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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

579 f

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Campenhausen, Axel Frhr. von [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Deutsches Staatskirchenrecht zwischen Grundgesetz und EU-Gemeinschaftsrecht. Symposion im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland am 25. und 26. April 2002 in Hannover.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2003. 189 S. 8 = Schriften zum Staatskirchenrecht, 12. Kart. Euro 35,30. ISBN 3-631-39710-0.

Rezensent:

Michael Germann

Die Wissenschaft und Praxis des deutschen Staatskirchenrechts befasst sich seit einigen Jahren intensiv mit der europäischen Einigung. Deren Angelpunkt war und ist die Wirtschaft; deshalb ist das Staatskirchenrecht kein unmittelbarer Gegenstand der europäischen Integrationspolitik. Doch das Europarecht expandiert zum Zweck der wirtschaftlichen Integration in alle Politikfelder hinein und berührt so mittelbar auch mitgliedstaatliche Regelungen, welche der Entfaltung religiöser und kirchlicher Freiheit und ihrem Ausgleich mit davon betroffenen Belangen dienen. Darüber hinaus hat die Arbeit an einer "Verfassung für Europa" die europarechtliche Willensbildung vor die Frage gestellt, ob und wie das "kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas" (so jetzt die Präambel im Verfassungsentwurf von 2004), das "geistig-religiöse und sittliche Erbe" der Europäischen Union (so die Präambel der im Entwurf als Teil II der Verfassung vorgesehenen Charta der Grundrechte) und der Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften dazu ausdrücklich anzuerkennen und zu gewährleisten sind. Artikel I-52 des Verfassungsentwurfs sieht vor, dass die Union den Status nicht beeinträchtigt, den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und "mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog" pflegt.

Mitten im Prozess der Beratungen über diese europarechtlichen Weichenstellungen und ihrer wissenschaftlichen Reflexion steht das im vorliegenden Band dokumentierte Symposion, zu dem die EKD Vertreter aus Wissenschaft, Kirchen und Politik unter der Moderation des Leiters des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, Axel Frhr. von Campenhausen, zusammengerufen hatte. Die abgedruckten Vorträge behandeln das Rangverhältnis zwischen Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht (Peter Altmaier, MdB), die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts (Michael Brenner), die karitative Tätigkeit der Kirchen (Hermann Weber), das kirchliche Arbeitsrecht (Harald Schliemann, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht, jetzt Justizminister des Freistaats Thüringen) und den unverzichtbaren Kern des deutschen Staatskirchenrechts (Paul Kirchhof, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D.), jeweils in ihrer Rechtslage und ihren Perspektiven zwischen Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht.

Der Band (dem in einzelnen Passagen eine peniblere redaktionelle Durchsicht gut getan hätte) wird abgeschlossen durch eine Liste der Redner, eine Liste der (wichtigsten) Teilnehmer des Sy"mposions und ein für die Erschließung des in den Referaten und der Diskussion dargebotenen Stoffs hilfreiches Sachregister.

Im Tenor stimmen die Vorträge und Diskussionsbeiträge weitgehend überein: Ein "Frontalangriff Europas auf das deutsche Staatskirchenrecht" ist "nicht zu befürchten" (Brenner, 64). Die Aufgabe der Staatskirchenrechtspflege besteht im Hinblick auf das Europarecht vor allem darin, die Schutzanliegen des deutschen Staatskirchenrechts in der Auslegung und Anwendung der europarechtlichen Garantien der kollektiven und korporativen Religionsfreiheit bewusst zu machen und zur Geltung zu bringen. Allgemein wird damit gerechnet, dass diese Vermittlungsarbeit im Sinne einer "Durchlüftung" (von Vietinghoff, 73) auf das deutsche Staatskirchenrecht zurückwirken wird, es in seinen Grundstrukturen aber nicht in Frage stellt.

Die Vorträge und Diskussionen in diesem Band zeigen einmal mehr, dass sich die Bemühungen um die Schutzanliegen des deutschen Staatskirchenrechts im europarechtlichen Kontext mitnichten auf ein defensives Bastionendenken reduzieren lassen. Eher fällt umgekehrt die Bereitschaft auf, manche in Deutschland erarbeiteten Ausgleichslösungen als extravagantes "Filigran" und übertriebenen "Komfort" wie überflüssigen Luxus abzutun und "gewisse Abstriche gegenüber dem deutschen Recht auf europäischer Ebene [...] als unvermeidbare Verlustposten des Prozesses der europäischen Einigung hinzunehmen" (Weber, 106). Wird in einer solchen Abschiedsstimmung nicht die eigentliche Leistungs- und Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts unterschätzt?

Ein Beispiel ist der Schutz der kirchlichen Dienstgemeinschaft im Arbeitsrecht: Die Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes ist offen für die dynamische Berücksichtigung disparater religiöser Selbstverständnisse vom kirchlichen Dienst. Wenn nun vom Europarecht erwartet wird, dass "einige von der Rechtsprechung in Deutschland jetzt noch tolerierte Übersteigerungen bei den Loyalitätsanforderungen auf ein gesamteuropäisch vertretbares Niveau abgeschliffen werden" (Weber, 101), wird jene Offenheit auf ein banalisiertes Verständnis der Dienstgemeinschaft als Loyalitätsbeziehung verengt. Wo Einbußen an Freiheitlichkeit und Neutralität des säkularen Rechts als solche erkannt werden, werden die Chancen, sie im Europarecht abzuwenden, skeptisch beurteilt (Schliemann, insbesondere zur Leistungsfähigkeit eines "Tendenzschutzes", 126.142 f.; andererseits Jurina, 142).

Hieran sollte aber weiter gearbeitet werden: Dass sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten wahrscheinlich nicht vom deutschen Konzept des Selbstbestimmungsrechts beglücken lassen wollen (erst recht nicht von seiner auch in Deutschland partikularen Deutung im Sinne einer institutionellen Sicherung speziell des Christentums als Verfassungsvoraussetzung, wie Kirchhof sie entwirft), ist zwar eine realistische und durch den Respekt vor den anderen "nationalen Identitäten" (Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag, Art. I-5 Abs. 1 Verfassungsentwurf) gebotene Einschätzung. Sie wird relativiert, wenn auch nicht widerlegt durch die Beobachtung, dass konvergierende Entwicklungen im Verhältnis der europäischen Rechtsordnungen zur Religion sich den im deutschen Modell zu findenden freiheitlichen Ausgleichslösungen eher annähern, als sich von ihnen zu entfernen. Jedenfalls aber sind diese Lösungen es wert, dass ihnen in der Auslegung und Fortentwicklung des europäischen Rechts die nötigen Freiräume erarbeitet werden.

Die inzwischen fortgeschrittenen Arbeiten an einer Verfassung für Europa haben mit dem erwähnten Art. I-52 die Aussichten darauf wesentlich verbessert. Der vorliegende Band bietet einen guten Vorrat an gedanklichem Material dafür, die weitere Entwicklung und Umsetzung des europäischen Rechts im Hinblick auf seine Wirkungen für die kirchliche Freiheit aus der Sicht des deutschen Staatskirchenrechts zu begleiten und mitzugestalten.