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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

577–579

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Böckenförde, Ernst-Wolfgang

Titel/Untertitel:

Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XIV, 462 S. 8 = UTB für Wissenschaft, 2270. Kart. Euro 21,90. ISBN 3-16-147606-9 (Mohr Siebeck); 3-8252-2270-5 (UTB).

Rezensent:

Norbert Brieskorn

Schon lange sind Antike und europäisches Mittelalter nicht mehr als Zeitraum eines zusammenhängenden Rechts- und Staatsdenkens untersucht worden. Böckenförde, von 1964 an bis 1995 als Ordentlicher Professor an den Universitäten Heidelberg, Bielefeld und Freiburg tätig, Richter des Bundesverfassungsgerichts von 1983 bis 1996, Träger des Romano-Guardini-Preises der Katholischen Akademie in Bayern 2004, unternimmt einen solchen Versuch. - Methodenreflexiv geht B. in der Einleitung auf den Begriff "Staat" ein, welcher ja auf Antike wie das Mittelalter zutreffen soll. B. zögert, den in der Neuzeit geprägten Staatsbegriff auf das Polis-, Civitas- oder Imperiums-Denken anzuwenden, und sagt zu Recht, dass wir für Antike und Mittelalter nicht von einem solchen Staat sprechen können (4-6; 21, Anm. 18). Doch sprächen Forschung und vulgarisierte Darstellungen nun einmal vom "Staat der Athener" etc.

Das Denken der Antike - ein weites, nicht ausfüllbares Thema - stellt B. in Vertretern vor, die wir heute, aus der Wirkungsgeschichte, für maßgeblich halten. Auf Hesiod, die So-phisten und Sokrates folgen Platon, Aristoteles, die Stoa und Cicero. Epikureische oder spätantike Ansätze, aufbewahrt in Digesten und Institutionen des Justinian, bleiben außen vor. Das Rechtsdenken, so B., beginne nicht in den Großreichen, sondern in den kleinen Stadtstaaten (13). Haben Indien, Persien und Ägypten nicht doch vorgedacht?

B. geht Schritt für Schritt vor und zieht bewusst erst einmal manche Linien nicht aus, so wie er auch geschichtliche Befunde nicht wirkungsgeschichtlich überfrachtet. Dass mancher Rechtsinhalt eng mit dem Verfahren seiner Erzeugung zusammenhängt, zeigt B. auf (26; bei Homer: 40; im Kriton: 64), wobei die Hellenen Rotation und Losverfahren der demokratischen Wahl vorzogen (30). Denn so sehr eine ewige Ordnung dem Menschen vorgegeben ist, so muss der Mensch sie doch noch als Recht seiner politischen Gemeinschaft "einstiften" (34.36).

Sehr wertvoll ist Nr. IV des 8: "Fragestellungen der christlichen Rechts- und Staatsphilosophie" (181). Wäre der Sünde nicht ein stärkerer Part als Anlass des Staats- und Rechtdenkens zuzuerkennen gewesen? (Vgl. allerdings 175).

B. eröffnet den zweiten Teil mit Augustinus, der dem Mittelalter wie der Neuzeit die meisten Vorlagen für das Rechts- und Staatsdenken geliefert hat. Anselm von Canterbury wird übersprungen, mittlerweile einer der interessanten Rechtsdenker des Mittelalters. B. geht sodann von Thomas von Aquin und seiner Hierarchie von lex aeterna, lex naturalis und lex humana über zu Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Erfreulich der weite und gut genützte Raum, den B. der spanischen Spätscholastik einräumt. Luthers Rechtssicht beschließt den eindrucksvollen Bogen.

B. zeigt sich stark an den Krisen des Rechts sowie an seinem Um- und Neuschaffen interessiert (38 f.). Die europäischen Aufklärungen (25), Emanzipierungen (29) und Ausdifferenzierungen ziehen sodann die besondere Aufmerksamkeit B.s an. Er arbeitet behutsam und bestimmt dieses europäische Markenzeichen heraus, nämlich die im 5. Jh. v. Chr. einsetzende Trennung in Religion hier und Politik dort (für Sokrates: 63; für Platon: 86 f.; abwägend: 94; die Polis dient nicht der Verherrlichung oder der Erfüllung des Willens Gottes: 120). Das Christentum hat diesen Prozess intensiv befördert (172), und so bejahte auch Augustinus die relative Verselbstständigung der natürlichen Ordnung gegenüber der Offenbarung und Theologie (197). So wird die Politik autonom, Europa plural und konfessional, und das Rechtsdenken erarbeitet sich seine eigene Argumentation.

Zwei Anfragen stellen sich mir. Ob sich Ciceros Rechtsdenken von dem der Stoa so profiliert absetzen lässt (157; vgl. 159), wie B. mit K. M. Girardets "Ordnung der Welt" annimmt? Zu "De legibus" von Francisco Suárez: Auf S. 354 heißt es, Suárez habe die Definition des Thomas "verkürzt". Dies könnte man so verstehen, dass Suárez Überflüssiges wegließ, was Thomas in seine Definition mit hineingepackt hat, eine Annahme, welche dem Aquinaten nicht gerecht werden würde; es kann aber auch heißen, dass Suárez die Thomas-Definition um Wesentliches entschlackt hat, was wiederum Suárez' Vorgehensweise nicht entsprechen würde. Wohlgemerkt, B. behauptet weder das eine noch das andere, wohl aber lässt sich das "verkürzt" so verstehen. Aber worum geht es Suárez bei seiner Definition von Gesetz? Er legt die Definition des Thomas ("lex est quaedam rationis ordinatio ad bonum commune ab eo qui curam communitatis habet, promulgata") so aus, dass unter "Gesetz" auch der - nicht erzwingbare - Rat ("consilium") und auch der nur für kürzeste Zeit geltende Befehl subsumiert werden könnte. Suárez will aber aus seiner Definition den Rat wie den "Tagesbefehl" ausschließen.

Zweitens stellt B. die These auf, dass die lex naturalis bei Thomas als aktive participatio der natürlichen Vernunft am ewigen Gesetz, bei Suárez hingegen als "eine passive, nur rezeptive Aufnahme dessen durch die erkennende Vernunft, was in der Natur selbst bereits gegeben ist" aufzufassen sei (356). Das Naturgesetz ist m. E. für Suárez mit Thomas "Teilhabe der vernünftigen (= vernunftbegabten) Schöpfung an dem ewigen Gesetz" (De legibus I.3.9, I.5.21 und I.9.8; gleichfalls im Prooemium zum Zweiten Buch von De legibus, ebenso in II.4.4).

Drittens unterscheidet B. mit Suárez und auch für heutige Leser hilfreich und sachangemessen das Gesetz in Gesetzesinhalt und in die dem Gesetz anhaftende Verpflichtungskraft. Letztere beruht auf Gottes Willen. Was nun den Inhalt betrifft, so schreibt B.: "Das natürliche Gesetz empfängt so seinen Inhalt nicht von einer an der lex aeterna (schöpferisch) partizipierenden Vernunft, sondern von einer objektiv vorgegebenen Wesensnatur, die der Vernunft gegenübersteht und von ihr erkannt wird" (356). Dazu: Nach Suárez, der auf Thomas verweist, findet der Wille in der Menschennatur den einschlägigen Schöpfungswillen Gottes. Suárez schreibt in De legibus II.6.11, der Wille treffe bereits Material an, welches er verpflichtend macht. Dies zum "vorgegeben" oder zum "voraus". Gott hat das Material gestaltet, von welchem die menschliche Natur abzulesen vermag, welche Handlungen für diese Natur gut oder schlecht sind (deutsche Übersetzung, erschienen bei Haufe 2002, 437). Man sehe auch noch II.7.7: "Schließlich ist noch zu sagen, dass alle diese Prinzipien mit bestimmter Notwendigkeit aus der Natur und von Gott hervorgehen, insoweit er der Urheber der Natur ist, und dass sie alle zu demselben Ziel hinstreben, d. h. zur sich geschuldeten Erhaltung und natürlichen Vervollkommnung bzw. zur Glückseligkeit der menschlichen Natur. Also gehören sie alle zum Naturrecht" (Haufe 2002, 463; und auch 452).

Das höchst anspruchsvolle Werk ist drucktechnisch sehr gut lesbar und sorgfältig durchgesehen ist. Es kann zum Einlesen wie zum Vertiefen in die Rechts- und Staatsphilosophie gleicherweise dienen. Ein besonderer Dank gilt B. dort, wo er Wirkungsgeschichte aufzeigt, wie im Fall der "Societas perfecta" (120) und der Sklaverei (125 f.).