Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

640–642

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Milgrom, Jacob

Titel/Untertitel:

Leviticus. The Book of Ritual and Ethics. A Continental Commentary.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2004. XX, 388 S. m. Abb. u. Tab. gr.8. Lw. US$ 30,00. ISBN 0-8006-9514-3.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

In der Reihe der "Continental Commentaries" steht dieser Band etwas für sich. Nicht nur, weil in ihr bisher nur Übersetzungen deutschsprachiger Kommentarwerke erschienen sind, sondern weil man feststellen muss, dass dies, wenn ein Kommentar, doch einer von besonderer Art ist. M. hat schon ein umfangreiches, für das Buch Leviticus und seine Thematik bahnbrechendes Kommentarwerk publiziert: die drei Bände in der "Anchor Bible" (Bd. 3 "Leviticus 1-16", 1991; Bd. 3A "Leviticus 17- 22", 2000; Bd. 3B "Leviticus 23-27", 2001). In vieler Hinsicht fußt das neue Buch auf diesem Kommentar. So setzt es etwa die Datierung der Pentateuchquellen P und H (P vorexilisch, H hat P redigiert) und auch manche literarkritische Entscheidung im Einzelnen voraus. Das Buch ist kein vollständiger Kommentar, sondern zielt, wie bereits die Unterüberschrift andeutet, in eine bestimmte Richtung: Es will einer breiteren Leserschaft die Aktualität des Buches Lev zeigen. Der Ratschlag an die Leser, eine offene Bibel, gleich welcher Übersetzung, bei der Lektüre vor sich zu haben und anhand seiner "Selected Texts" zu studieren (XIII), deutet auf die pädagogische Absicht. Die Aufgabe ist nicht leicht, denn der rituelle Inhalt des Buches lässt es für protestantische und erst recht moderne liberale Christen (M. schildert im Vorwort [XI-XIII] seine Erfahrungen mit dem baptistischen Kanzler eines Seminars) irrelevant oder gar anstößig erscheinen. Bis ca. 1990 sei nur ein einziger vollständiger Kommentar ("in German" [XI] - gemeint ist offensichtlich K. Elliger, HAT, 1966) erschienen.

In der "Introduction" (1-16) werden sogleich die Positionen festgelegt. Auf die Frage: "Can Critical Scholarship Believe in the Mosaic Origins of the Torah?" (Überschrift, 1) antwortet M. mit dem rabbinischen Traditionsgedanken (illustriert durch die bekannten Midrasch-Geschichten über Mose im Lehrsaal R. Aqibas und R. Jannais), der auch auf die Bibel selbst anzuwenden sei: Auch jüngere Stücke des Pentateuchs setzen die mosaische Tradition fort. - Unter anderem auf die anthropologischen Arbeiten zu Lev von Mary Douglas gestützt (XII u. ö.), von der er auch die Theorie einer Ringstruktur des Buches übernimmt (6-8 u. Fig. 1), vertritt M. weiterhin seine These über die priesterliche Theologie von P in Lev 1-16 (8-16). Nach M. unterscheidet sie sich grundlegend von der heidnischen altorientalischen Religion, indem sie die Existenz eines einzigen Gottes behauptet und dadurch mit der dort herrschenden Dämonenfurcht aufräumt. Rituale dienen deshalb nicht mehr der Dämonenabwehr. Physische Unreinheit (Schuppenkrankheit [Lev 13-14], genitale Ausflüsse [Lev 15] usw.) ist nicht durch Dämonen verursacht, sondern durch körperliche Vorgänge und deshalb harmlos. Reinigungsriten erfolgen erst nach der Heilung. Bei Ausflüssen beseitigt bloße Waschung die Unreinheit, die höchstens für berührte Gegenstände ansteckend ist, nicht für die betroffenen Personen selbst. Selbst der Sündenbock (einst der Dämon Asasel) ist nur noch "the symbolic vehicle for dispatching Israel's sins to the wilderness" (10). Auch das Heilige ist nicht mehr (wie in 1Sam 6,19; 2Sam 6,6-7; Ex 19,12-13; Lev 10,1-2) bei Berührung tödlich. Dies alles seien Aspekte einer "priestly reform" (11). Ganz überzeugen kann allerdings diese Apologetik nicht. Die Rituale (z. B. in Lev 1) verraten doch stark ihren magischen Ursprung, den auch die rahmende Jahwesierung nicht zu verwischen vermag. Doch das kann nur die Einzelexegese zeigen.

Radikal ist auch M.s Urteil über die Rituale in Lev 1-16: Sie "make sense only as aspects of a symbolic system" (11). Die Gleichung "Unreinheit = Tod"/"Heiligkeit = Leben", verbunden mit der Gleichsetzung von Blut und Leben, ist die Grundlage der rituellen Symbolik. Wenn dem Heiligtum Unreinheit und damit Gott Vertreibung droht, liegt die Ursache nach priesterlicher Theologie in menschlicher Schuld. Das Reinigungsopfer (Lev 4,1- 5,13) schafft Abhilfe. Das Schuldopfer Lev 5,14-26 ist ein Beispiel dafür, dass ethische Forderungen einen zentralen Platz in der Opferinterpretation bei P einnehmen. 5,6-13 bezeugt den sozialen Aspekt der Fürsorge für die Armen: Wer nicht mehr hat, kann Vögel oder nur Zerealien opfern.

Zum Opfersystem in Lev 1-7 generell (17-20): "the system of sacrifice provided a metaphor, a method, to reach God, responding to the deep psychological, emotional, and religious needs of the people" (17). Die heidnische Vorstellung, dass die Götter Nahrung benötigten, sei überwunden [vgl. aber den Schaubrottisch, u. a. Ex 24,23-30!]. Zu dem Einwand moderner Tierschützer gegen das Schlachten von Opfern: Da das Blut, in dem das Leben war, nicht geopfert wurde, sondern ausgeschüttet zu Gott zurückkehrte, war keine Schuld damit verbunden. Die Unverletztlichkeit von Leben war der Grund solcher Bestimmungen (18).

M. geht dann die Opferarten in Lev 1-7 (Opfersystem) einzeln durch nach dem System: "Selected Themes" (u. a.: nochmals Gegensatz zu den Heiden, Partnerschaft mit den Laien, das Opfer des Armen usw.) und "Selected Texts" (hier werden einzelne Verse erklärt, kein durchlaufender Kommentar). Weitere Abschnitte folgen der Gliederung des Buches: Die Inaugurationskapitel Lev 8-10; das System der Unreinheit Lev 11-16 (unterteilt in einen längeren Hauptabschnitt über Themen und anschließend Textbeispiele). Das Gleiche setzt sich für die Quelle H fort, eingeleitet durch den Abschnitt "YHWH in H: A Survey" (176-183), welcher das Heiligkeitsgesetz thematisch stark von P abhebt.

Eigenheiten von H sind: Der Dienst für andere Götter wird nicht verboten, außer der Molek-Dienst (20,1-5). Interesse für die Armen fehlt (außer bei der Ernte: 19,9-10; 23,2). Weshalb, meint M., bleibe offen - es gab sie doch reichlich! P spricht nur von der Verunreinigung des Heiligtums, H von der des ganzen Landes (18,24b-25), denn das ganze Land ist heilig. Gegen Mischehen wird weder in P noch in H polemisiert. Grund: Sie waren in vorexilischer Zeit nicht verboten, gefährlich wurden sie erst für die wenigen Rückkehrer aus dem Exil, weil Assimilation drohte.

Charakteristisch ist M.s Urteil zur Homosexualität. Nach Lev 18,22; 20,13 ist sie verboten. Ihre modernen Gegner können sich aber darauf nicht berufen, denn 1. richtet sich das Verbot nur an Israel und 2. gilt es nur im Heiligen Land, außerhalb und für andere Nationen nicht. Lesbianismus wird nicht erwähnt, deshalb ist er auch nicht verboten. Die Hälfte der Weltbevölkerung ist weiblich, von den schwulen Männern sind über 90 Prozent Nichtjuden. "While the Bible never applauds homosexuality, neither does it prohibit most people from engaging in it" (197). Eine bemerkenswerte Kombination von rabbinischer Kasuistik und Konzession an den Zeitgeist!

Zum Thema "Molek-Opfer" äußert sich M. mehrfach, besonders zu 20,1-6 (246 f.): Kinderopfer an den Unterwelt-"König" (Melek) war Ahnenkult. Viele hielten ihn für legitim neben dem Dienst für den Himmels-Gott YHWH. Für H - der das Gebot der Heiligkeit auf jedermann ausdehnte- war beides unvereinbar. Ein weiterer Unterschied zwischen P und H: P kennt Sinaioffenbarung und Bund nicht, sondern nur YHWHs Herabkommen zum Heiligtum auf der Wolke. H übernimmt nach Lev 26 Sinaioffenbarung und Bund (mit den Patriarchen und am Sinai).

Manche der vertretenen Thesen erfordern weitere Diskussion. Mit der Methode der Auswahl von Leitthemen und Leittexten gelingt es M. als unübertroffenem Kenner jedoch, einen guten Überblick über den Inhalt des Buches Lev zu vermitteln. Und er zeigt, dass dieses biblische Buch nicht belanglos ist, sondern wichtige theologische Aussagen enthält.

Ein jüdischer Forscher, der in der Tradition der Tora verwurzelt ist, kann sicherlich unbefangener diesem Stoff gegenübertreten, auch wenn die Opferpraxis im Judentum mit dem Untergang des Tempels bereits der fernen Vergangenheit angehört. Wenn man eines von diesem Meister lernen kann, dann, dass man sich auch in der christlichen Exegese eingehender mit ihm beschäftigen muss.