Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

620–622

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zgoll, Annette

Titel/Untertitel:

Die Kunst des Betens. Form und Funktion, Theologie und Psychagogik in babylonisch-assyrischen Handerhebungsgebeten an Istar.

Verlag:

Münster: Ugarit-Verlag 2003. IV, 319 S. m. Abb. u. Tab. gr.8 = Alter Orient und Altes Testament, 308. Lw. Euro 72,00. ISBN 3-934628-45-1.

Rezensent:

Michaela Bauks

Die Vfn. legt in der vorliegenden Studie eine neue Transkription mit Übersetzung auf der Basis neuer Kollationen mitsamt ausführlicher Kommentierung der existierenden Handerhebungsgebete an die Göttin Istar vor. Sie begrenzt ihr Korpus auf die im Kolophon ausdrücklich als su-ila bezeichneten, an Istar adressierten Gebete. Sie kann zu den bekannten, durchweg aus dem 1. Jt. stammenden Textzeugen einige neue Duplikate sowie zwei jüngst entdeckte, aus dem 13. Jh. v. Chr. stammende Textzeugen aus Hattusa und Emar (?) beibringen, von denen der zweite hier in Erstveröffentlichung vorgelegt wird. Das Korpus umfasst acht komplett überlieferte Gebete nebst fünf Fragmenten.

Die Vfn. weiß sich nicht nur in der Nachfolge der einschlägigen assyriologischen Vorarbeiten von W. G. Kunstmann, Die babylonische Gebetsbeschwörung (1932), und W. R. Mayer, Untersuchungen zur Formensprache der babylonischen Gebetsbeschwörungen (1976), sondern setzt sich zudem ausgehend von der klassischen Studie von F. Heiler, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung (1919 u. ö.), mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen auseinander. Dabei stellt sie dem Heilerschen Modell vom frei formulierten lebendigen Gotteswort, welches das in Ritualformeln erstarrte Beten abgelöst habe, entgegen, dass bei den Gebetsritualen eine bewusste kunstvolle Gestaltung der Gebete anzunehmen ist, da die Gebete als das Instrument bzw. Medium für eine gute und erfolgreiche Kommunikation mit den Göttern dienen. Sie basiert ihre Arbeitshypothese auf der Studie des englischen Literatur- und Kunstsoziologen Arnold Hauser, Methoden moderner Kunstbetrachtung (1974). Das methodische Programm der Vfn. besteht darin, die babylonisch-assyrischen Gebetstexte in ihrer je eigenen Gestalt und Funktion zu untersuchen und auf ihre Wirkhaftigkeit (Performanz) hin zu interpretieren. In der Absicht, die Intentionen und Strategien eines rekonstruierten Beters untersuchen zu wollen, geht die Vfn. weit über die vorangehenden Arbeiten hinaus.

Formgeschichtlich scheint das Material bereits durch die von Kunstmann und Mayer vorgelegten Studien gut aufgearbeitet zu sein. Doch vermag die vorliegende Studie das Thema in doppelter Weise neu anzugehen. Zum einen ist die formale Struktur der Gebetsbeschwörungen längst nicht so einheitlich, wie Kunstmann es mit seiner grundlegenden Dreiteilung in Anrede, Bitte und Dank behauptet hatte. Nicht nur fallen einige Gebete aus dieser Grundstruktur heraus (so Istar 23 [K 2550+ / VAT 8257], in dem der letzte Gebetsteil in den Anredemodus zurückfällt), sondern auch die Terminologie weist in sich Uneinheitlichkeiten auf. Um insbesondere die Textübergänge (Texturen) besser zu berücksichtigen, bevorzugt die Vfn. eine Terminologie, die sich an Sprechrichtungen und Sprechfunktionen orientiert (30 f.). Als adäquatere Bezeichnung schlägt sie Invokation, Supplikation und Benediktion vor, von denen der zweite Terminus der modernen Psychologie und Verhaltensforschung (N. Bischof) entlehnt ist und eine spezifische menschliche Strategie umschreibt, die dazu dient, durch die Submission unter den Beistand eines Höheren ein durch eigene Kräfte unerreichbares Ziel zu erlangen (30 f.).

Um der Gleichförmigkeit der Textanalyse zu entgehen, akzentuiert sie die Untersuchung eines jeden Gebets auf ein ihm inhärentes zentrales Thema oder einen zentralen Begriff (vgl. zur methodischen Herangehensweise den Aufsatz von C. Wilcke, Orthographie, Grammatik und literarische Form. Beobachtungen zu der Vaseninschrift Lugalzaggesis, in FS Moran, 1990). So widmet sich das Gebet Istar 2 (BM 26187 [STC II, pl. 75 ff.]) der Darstellungsweise der "Texturen". Neben üblichen gedanklichen Bezügen und Wiederaufnahmen von Themen begegnen auch Stichwortverknüpfungen, Wort- bzw. Satzteilwiederholungen sowie die formale Kennzeichnung von Passagen. Besonders auffällig ist das Stilmittel der reihenden Aneinanderfügung, das an die Listenwissenschaft erinnert, welche summarisch die Phänomene der Wirklichkeit erfasst und hier nun in Gebetsform die Ordnungsmacht der Göttin unterstreicht. Die Elemente der Invokation kehren in den mit anaku "ich" (des Beters) eingeleiteten Supplikationsabschnitten wieder, in denen die Elendsschilderungen um das formtypische ahulap "genug" und die Bitte um Erlösung gruppiert werden, die das Textziel vorbereiten, wie es in der Benediktion des Typs " Istar ist erhaben" zum Ausdruck gebracht ist. Den Text Istar 10 (W.23274 [SpTU IIIb 76]) hat die Vfn. auf den Aspekt der "Logokratie" hin untersucht.

Anhand dieses Gebets lässt sich die dem altorientalischen Weltbild eigene Wortmächtigkeit demonstrieren. In der Sprachformung drückt sich das Bewusstsein aus, dass der Beter im Schutz der Göttin steht und auf dieser Grundlage als ihr Diener handeln kann. Die wirkmächtige Sprache des Gebets wird folgerichtig von der liturgischen Handlung abgelöst bzw. von ihr weitergeführt (146 f.). Ein weiteres Stilmerkmal ist das der "Polysemie", das anhand von Istar 23 beschrieben wird. Die Polysemie verschränkt in knapper Ausdrucksweise Phänomene miteinander, wie z. B. in dem Wortspiel ARHUS ("Mutterleib" bzw. "sich erbarmen"), das in dem Gebet einer sterilen Frau auf die Lösung des Problems dank göttlichen Erbarmens dringt. Für das letzte untersuchte Stilelement, die "Interaktion" innerhalb der verschiedenen Gebetsteile, dient das Gebet Istar 1 (K 155 [BMS 1,29 ff.]) als Beispiel. Dabei lässt sich aufzuzeigen (s. Graphik S. 230.233), wie bis in semantische Details hinein Invokation und Supplikation einander korrespondieren. Indem die Macht der Göttin vom Beter vorausgesetzt ist, stellt sein Gebet eine Reaktion bzw. eine Antwort dar, die ihrerseits eine Rückwirkung auf die Gottheit bedeutet, da deren Macht dadurch noch weiter anwächst: "Bewirkt die Göttin, dass es dem Menschen wohl ergeht, verkündet dieser ihren Ruhm" (232).

In einem abschließenden Rückblick wertet die Vfn. die "Kunst des Betens" aus. Darin stellt sie neben einigen poetologischen, die Mikrostruktur der Texte betreffenden Stilmerkmalen vor allem die anhand ihrer Untersuchung der Makrostruktur gewonnenen Ergebnisse zu der Textperformanz heraus. Hierarchisierung der Sprechrichtungen, Andeutungen, Erinnerungen, Reprisen, Engführungen etc. stellen Techniken dar, die nicht lediglich informieren wollen, sondern auf eine aktive Reaktion und Stellungnahme drängen. Zugleich kommt ihnen aber auch ein affirmativer Zug zu, der den Beter in seinem Tun und Hinwenden zur Gottheit bestärkt. So hat jedes Stilmittel eine doppelte rhetorische (und darin psychagogisch wirksame) Funktion, zum einen die Verpflichtung Gottes und zum anderen die Stärkung des Menschen (s. Graphik, 261).

Das Verhältnis von Psychagogik und Theologie spielt schon in der Einleitung eine große Rolle (14 ff.). Feste Gebetsformen dienen nach der Vfn. der Lebensbewältigung. Indem der betende Mensch aus seiner Fixierung auf das Negative gelöst wird, ist er auf das Positive hingelenkt. Diese, im therapeutischen Bereich angewandte, anthroplogische Grundbeobachtung ist hier nun aber an ein theologisches Phänomen gekoppelt: Der Mensch spricht nicht ins Leere oder zu einem Therapeuten, sondern er betet zu (einem) Gott bzw. einer Göttin. Diese Relation könnte und müsste noch klarer beschrieben werden. Zwar erfährt der Leser, dass der Beter auf einen Ritualexperten als Mittler angewiesen ist (265) und nicht "im stillen Kämmerlein" agiert, doch erfährt er zugleich wenig über den Vollzug (und den faktischen Unterschied zwischen einem Therapeuten des 20./21. Jh.s und einem Beschwörungspriester). Auch die Diagnose, dass die "Erfahrung der Veränderlichkeit des Seins" der Motor des Gebets ist, welches zudem in dem Glauben an einen Kausalzusammenhang von menschlicher Schuld und göttlichem Zorn basiert (266), weicht der Frage aus, was mit den Fällen ist, in denen sich der Beter keiner Schuld bewusst ist und ein Unschuldsbekenntnis spricht. Für die Alttestamentlerin stellt sich hier die Frage nach der Theodizee, wie sie auch in einer Reihe von mesopotamischen Texten aufgegriffen ist (s. dazu Bauks, Die Feinde des Psalmisten und die Freunde Ijobs [SBS 203], Stuttgart 2004, 110 ff.).

Dass "su-ila Sprachkunst und Theologie gekonnt verbinden" (269), erweist die Vfn. anhand des Stichworts der Gotteserfahrung. Diese vollzieht sich in drei großen Bereichen, in kosmischer, kultischer und mythischer Dimension. Die kosmische Dimension zeigt sich in den zahlreichen astralen Attributen der Göttin, welche Istar als Stern erfahrbar sein lassen, woraus sich Ort und Zeit zahlreicher Rituale, so z. B. das Hausdach bei Nacht, erklären dürften. Das kultische Geschehen ist eine Vermittlung zwischen Himmel und Erde und erschließt dem Beter die heilbringenden göttlichen Mächte. Der Kult ist somit das "Band zwischen der von den Göttern gestifteten Ordnung der Schöpfung und der Geschichte" (278). Demgegenüber ist die mythische Dimension lediglich ansatzweise erfassbar, da die literarische Textüberlieferung von mythischen Texten zu begrenzt ist (279 f.).

Wiederum bleibt die Vfn. hier sehr beschreibend, ohne auf systematisch-theologische Fragen einzugehen. Wie erfolgt die Erhörung? So stellt sich mir z. B. die Frage nach dem so genannten Stimmungsumschwung in den Gebeten. Lässt sich ein solcher auch in den mesopotamischen Gebeten festmachen und - dank vorliegender Ritualbeschreibungen - vielleicht besser erklären, als es die allseits bekannte und umstrittene These J. Beg- richs vom Priesterlichen Heilsorakel vermag?

Insgesamt wird deutlich, dass es sich bei den untersuchten Texten um recht allgemein gehaltene Gebetsformulare handelt, die von einem Individuum gesprochen werden. Die Gebete setzen bei der Erfahrung größter Not ein, um zum erlösenden Eingreifen der Gottheit vorzustoßen. Negativbitten gegen die Feinde, wie sie in den biblischen Psalmen vorhanden sind, fehlen.

Die Studie zeichnet sich durch eine didaktisch vorbildliche und ausgewogene Darstellung aus. Neben übersichtlicher Textpräsentation und philologischen Kommentierungen unterstützen aussagekräftige Computergraphiken das Textverständnis bzw. fassen statistische Erhebungen sinnvoll zusammen. Auch der philologische und der theologisch interpretierende Teil stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Somit liegt ein Beitrag vor, der umsichtig zwischen Assyriologie, altorientalischer Religionsgeschichte und Religionswissenschaft zu vermitteln versteht.