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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

618–620

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Traulsen, Christian

Titel/Untertitel:

Das sakrale Asyl in der Alten Welt. Zur Schutzfunktion des Heiligen von König Salomo bis zum Codex Theodosianus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XVI, 364 S. m. Abb. gr.8 = Jus Ecclesiasticum, 72. Lw. Euro 64,00. ISBN 3-16-148170-4.

Rezensent:

Jonas Grethlein

In den letzten Jahren hat eine Reihe von Arbeiten einzelne Aspekte des Asyls in der Antike beleuchtet. Mit Traulsens Buch, einer überarbeiteten juristischen Dissertation, liegt nun ein rechtsgeschichtlicher Überblick über die Entwicklung des sakralen Asyls, das anders als das säkulare Asyl "auf der Scheu vor göttlichem Willen, göttlichem Wirken, göttlicher Gegenwart" (1) beruht, im Alten Israel, der griechisch-römischen Antike und der christlichen Spätantike bis zum Codex Theodosianus vor.

Im ersten Kapitel behandelt T. das sakrale Asyl im Alten Israel in zwei Schritten: Er diskutiert die spärlichen Belege für ein Altarasyl im Alten Testament und stellt fest, dass in vorexilischer Zeit die Flucht zum Altar bekannt, aber nicht rechtlich geregelt gewesen sei. Mit der Wiedererrichtung des Tempels habe das Altarasyl seine Bedeutung verloren. Zweitens analysiert T. die alttestamentlichen Zeugnisse für die sechs Freistädte, die unfreiwillige Mörder aufnahmen. Hier handele es sich um ein "Programm für ein utopisches Groß-Israel" (85), das im Exil entworfen und danach weiterentwickelt, aber nie verwirklicht worden sei.

Thema des zweiten Kapitels sind "Schutz und Zuflucht im Homerischen Epos". T. untersucht die Form des flehentlichen Bittens und die Rolle des Fremden im Epos als Grundlagen der Hikesie, die er als Bitte eines Fremden um Aufnahme in eine Gemeinschaft versteht.

Im dritten Kapitel, dem umfangreichsten, wendet sich T. der Hikesie und Asylie im antiken Griechenland zu. Während sich im Epos ein Fremder persönlich an einen potentiellen Beschützer wende, konzentrierten sich in den Zeugnissen nach Homer die Hikesie-Bitten auf Heiligtümer, deren Unverletzlichkeit (Asylie) Flüchtlingen Schutz gewährte. Nach T. wurde die Unverletzlichkeit von Heiligtümern erst in hellenistischer Zeit positivrechtlich verstärkt. Schließlich hätten nicht nur Heiligtümer, sondern auch Städte, vor allem an der kleinasiatischen Küste, ihr Territorium als "heilig und unverletzlich" anerkennen lassen. Rom, das ein sakrales Asylwesen selbst nur in Ansätzen gekannt habe, habe die Unverletzlichkeit von Heiligtümern bis zur Asylüberprüfung unter Tiberius weitgehend anerkannt, die Ansprüche von ganzen Städten aber zurückgewiesen.

Das vierte Kapitel gibt einen Ausblick auf die Entstehung des kirchlichen Asylrechts in der Spätantike. T. betont die rechtliche und inhaltliche Diskontinuität zum heidnisch-griechischen Asylwesen - das christliche Kirchenasyl sei begründet in der Idee der humanitas und eingebettet in den Gedanken der kirchlichen intercessio -, erkennt jedoch in der Flucht an einen heiligen Ort eine Tradition.

Der Vergleich lässt T. das Asyl in der Spannung zwischen Recht und Religion sehen: Im Alten Israel sei das Asyl theologisch bestimmt; in der griechischen Antike finde eine Entwicklung vom sakralen zum positiven staatlichen Recht statt; das Kirchenasyl schließlich habe seinen Platz im voll ausgebildeten Rechtssystem des römischen Imperiums finden müssen.

Die Weite von T.s Studie ist beeindruckend. Trotz kleiner Lapsus - etwa wenn das Schulwörterbuch von Gemoll als lexikographische Autorität zitiert (109, Anm. 137) oder behauptet wird, die homerischen Helden seien Teil eines "Staatsverbandes" (107), ruht die Darstellung auf einer breiten Quellenbasis, die nicht nur rechtliche, sondern auch literarische Texte umfasst. Zudem setzt sich T. ausführlich mit den umfangreichen Forschungsdiskussionen aus der alttestamentlichen Exegese, der Klassischen Philologie und der Geschichtswissenschaft auseinander.

Bei einer so breit angelegten Arbeit versteht es sich von selbst, dass Details zur kritischen Auseinandersetzung einladen. Nur ein Beispiel: T. wendet sich gegen den Begriff der Supplikation, unter den verschiedene Bitten, um das Leben, um Aufnahme oder einfach um Hilfe, subsumiert werden, und meint, im homerischen Epos könne die Hikesie eindeutig von der einfachen Bitte unterschieden werden. Der Hiketes sei dadurch definiert, "daß er ein Fremder ist, der, von außen, aus dem Unbekannt-Bedrohlichen kommend, Aufnahme in eine menschliche Gemeinschaft begehrt" (129 f.). Aber in keinem der Belege des Stammes hik- in der Ilias geht es um die Aufnahme eines Fremden. In Od. 11, 530 wird mit hiketeuo sogar explizit eine einfache Bitte bezeichnet. Schließlich enthalten die Hikesien die gleichen Formelemente wie einfache Bitten.

Ohne den Wert der Studie in Frage zu stellen, seien drei kritische Fragen gestellt: Mit dem Asyl in der "Alten Welt" ist ein großer Rahmen gesetzt. Aber nachdem die alttestamentliche Exegese bereits seit langem und mittlerweile auch die Klassische Philologie die Bedeutung des Ostens für die israelitische bzw. griechische Kultur erkannt haben, fällt es auf, dass T. den Alten Orient völlig ausblendet. Inwiefern kann eine Darstellung des Asyls in der Alten Welt ohne einen Blick auf die mesopotamischen Kulturen auskommen?

Der Gegenstand des "sakralen Asyls" ist, wenn auch begrifflich am Anfang klar bestimmt, in der Untersuchung nicht immer erkennbar; die Darstellung ist ungleichgewichtig: Während die zahlreichen Zeugnisse für das Fremdenasyl im Alten Testament mit einer Fußnote abgetan werden (18, Anm. 46), obwohl es auch hierfür religiöse Begründungen gibt, sind der Bitte und dem Fremden im homerischen Epos, die nur sehr mittelbar, wenn überhaupt, das Asyl beleuchten, ausführliche Referate ohne neue Erkenntnisse gewidmet (zum Verhältnis von Xenia und Hikesie s. beispielsweise M. Giordano, La Supplica. Rituale, istituzione sociale e tema epico in Omero, Neapel 1999, 71-107, eine Arbeit, die lediglich erwähnt wird).

Auch wenn T. betont, literarische Texte könnten nicht wie Gesetzestexte gelesen werden, findet die Fiktionalität von Texten in seinen Interpretationen nicht immer ausreichend Berücksichtigung. Beispielsweise gibt er den Ixion-Mythos als Beleg dafür an, dass ein Hiketide seine Unverletzlichkeit verwirke, wenn er die ihm gewährte Gastfreundschaft verletze (207 f.). Wie zuletzt Dreher für die aischyleischen Hiketiden gezeigt hat, lassen sich aus fiktiven Texten nur mit größter Vorsicht Schlüsse auf das realgeschichtliche Asyl ziehen (M. Dreher, Hikesie und Asylie in den Hiketiden des Aischylos, in: Id (Ed.), Das antike Asyl, Köln 2003, 59-84).

T.s Arbeit wird, das sei abschließend vermutet, durch die umfangreiche Erschließung der Quellen eine Grundlage und, so sei gehofft, durch ihre Thesen eine Anregung für weitere Arbeiten zum Asyl sein.