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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

582–584

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionsfreiheit als Leitbild. Staatskirchenrecht in Deutschland und Europa im Prozess der Reform.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2004. 350 S. 8 = Ethik interdisziplinär, 5. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-8258-7364-1.

Rezensent:

Christian Polke

Zur Wiederkehr der Religionen gehört die verstärkte Beschäftigung mit ethischen Fragen, die das Umfeld der Religion betreffen. Ein klassisches Beispiel bildet das Problem der Religionsfreiheit. So ist der jüngst von dem Bonner Theologen Hartmut Kreß herausgegebene Aufsatzband "Religionsfreiheit als Leitbild" Teil einer ganzen Reihe von neueren Veröffentlichungen, die sich diesem Thema widmen. Die Besonderheit dieses Bandes liegt - passend zum Jahr der EU-Erweiterung - in einer verstärkten Behandlung des Stoffes aus europäischer Sicht. Verfasser der Beiträge sind Theologen, Juristen und Politiker aus dem In- und Ausland. Nacheinander werden in drei Gruppen von Fragen die "normative Basis" der Religionsfreiheit sowie deren rechtliche und politische Gestaltung im deutschen und europäischen Kontext behandelt.

1. In seinem Eröffnungsbeitrag (21-58) beleuchtet der evangelische Ethiker H. Kreß die "Logik einer ethischen Evolution" (27), die sich mit dem neuzeitlichen, vom Protestantismus geprägten Freiheitsgedanken als Fortschrittsidee verbindet. Das rechtliche Leitbild der Religionsfreiheit gehört wesentlich in diesen Prozess und findet sein ethisches Pendant im Toleranzgedanken. Dieser weitet und verändert sich im Laufe der Zeit von einem lediglich "pejorativen Sinne" über eine eher negativ gefasste Duldung zur aktiven Toleranz.

Der Autor votiert für eine Kultur des "enrichment" (37), wobei er im Vagen belässt, wie diese konkret aussehen kann. Es handelt sich um eine spezifische Version der Toleranz in Zeiten des Pluralismus, die von mehr als (nur von) gegenseitiger Duldung und Achtung geprägt sein soll. Sein Beitrag mündet in Erörterungen zu gegenwärtigen, religionsrechtlichen Konfliktfällen (u. a. Gottesbezug in der Präambel der EU-Verfassung, Kopftuchstreit). Hier plädiert er liberalprotestantisch für einen unbedingten Vorrang der negativen Religionsfreiheit als Abwehrrecht für Minderheiten. "Die persönlichen Freiheitsrechte als Maßstab" (50) bilden für Kreß den Kern der Religionsfreiheit als Leitbild. Von da aus ist es nur konsequent, dass in den Fallbesprechungen weder die eigentliche Konfliktsphäre zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit thematisiert noch die politische Bedeutung von Religionen reflektiert wird.

Diese Balance zu treffen, gelingt sehr viel überzeugender G.Höver (59-77). Er beginnt mit einer Erinnerung an das grundlegende Bekenntnis zur Religionsfreiheit im II. Vatikanum und schildert von da aus den Weg zu den "Konkretisierungen" (62) dieses Gedankens. Dabei impliziert Religionsfreiheit zum einen ihre rechtliche Ordnung in der Gesellschaft (67), zum anderen führt sie sogleich eine Reihe von notwendigen kulturellen Rechten (74) mit sich. Höver verweist so deutlich auf den Öffentlichkeitscharakter von Religion.

Das Spezifikum seines - katholischen - Beitrags zur Debatte liegt in der nicht weiter pro- blematisierten Verankerung der Religionsfreiheit im Rekurs auf die "Evidenz des Ethischen". Menschenwürde, transzendentaler Freiheitsgedanke und die Pflicht zur Wahrheitssuche stellen die Ausgangsbasis für eine Begründung der Glaubens- und Gewissensfreiheit als das "Herz der Menschenrechte" (74) dar. Die Herausforderungen heutiger Menschenrechtspolitik sollten das ins Gedächtnis rufen.

2. Stefan Muckel liefert in seinem knappen wie präzisen Beitrag "Der Islam im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland" (119-139) eine Übersicht über die gegenwärtigen Spannungen zwischen deutscher Rechtslage und den Interessen der wachsenden muslimischen Bevölkerung.

Ein Grund für diese Problemefelder dürfte im stark an den Kirchen als Grundmodell von Religionsgemeinschaften orientierten bundesdeutschen Religionsrecht liegen. Der Kölner Jurist stellt klar, dass es in vielen Fällen schon jetzt rechtlich ausreichende "Spielräume" (139) gibt. Allerdings verbietet sich allzu großer Optimismus hinsichtlich des schwierigen Verhältnisses vieler islamischer Gruppen zur westlichen Demokratie: "Wer den Koran als inhaltlich nicht entwicklungsfähig ansieht, wird sich in die westlichen Gesellschaften letztlich nicht einfügen" (139), lautet das Fazit.

3. Mit dem europäischen Kontext im Allgemeinen befassen sich eingehender zunächst die beiden Beiträge von H. M. Heinig (169-183) und F. Leinemann (185-198). Heinig schildert den Weg von der Kirchenerklärung von Amsterdam bis hin zur Verankerung der Grundlinien eines europäischen Religionsverfassungsrechts in der künftigen EU-Verfassung. Gegenüber der vor allem in Deutschland zum Teil heftig geführten Diskussion um eine nominatio Dei hebt er hervor, dass die Aufnahme des Art. I-51, Abs. 3 (Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften) ein großer Erfolg für die Anhänger des Kooperationsmodells war. Für Leinemann ist sie von viel größerer Bedeutung als der Gottesbezug.

Auch die Erwähnung von "religiösen Traditionen" in der Präambel zur Verfassung war nicht unumstritten. Zu Recht vorsichtig argumentiert Heinig im Bezug auf die Nichterwähnung der explizit christlichen Wurzeln Europas: Einerseits könnte das bereits vorschnell die politische (!) Frage nach dem EU-Beitritt der Türkei "präjudizieren" (181), andererseits ist es historisch nun doch im Wesentlichen das Verdienst des jüdisch-christlichen Denkens im Einvernehmen mit den humanistischen Wurzeln der Aufklärung, Europas Grundwerte hervorgebracht zu haben. Eine Vorrangstellung in der Verfassung wäre demzufolge eigentlich legitim.

Grundsätzliche Bemerkungen zu Religion und Politik in Europa liefert der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Hinze (199- 214). Die Moderne kennzeichnet ein Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der "sozialen Großsysteme". Im stillschweigenden Anschluss an N. Luhmann wird dabei der Politik die Leitkategorie "Innehabung bzw. Nichtinnehabung von Macht" zugesprochen, der Religion die Leitdifferenz Immanenz/Transzendenz (201).

Religion solle sich daher vor allem um ein "im positiven Sinne nicht-rationales Nachdenken über die Welt" bemühen, das den Menschen "Halt und Zuversicht" (210) vermittelt. Trotz des Bedürfnisses "nach einer wertebezogenen Politik" (211) scheint diese in einer pluralistischen Gesellschaft problematisch. Gemeinsame Wertüberzeugungen scheinen schwierig, Letztverbindlichkeit einer bestimmten Moral unmöglich. So besehen sollten die Kirchen um die Profilierung ihres "Sonderbereichs einer sozialen Ethik" (213) bemüht sein, ergeben sich doch dadurch erneut Chancen der Anschlussfähigkeit an den politischen Diskurs. Nicht plausibel ist an Hinzes Erwägungen für mich zunächst die schiedlich-friedliche Trennung der Großsemantiken von Religion und Politik, die "im weitesten Sinne eigendynamisch, selbstbestimmt und überschneidungsfrei" (201) operieren. Daran schließt sich seine überraschend optimistische Sicht bezüglich des Abnehmens von "ideo- und theokratischen Systemen" (202) in der Welt an. Tragisch wird es allerdings, wenn Hinze als ein liberaler Vertreter innerhalb der deutschen Bioethikdebatte die Meinungsverschiedenheiten unter christlichen Ethikern dazu benutzt, die "Letztverbindlichkeit eines bestimmten moralischen Urteils" (212) als eine "Selbstimmunisierung der Moral" zu interpretieren. Selbst wenn gemeinsame Werteüberzeugungen in einer pluralistischen Gesellschaft schwierig zu erreichen und zu erhalten sind, zeigt gerade die Vehemenz der Debatte, dass dabei - mit Durckheim gesprochen- der sakrale Kern moderner Demokratien zur Disposition steht: die Menschenwürde auch und gerade des Embryos.

4. Um wenigstens einen Beitrag aus den Fallbeispielen einzelner europäischer Nationen zu erwähnen, möchte ich kurz auf den Beitrag von Werner Theobald eingehen, der sich mit "Pluralismus und Religionsfreiheit in Russland" (337-347) beschäftigt.

Theobald stellt die Frage, wie das durch das Abdanken des Marxismus-Leninismus entstandene "geistige Vakuum" (337) in der postsowjetischen Philosophie gefüllt wird. Die religiös-russische Philosophie (z. B. Berdjaev), die an vormarxistische Traditionen anknüpft, scheint dafür ein geeigneter Kandidat zu sein. Allerdings birgt sie die Gefahr, selbst zu einer neuen "christlich-nationalen Ideologie" (340) zu werden. Die Herausforderung des Pluralismus und der dahinter stehenden Religionsfreiheit sieht Theobald in der Vermittlung von "individuell verantworteter Lebensform" und der gemeinsamen Gestaltung der sozialen Lebenswelt (345). Die Chancen für die religiös-russische Philosophie liegen in ihrer Art als "russisch-kulturspezifisches, sozialethisch transformierbares Denkmodell" (346). Aussagekräftig ist vor allem der Umgang des Beitrags mit seinem Thema: In der noch jungen russischen Republik ist jenseits der Orthodoxie eine religiös-plurale Öffentlichkeit immer noch ganz am Anfang ihrer Entstehung!

Ingesamt besehen ist der Band etwas enttäuschend. Man bekommt viele Details geschildert, aber die Brisanz, die sein Titel birgt, wird nicht deutlich - weder in europäischer noch in deutscher Perspektive. Insbesondere die grundsätzlichen Erörterungen hätten aber auf diese Thematik eingehen müssen. So bleiben die grundlegenden Fragen zumeist ungeklärt: Was hat man eigentlich unter einem "Leitbild" zu verstehen? Welche Auswirkungen haben Leitbilder im gesellschaftlichen und politischen Kontext? Müssten sich Positionen, welche die "Religionsfreiheit" als ihr Leitbild reklamieren, nicht noch einmal grundsätzlicher über den Freiheits- und Religionsbegriff verständigen? Was kann dann überhaupt "Religion" sein? Alles - oder nur solche religiösen Bewegungen bzw. Strömungen, die eine soziale und damit eo ipso auch politische Dimension haben? Beim Thema Scientology wird dies Problem durchaus gestreift, aber keineswegs problematisiert (vgl. den Beitrag von R. Abel, 141-165).

Gilt es also, Rechtssysteme, europäische Politik und Religionen sinnvoll zu verorten, dann stecken wir immer noch am Anfang unserer Bemühungen, gerade auch im theoretischen Kontext der Wissenschaften. Ein erster Schritt hierzu ist ein besserer Informationsstand. Und dazu leistet der vorliegende Band einen wichtigen Beitrag.