Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

626–629

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Humbert, Jean-Baptiste, et Jan Gunneweg

Titel/Untertitel:

Khirbet Qumrân et 'Aïn Feshkha. Vol. II: Études d'anthropologie, de physique et de chimie. Studies of Anthropology, Physics and Chemistry.

Verlag:

Fribourg: Academic Press; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. XXVI, 483 S. m. zahlr. Abb. 4 = Novum Testamentum et Orbus Antiquus. Series Archaeologica, 3. Lw. SFr 230,00. ISBN 3-7278-1452-7 (Academic Press); 3-525-53973-8 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Jürgen Zangenberg

"All bits help to complete the puzzle", schreibt Jan Gunneweg zu Beginn seiner Einleitung "Archaeology and Archaeometry at Qumran" - ein treffender Satz, wenn man die bisherige Publikationslage der nichtschriftlichen Funde von Qumran betrachtet, deren wissenschaftliche Diskussion ja seit jeher durch die höchst unvollständige Materialbasis erschwert worden ist. Diese Ära ist endgültig vorbei. Nach der dokumentarischen Vorlage der Grabungstagebücher Roland de Vaux' mit Photographien und Plänen (Qumran I bzw. IA und IB) legen Jean-Baptiste Humbert (École Biblique et Archéologique de Jérusalem) und Jan Gunneweg (The Hebrew University of Jerusalem) nun einen weiteren Band mit vor allem naturwissenschaftlichen Analysen der Funde und Befunde vor, die während der Grabungen de Vaux' zu Tage traten. In neun Teilen mit insgesamt 21 Kapiteln wird ein immenses Spektrum an Daten präsentiert, das hier freilich nur kurz vorgestellt werden kann.

Völlig zu Recht steht die Analyse der Keramik, des zweifellos größten Fundkomplexes von Qumran, am Anfang des Bandes (Teil 1, Kapitel I-III, 3-104: J. Gunneweg, M. Balla; J. Michniewicz, M. Krzysko; K. L. Rasmussen). Während die systematische Materialvorlage der Keramik einem in Vorbereitung befindlichen Band III vorbehalten bleibt, stehen in Qumran II deren chemisch-physikalische Aspekte im Mittelpunkt. Die an einer Auswahl an Keramikfragmenten, darunter auch Exemplaren der so genannten "scroll jars", mit unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Methoden durchgeführten Untersuchungen geben faszinierende Einblicke in die regionale Einbettung Qumrans. So lassen sich mindestens vier Herkunftsorte der in Qumran verwendeten Keramik einschließlich der "scroll jars" (Qumran selbst, Jericho, Jerusalem-Region und Ostseite des Toten Meeres) feststellen, der Ort war also weder isoliert noch hielten sich die Bewohner von regionalen Kontakten fern.

In Teil 2 (Kapitel IV-VII, 105-189) stehen die Friedhöfe von Qumran im Mittelpunkt. Die systematische Untersuchung der bisher ergrabenen und publizierten Gräber nach Lage, Typologie, Inhalt und der Bestimmung der menschlichen Überreste durch J. Norton orientiert über das verfügbare Material und führt in aktuelle Forschungsfragen ein. S. G. Sheridan, J. Ullinger und J. Ramp präsentieren die Inhalte von 18 Gräbern ("French Collection", alle männlich), warnen aber gleichzeitig vor allzu weitreichenden Rückschlüssen aus den wenigen bisher erforschten Gräbern. C. Clamer publiziert und analysiert die Schmuckobjekte aus Grab 32 und 33 und bezweifelt, dass diese Bestattungen aus derselben Zeit und Kultur stammen wie die übrigen Gräber. K. L. Rasmussen, R. Gwozdz, J. E. Taylor und G. Doudna ziehen aus dem auffallend hohen Anteil an chemischen Spurenelementen in acht Knochenproben den Schluss, dass diese Individuen kaum Langzeitmitglieder einer Gruppe waren, die gemeinsame Speisen zu sich nahmen.

Teil 3 (Kapitel VIII-X, 191-204) stellt die wenigen bisher an Material aus der Siedlung erhobenen Radiokarbondaten zusammen und ergänzt sie um drei weitere Proben. Die Untersuchungen bestätigen die Besiedlung Qumrans zumindest während des 1. Jh.s n. Chr. und die etwa gleichzeitige Nutzung der Höhlen. Die Autoren von Teil 4 (Kapitel XI-XII, 205-288), allen voran Mireille Bélis, bieten eine detaillierte Analyse der in Qumran gefundenen und erhaltenen Textilien im Hinblick auf die verwendeten Webmaterialien, die Herstellungsweise, zu Färbung und Färbematerialien und der Datierung. Teil 5 (Kapitel XIII- XIV, 289-337) widmet sich mit den "Stufenbecken" einer speziellen Architekturgattung, die immer wieder als Beleg des essenischen Charakters Qumrans angeführt wird. K. Galor untersucht jedes der Becken nach Aussehen und Funktion und kommt zu dem Schluss, dass ritueller und nichtritueller Gebrauch der Becken sich während des 1. Jh.s v./n. Chr. noch nicht klar abgrenzen lassen. Die Becken eignen sich demzufolge nicht, den sektirerischen Charakter der Bewohner Qumrans zu beweisen: "The uniqueness of the pools should not be over-rated" (317). A. E. Shimron trägt eine detaillierte archäometrische Untersuchung des Putzes bei, der in den Stufenbecken verwendet worden ist, um Aspekte der Baugeschichte und Funktion dieser Installationen zu erhellen. In Teil 6 (Kapitel XV-XVI, 341-394) legt A. Lemaire insgesamt 51 oft nur sehr kurze Graffiti/Ostraka in hebräisch/aramäischer, elf in griechischer und drei in lateinischer Sprache aus der Siedlung, den Höhlen 4Q, 6Q, 7Q, 8Q und 10Q sowie aus 'Aïn Feshkha vor. Hinzu kommen sieben Ritzungen unbekannten Inhalts. J. Gunneweg und M. Balla führen diesen Beitrag durch das auf ihre Provenienzanalysen gestützte Ergebnis weiter, dass die Trägergefäße dieser Graffiti unterschiedlicher Herkunft sind und den Zusammenhang von Siedlung und Höhle bestätigen. Der Beitrag von N. Lacoudre in Teil 7 (Kapitel XVII, 395-405) befasst sich mit sieben, zu einem Konglomerat zusammenkorrodierten eisernen Werkzeugen und Gegenständen (Q. 960), die möglicherweise mit Periode III in Verbindung stehen (J.-B. Humbert). Die systematische Materialvorlage der Metallobjekte erfolgt in Band III. Teil 8 (Kapitel XVIII, 407-415) bietet eine kommentierte Synopse der verschiedenen Zählweisen der Höhlen in den frühen Publikationen und eine hilfreiche Zusammenstellung wichtiger physischer Merkmale und Siedlungsspuren in den einzelnen Höhlen. In Teil 9 (Kapitel XIX-XXI, 417-482) legt J.-B. Humbert einführende Überlegungen zur Revision der Chronologie und Funktion Qumrans vor, die bisher in der Forschung sicher noch zu wenig beachtet wurden. A. Chambons Katalog von Architekturteilen (21 Säulen-, ein Dekorations-, sechs Türelemente und zahlreiche Fußbodenplatten) aus Qumran gibt einen wichtigen Einblick in die Ausstattung des Hauptgebäudes (445-465) und bereitet die Grundlage für J.-B. Humberts Annahme einer voressenischen, agrarisch geprägten "rési- dence" (467-482), die erst ab 30 v. Chr. zum "sectarian center" ausgebaut worden sei. Ein Register fehlt leider.

Der Band bietet weitaus mehr als nur den ersten Teil der lang ersehnten umfassenden Datenvorlage. Die Koppelung der Diskussion einzelner Fund- und Befundkategorien mit naturwissenschaftlichen Analysen (zum großen Teil erstmals an Qumranmaterial durchgeführt) katapultiert die immer noch so stark von romantischen Vorstellungen überlagerte Siedlung unversehens in die Moderne. Die Komplexität der Befunde und die Vorläufigkeit der Resultate ihrer Erforschung macht die Qumranarchäologie zu einem "offenen Prozess", wie vor allem J. Gunneweg immer wieder zu Recht betont. Es verwundert nicht, dass die Lektüre des Bandes am Ende weder ein geschlossenes noch ein abschließendes Bild ergibt. So steht nicht nur die Publikation wesentlicher Fundgattungen noch aus, man wird sich in Zukunft auch noch intensiver um den Vergleich des Qumranmaterials mit anderen Ortslagen in der Umgebung sowie um die Gültigkeit derzeit diskutierter Theorien zum Charakter der Siedlung und ihrer Bewohner zu bemühen haben. Ferner müssen die Grabungen, die Yizhak Magen und Yuval Peleg von 1993 bis 2004 in Qumran durchgeführt haben, in das Gesamtbild einbezogen werden, zumal diese beiden Forscher zu deutlich anderen Ergebnissen in Bezug auf Chronologie und Charakter der Siedlung kommen (erscheint 2005 in K. Galor, J.-B. Humbert, J. Zangenberg [Eds.], Qumran - The Site of the Dead Sea Scrolls. Archaeological Interpretations and Debates). Dass eine ernsthafte Diskussion der Archäologie Qumrans nun aber überhaupt erst möglich ist, ist das große Verdienst der beiden Herausgeber, die nicht nur die immense Arbeit auf sich genommen haben, das noch verfügbare Material einer fast 50 Jahre zurückliegenden Grabung mit modernsten Methoden zu analysieren und zu publizieren, sondern auch ein ermutigendes Beispiel interdisziplinärer und internationaler Zusammenarbeit gegeben haben. Mit diesem und den folgenden Bänden der Qumranpublikation kann die archäologische Diskussion - endlich! - auf demselben hohen Niveau geführt werden wie die Erforschung der Texte aus den Höhlen.