, unter der Philodemos die Thematik behandelt: der Philosoph als Freund des reichen Patrons, in dessen Hause lebend, wirtschaftlich von dem Patron abhängig, diesem sozial untergeordnet, als philosophischer Lehrer aber frei und gleichberechtigt neben dem Patron stehend. Diese fragile soziale, ethische, intellektuelle und emotionale Position verdankt sich einer bestimmten Größe: "the sole authority of the one who admonishes and the admonished one, of the doctor and the patient, is Epicurus ... The authority of others within the confraternity is predicated on their function or ability to heal and admonish others". Daher gibt es "diastratic solidarity, which allows even those of an inferior character and social position to admonish others" (59).

Das Rahmenkonzept solcher Freiheit in Abhängigkeit auf der Basis der Freundschaft, der Immunität gegenüber Schmeichelei auf der Seite des Patrons und der Offenheit und Wahrheitsliebe auf der Seite des Philosophen ist eine private und intellektuelle partizipatorische Psychogagie (58), die nicht soziale Revolution im Blick hat, sondern Überschreitung sozialer Grenzen im Zusammenhang der philosophisch-psychagogischen Freundschaft gebildeter Individuen.

Schon hier sei eine gewisse Nähe der epikureischen Freundschaft und ihres spezifischen Freiheitsverständnisses zum psychagogischen Weisheitsverständnis der frühjüdischen Weisheit (Oda Wischmeyer: Die Kultur des Buches Jesus Sirach, BZNW 77, 1995, 201-247) vermerkt.

3. T. Engberg-Pedersen (61-79) analysiert Plutarchs Traktat Quomodo adulator ab amico internoscatur. Der Traktat ist C. Iulius Antiochus Epiphanus Philopappos, dem Enkel des Königs Antiochos IV. von Kommagene, gewidmet. (Philopappos war 109 n. Chr. Suffektkonsul. Er ist durch sein aufwendiges Grabmal in Athen bekannt). Auf diese Widmung bezieht sich die erste These E.-Ps: es handele sich nicht um eine Routinewidmung, sondern dahinter stehe eine sehr persönliche Beziehung: "It ist not just a general ’essay’... It is a direct appeal clothed in general, philosophical dress" (64). Die zweite These knüpft an die vorangegangenen Aufsätze an. Der Essay entstand "in a specific social situation...: the relationship between a philosophical adviser (Plutarch) and a political leader (Philopappus). The work is political (not just an ’ethical’)". Trotzdem gilt auch drittens: "Adulator appeals throughout centrally to the ’moral system’" (64).

E.-P. zeigt detailliert am Text auf, wie eng der Zusammenhang zwischen den drei thematischen Begriffen bei Plutarch ist und wie diese Trias mit den ethischen Tugenden Vertrauen, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, Integrität und Charakterstärke sowie Treue verbunden ist. Der Schluß verweist auf die Bedeutung dieses Tugendensembles im Urchristentum (79).

Ein zweiter Teil des Sammelbandes untersucht nun das viel engere Thema: "Friendship Language in Philippians".

4. John Reumann liest den Philipperbrief, bes. Kap. 4 als "Letter of Friendship" (83-106). R. gibt einen Forschungsbericht zum Thema (bes. Betonung der Beiträge von K. Thraede und K. Berger). Gegenwärtig ist das Thema dicht besetzt (zuletzt die Monographien von B. Witheringon III und L. Bormann). Ein Rückblick auf die Kirchenväterexegese erinnert daran, daß gerade für die Kirchenväter "philia" eine wichtige Größe darstellt. Welche Schlüsse zieht R. aus dieser umfangreichen Präsentation der Forschung? (1.) Er warnt zurecht vor der Einordnung des Phil in die literarische Gattung der "epistole philike". Stattdessen plädiert er dafür, das Vokabular der Freundschaft und den Freundschaftstopos insgesamt in Phil wahrzunehmen. (2.) Aber auch hier urteilt er dann zurückhaltend: Das klassische Freundschaftsvokabular fehlt eben in Phil (z. B."koinonia" statt "philia"). (3.) R.s Erklärungsversuch ist meines Erachtens zutreffend und verdient besondere Beachtung: "The fuller social-world sense of friendship in antiquity makes the usuability of the philia topos questionable for Paul. It did not fit his role or self-understanding as apostle. Is that why he fails to use the terms or cite the rules? A ’society of friends’, Greco-Roman style, is not Pauline ecclesiology" (106). (4.) Weiterführend ist R.s Folgerung: "This is to suggest that at least some Philippians and Corinthians saw their relation to the itinerant preacher as that of patron and client - they the patrons, Paul and others the clients. Or they the clients, Paul the patron". Mir scheint das Erstere mindestens für Korinth interessant. - R.s differenzierte Vorgaben werden in den folgenden Beiträgen nicht immer genügend berücksichtigt.

5. K. L. Berry wählt den kleineren Ausschnitt: die Funktion der Freundschaftssprache in Phil 4,10-20 (107-124). Er betont die Motive der Nützlichkeit und der Selbstgenügsamkeit sowie der Gemeinsamkeit ("koina ta philon") der Freundschaft und verfolgt diese Topoi durch die griechisch-römische Philosophie seit Aristoteles.

6. A. J. Malherbe vertieft das Thema der Selbstgenügsamkeit von 4,11 (125-139): die "autarkeia". Um die Diskussion über die Herkunft dieses
Begriffes zu differenzieren, stellt M. den Terminus in den Zusammenhang der Freundschaftssprache in Phil. Teilhabe, Teilen, gegenseitiges Anteilgeben sind leitende Charakteristika des antiken Freundschaftsverständnisses. Das Autarkieideal der Kyniker und Pythagoräer ist meist von den intellektuellen und psychologischen Gewichten des Stoizismus befreit und kann von Menschen unterschiedlicher Bildungseinflüsse angenommen werden. In der Nähe dieses Ideals steht auch Paulus, ohne allerdings die Begriffe "philos" oder "philia" zu verwenden. M. gibt zwei Gründe für diesen eigenartigen Umstand an: Erstens ist möglicherweise Freundschaft zu "anthropozentrisch" für Paulus gewesen, zweitens hat er unter Umständen die "phil"-Bindungen nicht benutzt, weil sie stark mit der "philia" der Epikureer verbunden waren (letzteres ist unwahrscheinlich, da dieser Begriff in den jüngeren Weisheitsschriften des Alten Testaments als Äquivalent für bha gebraucht wird).

7. Der Herausgeber J. T. Fitzgerald betrachtet den Philipperbrief "In the Light of Some Ancient Discussions of Friendship" (141-160). Die eigene These des Aufsatzes ist folgende: "Throughout Philippians Paul ist seeking to elevate the Philippians’ understanding of friendship and place it on a higher plane" (157). Er bezieht die Freundschaft der Philipper auf die"arete" (4,8) und auf das Kriterium "axios" (1,27) und bindet sie an die Person statt an den Nutzen, damit steht er dem aristotelischen Freundschaftsverständnis nahe (157 f).

Der dritte Teil des Buches ist der ÚÚËÛ im Neuen Testament gewidmet. Allgemein verstehen die Autoren die ÚÚËÛ als einen Schlüsselbegriff, den die neutestamentlichen Schriften mit der politischen, rhetorischen und philosophischen Sprache der griechisch-römischen Welt teilen: Daher die neue ausführliche Behandlung des schon oft untersuchten Begriffs (vgl. Lit. 164 Anm. 1 ff.).

8. D. E. Frederickson untersucht die ""parresia" in the Pauline Epistles" (163-183) in Fortführung der Studien von A. J. Malherbe (163, Anm. 1). F. nimmt an, daß Paulus, seine Hörer und seine Kritiker "were well aware of the philosophic understandings of "parresia" (182). Paulus unterscheide sich aber von der philosophischen Tradition, wenn er die Themen Legitimation und Freundschaft verbinde, statt sie zu trennen. Die Verbindung von freimütiger, offener Rede und Freundschaft findet F. bes. in Phlm 8-9; 1Thess 2,1-12 und 2Kor 3.

9. G. C. Winter schreibt über "parresia" in Acts" (185-202) in Anknüpfung an W. C. van Unnik (185, Anm. 2). Ihr anregender Beitrag arbeitet anhand der zwölf Belege für "p". in der Apg den Unterschied zwischen Apg 2-4 und 28,31 heraus. Für 2-4 gilt: "Acts intends the term in its classical sense of public speech" (191), Jerusalem ist Polis, und Petrus spricht mit Autorität ("exusia") die Wahrheit. In Kapitel 28 verwendet Lukas die hellenistisch-philosophische Bedeutung der Vokabel: freie Diskussion im Philosophenkreis. Damit werden auch die römischen Juden von Lukas stark gegenüber den Jerusalemer Juden aufgewertet. Diesem Hinweis sollte man nachgehen.

10. A. C. Mitchell , S. J., bearbeitet die "p.". im Hebräerbrief (203-226). Er gibt einen ausführlichen Forschungsbericht und verbindet die Vokabel dann mit dem Hintergrund der angeschriebenen Gemeinde (pastorale Probleme in der "Hebräerbriefgemeinde").

11. W. Klassen schließt den Band mit der "p." im Corpus Johanneum ab (227-254). K. führt zunächst in den kynisch-stoischen "p."-Begriff ein (Erkennungsbegriff für Kyniker: Diog. Laert 6.69), untersucht dann glücklicherweise den Begriff in LXX und Pseudepigraphen (neben der demokratisch-politischen und philosophischen hier auch eine theologische Bedeutung: "God’s activity among the people", 239) und behandelt dann das Joh (drei Bedeutungen: 1. "public versus private", 2. "plain against obscure" 3. "bold or courageous against timid", d. h. ""parresia" ... has a totally different connotation than it does in any of the Cynic sources" 245) sowie den 1Joh ("John does not pick up the motif of the importance of speech found so much in popular ethics of the first century and indeed in the rest of the NT", 253, "Instead, John is theologically directed and seems to see "parresia" almost exclusively in terms of the divine-human encounter", 254). K. sieht die Übernahme geläufiger hellenistischer Termini wie "euaggelion" oder "parresia" durch die christlichen Schriftsteller des 1. Jh.s, betont aber ihr eigenes Bedeutungsprofil und setzt die "p." in den johanneischen Schriften von der kynischen "p." deutlich ab (allgemein gegen Crossan).

Zum Abschluß sollen noch zwei allgemeine Anmerkungen zu dem sehr anregenden Band stehen:

Die Beiträge bewegen sich auf dem Feld der historischen Semantik. Dies Feld ist maßgeblich von einigen instrumenta studiorum geprägt (TWNT, RAC, C. Spicq, Notes de lexicographie Néotestamentaire. 2 Bde. OBO 22/1.2, Göttingen-Fribourg, 1978). Neue Untersuchungen auf diesem Feld sollten die vorliegenden Studien stets sorgfältig prüfen, bevor sie eigene neue Textbefragungen anstellen.

Den Beiträgen liegen mindestens latent ungeklärte Beeinflussungsmodelle zugrunde. Hier vermißt man nun explizite methodische Reflexion unter dem Thema: "Analogie oder Genealogie". Die seit A. Deißmann geführte Debatte ist im "Neuen Wettstein" von G. Seelig (Neuer Wettstein. II. 1. 2, Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, hrsg. G. Strecker u. U. Schnelle, Berlin-New York, 1996, II 1, XX ff.) neu aufgegriffen worden. Symposien und Aufsatzbände wie der vorliegende würden an Evidenz gewinnen, wenn sie zu diesem Thema deutlich Stellung bezögen. Ein vages implizites Umfeld- bzw. Einflußmodell läßt sich selten fruchtbar auf semantische Einzelfragen anwenden. Den Ergebnissen haftet leicht etwas Zufälliges und Selektives an.

Bei Symposien wie dem hier besprochenen ergeben sich naturgemäß viele Überschneidungen und Wiederholungen. Eine gewisse Straffung (wenigstens in den Literaturangaben) und eine abschließende Würdigung und Ergebnissicherung wäre bei der heutigen Publikationsflut erforderlich.

Das anregende Sammelwerk hat einen weiteren Effekt, nämlich die Neutestamentler von den sekundären Studien ad fontes zu rufen.