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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

638–640

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Loretz, Oswald

Titel/Untertitel:

Psalmstudien. Kolometrie, Strophik und Theologie ausgewählter Psalmen.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. X, 441 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 309. Lw. Euro 118,00. ISBN 3-11-017578-9.

Rezensent:

Karin Schöpflin

Der Band umfasst 13 teils bereits andernorts publizierte Studien zu Einzelpsalmen (1; 2; 3; 6; 11; 13; 72; 81; 82; 88; 127; 137; 149) und zwei übergreifende Beiträge ("Politische Theologie des Königtums in Ugarit, Kleinasien, Assur und Israel: das juridische Theorem The King's Two Bodies"; "Zur Zitat-Vernetzung zwischen Ugarit-Texten und Psalmen. Anmerkungen zu einem Werk von Y. Avishur"; dabei kommen Ps 2,7; 45,7; 110,3 bzw. 29,10 f. und 77,14-21 zur Sprache). Erklärtes Ziel ist es, anhand der Einzeluntersuchungen generelle Probleme der Psalmenforschung zu behandeln. Die Studien wollen "philologisch-kolometrisch" orientierte Kommentierungen von Psalmen mit Ausrichtung auf Probleme der Intertextualität bieten (2). Dies "stützt sich auf die allseits akzeptierte Erkenntnis, dass der Psalter als Endstufe eines langen literarischen Werdeprozesses zu verstehen ist. Als Spätlinge innerhalb der altorientalischen Literaturgeschichte spiegeln Psalmen nicht nur sprachliche Formen, Bilder, Symbole und theologische Anschauungen aus der altorientalischen Umwelt wider, sondern in besonderem Maß altsyrisch-kanaanäische literarische Traditionen ..." (2). L. findet in ugaritischen Texten "einen Maßstab für die Bewertung der poetischen Formen und der Grammatik der Poesie der Psalmen" (2): "Die ugaritische Poesie ... macht uns auf die Tatsache aufmerksam, dass der Parallelismus membrorum in einen größeren formalen Zusammenhang - wie z. B. Rhythmus, poetische Grundeinheiten (Kola, Bikola, Trikola) usw. - eingebettet ist" (3). Die kolometrische Gliederung soll am Anfang der Analysen stehen, um von formalen poetologischen Kriterien auszugehen, nicht von inhaltlichen (4).

Dementsprechend enthalten die Beiträge jeweils einen kolometrisch gegliederten Abdruck des hebräischen Textes in unvokalisierter Umschrift und deutscher Übersetzung. Das Druckbild kennzeichnet durch Klammern und Schrifttypen Wörter und Abschnitte, die aus dem kolometrischen und strophischen Aufbau herausfallen und die L. deshalb als Glossen oder Zusätze bewertet. Anschließende Anmerkungen erläutern Textgestalt, sprachliche und inhaltliche Probleme unter Berücksichtigung von Forschungspositionen. Hinzu kommen Überlegungen zur Herkunft der Texte und die Frage nach möglicher Intertextualität, die L. schwerpunktmäßig im Blick auf altorientalische Dichtung stellt.

Teils erhellt L. auf Grund ugaritischen Vergleichsmaterials unklare, umstrittene hebräische Wortbedeutungen (mth; cj. *'qh; 'tq, Ps 6,7b-8; hlb Ps 81,17; hpsy Ps 88, 6). Diese Vergleiche mit ugaritischem Material erbringen als allgemeinen Ertrag, "dass Parallelisierungen ugaritischer und biblischer Stellen auf ein ungenügendes Verständnis sowohl ugaritischer als auch biblischer Texte gegründet sein können" (99), aber auch, "dass die oft gleich gearteten stilistischen, kolometrischen und philologischen Probleme auf ugaritischer und hebraistischer Seite sich gegenseitig beleuchten und trotz aller zeitlich bedingten Differenzen eine gemeinsame literarische Tradition bezeugen" (99). Ferner konzentriert sich L. auf Motive und Vorstellungen in den Psalmen, die altorientalische Prägung verraten. So erklärt er den so genannten "Stimmungsumschwung" in Ps 6 knapp, in Ps 13 ausführlich vor dem Hintergrund des Rechtsfalls des Menschen vor dem göttlichen Tribunal in sumerisch-akkadischer Literatur: Der Klagende bitte die Gottheit um eine Revision ihres Urteils; es liege kein Umschwung vor, sondern ein Ausbau des Grundvertrauens des Beters, in der Gottheit einen gerechten Richter zu finden.

Wie ein roter Faden durchzieht die meisten Einzelstudien die These des anthologischen Charakters dieser Psalmen: Nachexilische Schriftgelehrte haben Zitate aus älterer Poesie, die mit altorientalischen Traditionen konform geht, zusammengestellt und erweitert bzw. Auszüge aus verschiedenen Gedichten verknüpft und redaktionell gedeutet. So erklärt L. Ps 1 als eine kommentierte anthologische Kette von Zitaten (21). Ps 2 zitiere aus zwei Vorlagen (in 1-5.10-11 aus einem längeren Gedicht über das Tun feindlicher heidnischer Könige gegen Israel; in 6-9 aus einem Jerusalemer Königsritual), die durch 2,2b redaktionell verbunden und mit V. 12 abgerundet wurden. Ähnlich sei Ps 72 zusammengesetzt aus zwei Motivketten, nämlich der Gerechtigkeit des Königs (1b-2.4.12-14) und der Fruchtbarkeit der Natur (3.5-9.11), die eine nachexilische Redaktion zu einem Lob des messianischen Königs verbunden habe. In Ps 3 entdeckt L. den Torso eines Klagelieds eines Einzelnen (3,2. 4-6.8); dieser sei midraschartig durch die Verbindung mit der Davidsgeschichte historisiert und dann nachexilisch auf die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Gegnern gedeutet. Für Ps 127 nimmt L. an, dass nachexilische Schriftgelehrte die drei Strophen (V. 1.3-4.5; V. 2 fällt als prosaische Kommentierung heraus) wohl verschiedenen Dichtungen entnahmen und redaktionell zu einem Lob der Ausschließlichkeit und Unvergleichlichkeit Yahwehs verbanden. Ein ähnliches "Zitatenpatchwork" bildet auch Ps 137 (drei thematisch unabhängige Blöcke V. 1-4.5-6.7-9 als Fragmente aus verschiedenen Liedern, die die Jerusalem-Zion-Thematik zusammenhalte).

Ein weiteres Leitmotiv des Bandes ist die Beschäftigung mit Gunkels Psalmenauslegung, die immer wieder zu Wort kommt, besonders bei der Betrachtung der Psalmen 88; 137 und 149. L. stellt Gunkels Verhaftung im Historismus seiner Zeit heraus, die ihn veranlasste, einen einzelnen Verfasser und damit eine grundsätzliche Einheitlichkeit der Psalmen anzunehmen, was zu einer Frühdatierung in vorexilische Zeit führte. Vorbildlich sei jedoch Gunkels Bestreben, die Psalmen im Kontext altorientalischer Dichtung zu betrachten, was heute auf Grund der Kenntnisse ugaritischer Texte in höherem Maße möglich ist. L. kritisiert ferner die Versuche Dahoods (und Avishurs), mittels ugaritischer Analogien eine Frühdatierung der Psalmen abzusichern. Sie verkennen den anthologischen Charakter der nachexilischen Lieder, deren Zitat-Praxis einen umfangreichen Bestand an heute verlorenem Liedgut ahnen lasse. Vorbehalte hegt L. zudem gegenüber den Spielarten der kanonischen Auslegung des Psalters.

Die Sammlung bietet insgesamt wertvolle, kenntnisreiche Einblicke in Berührungspunkte zwischen Psalmen und altorientalischer, vor allem ugaritischer Dichtung und Gedankenwelt. L. erhellt zweifellos einzelne dunkle Punkte mit Hilfe ugaritischen Vergleichsmaterials und wirft damit neues Licht auf die bearbeiteten Psalmen. Kolometrie als formales Kriterium über den Parallelismus membrorum hinaus erscheint überaus sinnvoll, auch um damit Überfüllungen einzelner Verse und prosaischen Einschüben auf die Spur zu kommen, wie L. es tut. Zur Differenzierung und Datierung der so gewonnenen Strophen bedarf es dann allerdings doch inhaltlicher Überlegungen, vgl. die Argumentation zur Aussonderung von Ps 82,5 (262) oder die Herleitung der drei thematisch unabhängigen Blöcke in Ps 137 aus verschiedenen Liedern.

Die tragende These des anthologischen Charakters der meisten behandelten Psalmen will einem zu Recht vorausgesetzten Entstehungsprozess der Lieder Rechnung tragen und die Verbindung archaisch kanaanäischer und offenkundig nachexilischer Motive erklären. Wenn L. etwa in Ps 82,2-4 ein evtl. vorexilisches Bruchstück prophetischer Sozialkritik findet und 82,1.6-7 als einer Erzählung über einen Vorfall in der himmlischen Engelwelt entnommen sieht (wobei V. 1 das alte Motiv einer Götterversammlung unter Vorsitz des höchsten Gottes enthalte, 6 f. hingegen die jüngere Vorstellung einer Verurteilung der Götter, die versagt haben), fragt man sich aber, ob es sich zwingend um wörtliche Zitate aus schriftlich vorliegender älterer Dichtung handeln muss. Besonders problematisch erscheint dabei die Annahme, dass vor V. 1 ein Teil des älteren Gedichts fehle, der das Gerichtsverfahren schilderte. Ebenso gut mag man an die Auswahl von Motiven aus selbstverständlich bekannter älterer gemeinaltorientalischer Tradition denken, die dichterisch verarbeitet wurden - und das nicht unbedingt in älterer Zeit. So mag auch ein "Bruchstück" wie Ps 82,2-4 durchaus prophetischer Sozialkritik nachempfunden sein. Doch ist es in jedem Falle das uneingeschränkte Verdienst dieser Sammlung, Verbindungslinien zwischen ugaritischer und alttestamentlicher Dichtung aufzuzeigen.