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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

623 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hezser, Catherine [Ed.]

Titel/Untertitel:

Rabbinic Law in its Roman and Near Eastern Context.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. VIII, 310 S. gr.8 = Texts and Studies in Ancient Judaism, 97. Lw. Euro 84,00. ISBN 3-16-148071-6.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Die zehn aus einer Konferenz am Trinity College in Dublin 2002 hervorgegangenen Beiträge vermitteln einen interdisziplinären Zugang zum griechisch-römischen und sasanidischen Kontext der rabbinischen Halakha. In der programmatischen Einführung wird von der Herausgeberin der vor allem seit den Arbeiten von R. Yaron, B. Cohen und D. Daube erreichte Forschungsstand pointiert zusammengefasst und im Hinblick auf die gegenwärtige, soziologisch und literaturwissenschaftlich begründete Neuverortung der rabbinischen Bewegung zugespitzt. H. weist nachdrücklich darauf hin, dass ein komparativer Ansatz in der Halakha-Forschung als einträglicher als bisherige Ansätze erscheint, weil er nicht nur zu einem besseren Verständnis der jüdischen Partizipation am jeweiligen antiken kulturellen Milieu beiträgt, sondern auch zu einem Verständnis von wiederkehrenden rechtlichen Problemen und Lösungen, der Entwicklung von rechtlichen Prinzipien und Institutionen sowie ganz allgemein des Gerechtigkeitsbegriffs in antiken Gesellschaften. Es geht den Beiträgen dieses Bandes also nicht etwa um den Versuch, "Einflüsse" des griechisch-römischen oder sasanidischen Rechts auf das rabbinische nachzuweisen, sondern um die Deskription vergleichbarer Entwicklungen - ein Bemühen, welches H. im Umfeld eines emanzipatorischen Strebens verortet, das seinen Anfang in einem kulturell deutschen Kontext am Ende des 19., zu Beginn des 20. Jh.s genommen hat.

Bereits Forscher wie D. Farbstein, J. Neubauer und A. Gulak hatten auf die eine oder andere Weise betont, dass das rabbinische Recht auf denselben moralischen Prinzipien beruhe und daher als genauso wertvoll zu erachten sei wie das römische. Neuansätze hinsichtlich einer vergleichenden Methode in der rabbinischen Rechtsgeschichte wurden schon in den grundlegenden Arbeiten von B. Cohen und B. S. Jackson entwickelt. Sie müssen nach H. durch strukturalistische und postmoderne Ansätze ergänzt werden, in denen auf Intertextualität geachtet wird, in denen mithin auf einen erst interdisziplinär nachvollziehbaren "context" verwiesen wird, der sich nicht mehr allein aus den rabbinischen Texten konstituiert, sondern auf eine breitere Materialbasis rekurriert, wie sie epigraphisch und papyrologisch und auch allgemeiner in soziologischer, politischer und ökonomischer Perspektive zu erschließen ist. Dieser Ansatz bemüht sich, die unterschiedlichen Aspekte des Alltagslebens, der Familienstruktur sowie der Stellung der Frau zu berücksichtigen; zudem möchte er tiefer auf die griechisch-römische Umwelt des antiken Judentums eingehen.

Die ersten drei Artikel widmen sich Themen, die nicht direkt mit rabbinischem Recht zusammenhängen, obgleich sie einem weiteren Kontext zugeordnet werden können:

Der Beitrag von A. Fitzpatrick-McKinley, "Ezra, Nehemiah and Some Early Greek Lawgivers", geht auf die Reformen Nehemias ein, die im Kontext und im Vergleich mit den zur Verfügung stehenden Quellen über frühe griechische Gesetzgeber (Lykourgos, Zaleus) als Regulierung und Verminderung der Einflussmächte von Eliten begriffen werden. Wie bei den schriftlichen Zeugnissen über griechische Gesetzgeber stamme einiges Material in den Büchern Esra und Nehemia aus viel späterer Zeit als der des angenommenen Wirkens dieser beiden Gestalten, vermutlich erst aus dem 2. Jh. v. Chr. - H. M. Cotton, "Diplomatics or External Aspects of the Legal Documents from the Judean Desert", offeriert vor dem Hintergrund vergleichbarer Urkunden aus dem Bereich des römischen Nahen Ostens Prolegomena für eine zukünftige Studie sämtlicher rechtlicher Probleme jener Dokumente, die mit dem Namen Bar Kokhva verbunden sind, oder solcher, die sich im so genannten Babata-Archiv finden. Der Beitrag korrigiert en passant kleinere, in früheren Publikationen gemachte Fehler (z. B. Papyrus Hever 64 ist ein Sieben-Zeugen-Dokument, welches römischem Brauch folgt und wohl auch deshalb eine griechische Übersetzung enthält; anders noch in DJD XXVII, 142). Vermutet wird, dass Juden zur Zeit der Abfassung dieser Urkunden eher existierende Praktiken der lokalen politischen Autoritäten befolgten als rabbinische Halakha. - J. Harries, "Creating Legal Space: Settling Disputes in the Roman Empire", greift eine andere Frage des Verhältnisses zu römischen Rechtsinstitutionen auf. Da man spätestens ab 212 n. Chr. davon ausgehen muss, dass Juden dem römischen Zivil- und Strafrecht unterworfen waren, musste die Zuständigkeit jüdischer Gerichtshöfe und römischer Richter oder Schiedsmänner geklärt werden. Harries geht von der insbesondere durch die rabbinischen Quellen allerdings kaum belegbaren (und auch nicht untersuchten) Findung eines Kompromisses aus, der es jüdischen Institutionen vor allem durch Hinzuziehung konsensfähiger Schiedsleute ermöglichte, weiter zu agieren. - N. B. Dohrmann, "The Boundaries of the Law and the Problem of Jurisdiction in an Early Palestinian Midrash", bietet eine detaillierte Analyse eines Abschnittes aus Mekhilta de-Rabbi Yishma'el, Neziqin 1, in der sie zu zeigen versucht, welchen intellektuellen Herausforderungen die Rabbinen angesichts des Anspruches auf eigene Rechtsprechung und eingedenk der Bedeutung der Offenbarung vor dem Hintergrund römischer Fremdherrschaft ausgesetzt waren. Generell geht es der Verfasserin dabei um die Rekonstruktion einer "mentalité" der tannaitischen Kultur (83 f.) und um die Konstruktion einer Idee des Gesetzes aus der Perspektive von Untergebenen vor dem Hintergrund der Präsenz römischer Gesetzgebung. - Der Aufsatz von L.Moscovitz, "Legal Fictions in Rabbinic Law and Roman Law: Some Comparative Observations", ergänzt auf Grund des Vergleichs mit römischem Recht einige bereits in seinem Werk "Talmudic Reasoning" gemachte Beobachtungen zu formalen Aspekten juristischer Fiktionen (siehe dazu meine Besprechung in ThLZ 128 [2003], 1277 f.). - C. Hezser, "Slaves and Slavery in Rabbinic and Roman Law", setzt weitere Akzente hinsichtlich eines Vergleichs zwischen römischem und rabbinischem Sklavenrecht, die wohl in eine umfassendere Studie münden werden. - Die Beiträge von H. Lapin, "Maintenance of Wives and Children in Early Rabbinic and Documentary Texts from Roman Palestine", und B. S. Jackson, "Problems in the Development of the Ketubah Payment: The Shimon ben Shetah Tradition", untersuchen auf ähnlicher methodischer Basis rabbinische Texte im Vergleich mit den erhaltenen kontemporären rechtlichen Dokumenten. - Y. Elman, "Marriage and Martial Property in Rabbinic and Sasanian Law", führt die Erörterung eherechtlicher Fragen fort, bezieht jedoch auch das sasanidische Recht ein, welches vor allem im Hinblick auf Rechtstexte im Bavli zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten bietet. So deutet der Vergleich der Rechte von Frauen in Bezug auf Erbschaft und Besitz in beiden Rechtssystemen auf beachtenswerte soziologische und demographische Unterschiede hin. - Eine erwägenswerte Korrektur der verbreiteten Meinung, das matrilineare Prinzip im Geburtsrecht sei aus dem römischen Recht übernommen, unternimmt R. Katzoff, "Children of Intermarriage: Roman and Jewish Conceptions". Nach ihm ist kein Fall bekannt, welcher belegen könne, dass irgendein Gesetz aus dem römischen Recht in das rabbinische aufgenommen worden sei. Römisches Recht sei zu jüdischem Recht erst zu einem Zeitpunkt hinzugetreten, als jenes nicht mehr geneigt war, fremde Einflüsse zu rezipieren. Daher kann das muttergebundene Abstammungsrecht nicht aus dem römischen übernommen worden sein.

Hiermit kehrt der abschließende Beitrag des Bandes wieder zu dem anfangs von H. angeschnittenen Problem der Möglichkeit eines Nachweises von "äußeren Einflüssen" auf rabbinische Halakha zurück - eine grundsätzliche Fragestellung, die man trotz der in dem wichtigen Band eindrucksvoll aufgezeigten Bedeutung des vergleichenden, kontextbezogenen Ansatzes der Halakha-Forschung nicht gänzlich aus dem Auge verlieren sollte.