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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

643 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schorch, Stefan

Titel/Untertitel:

Die Vokale des Gesetzes. Die samaritanische Lesetradition als Textzeugin der Tora. Bd. 1: Das Buch Genesis.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. X, 304 S. m. Tab. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 339. Lw. Euro 88,00. ISBN 3-11-018101-0.

Rezensent:

Markus Witte

Dass die hebräischen Bibeltexte zunächst nur in Gestalt ihres Konsonantengerüstes überliefert wurden und die Einfügung der Vokalzeichen erst auf verschiedene Schulen der Masoreten im 7. bis 9. Jh. n. Chr. zurückgeht, gehört zu den Grundeinsichten der neuzeitlichen Textkritik und dürfte (noch) zu den Elementen der Allgemeinbildung gehören. Umstritten ist hingegen die Frage, ob und inwieweit die masoretische Vokalisation auf der Vokalisationspraxis der ältesten Texttradenten beruht. Sprechen allein schon 1. die Tatsache, dass auch Texte, bei denen lediglich der Konsonantenbestand überliefert wird, selbstverständlich vokalisiert wurden, 2. der aktive Gebrauch des Hebräischen bis mindestens in das 2. Jh. n. Chr. (vgl. die hebräisch abgefassten Briefe aus der Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes) und 3. die Transkription hebräischer Texte in antiken griechischen und lateinischen Übersetzungen gegen die Annahme eines völligen Traditionsabbruches zwischen der Verschriftung des Originaltextes und dessen Vokalisation, so kann die vorliegende Studie nun anhand der Lesetradition in der samaritanischen Gemeinde die grundsätzliche Beständigkeit und Zuverlässigkeit der masoretischen Vokalisierung wahrscheinlich machen.

Im Mittelpunkt der Arbeit, die auf die von Frank Crüsemann (Bethel), Reinhard Pummer (Ottawa/Kanada) und Adrian Schenker (Fribourg/Schweiz) betreute Habilitationsschrift des Vf.s zurückgeht, stehen eine in dieser Form bisher nicht vorliegende texthistorische Rekonstruktion der fast ausschließlich mündlich tradierten Lesetradition des samaritanischen Pentateuchs, die Bestimmung ihres Verhältnisses zur masoretischen Vokalisation, wie sie durch die Biblia Hebraica Stuttgartensia repräsentiert wird, und die Erhebung des Beitrages der samaritanischen Lesetradition für die alttestamentliche Textkritik. Nach einer ausführlichen forschungsgeschichtlichen Einführung und klaren methodologischen Grundlegungen bezüglich der Differenzen zwischen schriftlicher und mündlicher Tora (d.h. zwischen Konsonantengerüst und Vokalisation) sowie der Verlässlichkeit einer oralen Lesetradition bietet der Vf. im Hauptteil seiner Studie (88-244) für das Buch Genesis eine kommentierte Zusammenstellung aller vokalisationsbedingter inhaltlich bedeutsamer ("sememischer") Differenzen zwischen dem samaritanischen Pentateuch und der masoretischen Tora. Ausgeklammert sind sämtliche Varianten, die sich zum einen im Konsonantengerüst, zum anderen - bei Bedeutungsidentität - in der Phonetik und in der Morphologie finden. Auf der Basis des ausgewerteten handschriftlichen Materials des samaritanischen Pentateuchs, dessen älteste Manuskripte bis in das 9. Jh. n. Chr. reichen, der aramäischen und der arabischen Übersetzung des samaritanischen Pentateuchs und umfangreicher Feldforschungen in samaritanischen Gemeinden lässt sich ein sehr hohes Maß an Überlieferungskontinuität in der Vokalisation wahrscheinlich machen. So können nach den vorgelegten Analysen sowohl der samaritanische als auch der masoretische Text als Grundlage einer Rekonstruktion der Vokalisierung des Originaltextes verwendet werden, wenngleich den 72,3 % (d. h. 318 Fälle), in denen der masoretische Text im Buch Genesis die wahrscheinlichere Lesart bietet, nur 16,8 % (d. h. 74 Fälle), in denen der Samaritanus den vermuteten Urtext darstellt, gegenüberstehen und der masoretische Text insgesamt den Urtext zuverlässiger als der Samaritanus bewahrt hat. Dieses Ergebnis trifft sich mit analogen Untersuchungen zu den präsamaritanischen und prämasoretischen Textformen, die über die Funde in Qumran bekannt sind und die in der anzuzeigenden Studie ebenso wie die Septuaginta, deren Vokalisationsdifferenzen hier gleichfalls diskutiert sind, in angemessener Weise gewürdigt werden.

Das Werk schließt mit Überlegungen zu hermeneutischen und kanonsgeschichtlichen Implikationen der vorgeführten Thesen und zwei Übersichten: 1. zu den 31 Lesevarianten, die gegenwärtig in der samaritanischen Tradition der Toralesung feststellbar sind, und 2. zu den 440 analysierten Vokalisationsdifferenzen zwischen dem samaritanischen und dem masoretischen Text im Buch Genesis. Beigegeben sind die üblichen Register (Literatur, Stellen, Personen). Die Studie bietet nicht nur einen philologisch sorgfältig angelegten, wichtigen Beitrag zur alttestamentlichen Textgeschichte und Textkritik, sondern vermittelt darüber hinaus sehr bedenkenswerte Ausführungen zur Kultur- und Religionsgeschichte des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit. Hervorzuheben sind hier vor allem 1. die überzeugende Verortung unterschiedlicher Lesetraditionen im ausgehenden 2. Jh. v. Chr., 2. deren Verknüpfung mit einer sich etablierenden "lektionalen Kultur" im 2./1. Jh. v. Chr., die pointiert als eine "religiöse Medienrevolution" (61) gedeutet wird, und der dadurch bedingten sozialgeschichtlichen Veränderung der für die Überlieferung zuständigen Trägerkreise, 3. die Darstellung des Text- und des Selbstverständnisses der samaritanischen Gemeinde. So leistet das Werk insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Samaritaner, deren endgültige Ablösung von der Jerusalemer Kultgemeinschaft überzeugend mit der 128 v. Chr. erfolgten Zerstörung des Heiligtums auf dem Garizim bestimmt wird. Dieses Jahr wird nach dem Vf. gleichzeitig zur Geburtsstunde der genuinen samaritanischen Lesetradition als einer wesentlichen Form der Identitätsfindung der samaritanischen Gemeinde.

Das Buch verhilft zu einem vertieften Verständnis spezifischer, sich im samaritanischen Pentateuch niederschlagender sprach- und auslegungsgeschichtlicher Differenzierungen in den israelitisch-jüdischen Traditionskreisen des 2./1. Jh. v. Chr. und bietet im Blick auf die Exegese des Buches Genesis eine äußerst hilfreiche, handbuchähnliche Übersicht der vokalisationsbedingten Varianten zwischen dem samaritanischen und dem masoretischen Text. Schon jetzt darf sich die hebraistische und exegetische Forschung auf die vom Vf. angekündigte Fortsetzung seines Werks freuen, die dann den Büchern Exodus bis Deuteronomium gewidmet sein und weitere 1660 von ihm (bisher) festgestellte inhaltlich relevante Vokalisationsunterschiede zwischen samaritanischem und masoretischem Text diskutieren wird.